Fünfundzwanzigster Abschnitt.

[78] Neue Seereise.


Mein Neffe war zu Anfang des Jenners 1694 bereit abzusegeln, und ich gieng am 8. mit meinem Freitag an Bord der kleinen Fregatte, die in den Dünen vor Anker lag, und noch denselben Abend giengen wir unter Segel. Ich war nicht ohne Besorgnisse. Meine erste Reise nach Guinea war die einzige gewesen, von der ich so zurückgekommen war, wie ich mir's vorgesetzt[78] hatte, und ich schien bestimmt, zu Lande unzufrieden, zur See unglücklich zu seyn. Indeß lief diese Reise glücklicher als die vorherigen ab, obgleich wir anfangs durch Gegenwinde aufgehalten und nordwärts getrieben wurden, die uns zwangen, in den Hafen von Galway in Irland einzulaufen, und dreiundzwanzig Tage daselbst zu bleiben. Dieser kleine Unfall ward dadurch reichlich vergütet, daß die Lebensmittel hier in Ueberfluß und sehr wohlfeil waren, so daß, anstatt unsere Vorräthe zu vermindern, wir selbige ansehnlich vermehrten. Ich kaufte für mich, oder vielmehr für meine Insel, zwei Kühe und mehrere Kälber und Schweine.

Um die lange Zeit dieses Aufhalts auszufüllen, will ich dem Leser den Bestand meiner reichen Ladung anzeigen. Vor allem aus hatte ich mein zerlegtes Fahrzeug an Bord, ferner allerlei Tücher, Stoffe und Leinwand, um meine Insulaner wenigstens sieben Jahre lang zu kleiden; ausserdem Hüte, Handschuhe, Schuhe, Strümpfe, Bettzeug, Kessel, Töpfe und anderes Küchengeräthe, Nägel, Hacken und viel anderes Eisenzeug, auch unverarbeitetes Eisen und Kupfer; hundert Feuergewehre, als: Flinten, Pistolen, dann Säbel und Lanzeneisen, vorzüglich aber zwei metallene Kanonen, hundert Tönnchen Pulfer, und eine Menge Kugeln und Schroot von allem Kaliber. Ich hoffte dadurch im Fall der Noth, und durch Anlegung eines Forts, die Insel in den bestmöglichen Vertheidigungsstand zu setzen.

An Menschen hatte ich vorerst einige Bediente, die während meines Aufenthalts auf der Insel für mich[79] arbeiteten, und denen es freistehen sollte, mich bei meiner Abreise zu begleiten oder auf der Insel zu bleiben. Es fanden sich unter selbigen zwei Zimmerleute, ein Schlosser und ein Böttcher, der aber ausserdem eingeschickter Drechsler und Töpfer, und im Stande war, allerhand Arbeiten in Holz und Thon zu verfertigen, daher wir ihn den Tausendkünstler nannten. Ausser diesen hatte ich noch einen Schneider, den ich sehr nützlich fand, weil er ausser seinem Handwerk noch vielerlei verstand. Er hatte sich zuerst angeboten, mit meinem Neffen noch Ostindien zu schiffen, aber nachher ließ er sich bereden, in meiner Kolonie sich anzusiedeln.

Am 5. Februar giengen wir wieder unter Segel, mit einem frischen Winde, der viele Tage uns begünstigte. So gieng unsere Fahrt schnell, aber ohne irgend einen bemerkenswerthen Zufall, bis am 20. fort, als gegen Abend ein Matrose, der auf Schildwache gewesen war, mit der Nachricht in die Kajüte trat, daß er in der Ferne einen hellen Schein gesehen und einen Kanonenschuß gehört habe, und gleich darauf sagte der Bootsmann, er selbst hätte einen zweiten gehört. Nun lief Alles auf's Halbdeck, aber es verstrich eine ziemliche Weile, ehe wir etwas bemerken konnten. Endlich aber ward der Schein wieder sichtbar, und nahm zusehends an Helle und Größe zu, so daß wir vermutheten, daß ein Schiff in Brand gerathen seyn müsse, weil nach unserer Schätzung in Westnordwest, in welcher Richtung die Helle sich zeigte, auf fünfhundert Meilen kein Land seyn konnte, und die gehörten Kanonenschüsse überzeugten[80] uns, daß wir nicht sehr weit davon entfernt waren; allein die Luft war neblicht, so daß wir nichts deutlich unterscheiden konnten. Da uns der Wind just dahin trieb, und nach einer halben Stunde sich der Nebel zerstreute, so erblickten wir ein brennendes Schiff, das mitten auf der erleuchteten Meeresfläche schwebte, aus welchem die knisternden Flammen und gerötheten Rauchwolken wellend emporsprühten. Dieses schrecklich prächtige, aber höchst traurige Schauspiel rührte mich desto inniger, da es mir den verlassenen Zustand in's Gedächtniß zurückbrachte, wo ich auch mitten auf der See verlassen herumirrte, und von dem portugiesischen Kapitän so gütig aufgenommen ward. Freilich war die Lage des brennenden Schiffs, besonders wenn es allein war, noch weit bejammernswürdiger.

Wir liessen sogleich fünf Kanonenschüsse nach einander thun, und hiengen alle unsere Schiffslaternen an die Raaen, um den Verunglückten die Nähe eines Schiffs anzuzeigen, damit sie alle Mühe anwenden möchten, um sich in ihrer Schluppe nach unserer Seite hin zu retten. Wir segelten behutsam der Feuersbrunst näher. Plötzlich flog das brennende Schiff mit einem entsetzlichen Krachen in die Luft, das Feuer erlosch, und dicke Finsterniß ruhete auf den Fluthen; wahrscheinlich war der eine Theil durch das entzündete Pulfer gesprengt, und der andere versenkt worden. Wir wurden alle durch diesen grausenvollen Anblick und Knall erschreckt, obgleich wir nichts anderes erwarten konnten. Wir nahmen den mitleidigsten Antheil an diesen Unglücklichen, die entweder in den Flammen umgekommen[81] waren oder in ihren Booten in Angst und Ungewißheit herumirrten. Da letzteres wahrscheinlicher war, so liessen wir die ganze Nacht hindurch von Zeit zu Zeit eine Kanone abfeuern, um ihnen zum Signal zu dienen.

Gegen Anbruch des Tages entdeckte man durch die Ferngläser zwei mit Menschen überladene Boote, welche auf das Schiff zuruderten, aber durch Gegenwind zurückgehalten wurden, und alle ihre Kräfte anstrengten, ihn zu bemeistern. Sie machten allerlei Signale, die wir nicht nur beantworteten, sondern auch mehr Segel beisetzten, um desto schneller bei ihnen zu seyn, welches denn auch in weniger als einer Stunde geschah. Es waren wenigstens sechszig Menschen, Männer, Weiber und Kinder, theils Seeleute theils Passagiers.

Der Schiffer erzählte uns, daß das aufgeflogene Fahrzeug ein französisches Schiff von 300 Tonnen, und von Quebek in Kanada nach Frankreich bestimmt gewesen sey. Das Feuer war durch die Unvorsichtigkeit des Gehülfen am Steuerruder, an der Wohnstelle der Matrosen ausgebrochen, die zwar herbeiliefen, und dasselbe gelöscht zu haben glaubten, allein es mußten Funken an einige Stellen gefallen seyn, wo man sie weder sehen, noch ihnen beikommen konnte, von da aus verbreiteten sie sich so schnell, daß alle Mühe und Kunst vergeblich, und nur in der Flucht Rettung zu finden war. Zum Glück hatten sie eine Schluppe, ein Boot und eine Jölle, die sie mit Lebensmitteln und frischem Wasser beladeten. Aber diese Vorräthe würden kaum hingereicht haben, sie während höchstens zwölf Tagen vor dem Hungertode zu schützen,[82] in welcher Zeit sie hofften, die Bank von Neufundland zu erreichen, und sich daselbst so lange durch den Fischfang zu erhalten, bis sie das Land erreichen konnten; sie hatten aber so viele Unfälle, als Stürme, Gegenwinde und Regengüsse zu befürchten, daß ihre Rettung einem Wunder ähnlich gewesen wäre. In dieser Lage war ihr einziger Trost, daß sie dem Feuertode entgangen waren, und hofften, etwa ein Schiff zu entdecken, das sie aufnehmen würde. Während sie sich mit diesen Hoffnungen trösteten, vernahmen sie mit unbeschreiblichem Entzücken den Kanonenschuß, der von vier andern gefolgt, ein Zeichen war, daß ein Schiff in der Nähe sey, das ihnen Rettung anbiete. Sie strichen sogleich die Segel und legten die Masten nieder, weil der Wind ihnen entgegen war, und ruderten, um wenigstens nicht abzutreiben, den von Zeit zu Zeit folgenden Kanonenschüssen und den aufgehängten Laternen, die sie späterhin erblickten, zu. Sie hatten uns mit drei Flintenschüssen ebenfalls Signale gegeben, die wir aber nicht bemerkt hatten. Endlich entdeckten sie mit unbeschreiblichem Vergnügen, daß wir sie im Gesicht hatten.

Es ist ganz unmöglich, die manchfaltigen und ausserordentlichen Gebehrden und Stellungen zu schildern, durch welche diese armen Menschen das Entzücken über ihre unerwartete Rettung ausdrückten. Der Schrecken, die Furcht, die Betrübniß, sind weit leichter darzustellen, als die Aeusserungen einer plötzlichen, auf jene unmittelbar folgende Freude, die zu den seltsamsten und oft widersprechendsten Ausschweifungen hinreißt.[83]

Die Einen schienen in Thränen zu zerfließen, Andere zerrissen in einer Art von Verzweiflung ihre Kleider, noch Andere schienen wirklich rasend, liefen hin und her, stampften mit den Füßen, rangen die Hände. Einige tanzten, diese lachten, jene sangen, Andere fluchten; die Einen entsetzten sich noch über die Gefahr, während die Andern sich darüber lustig machten. Alle schienen dem Tollhause entlaufen zu seyn. Diese Aeusserungen folgten oft mit der sonderbarsten Schnelligkeit und Verschiedenheit bei denselben Menschen aufeinander, so daß der, welcher wie vom Blitze gerührt unbeweglich dastand, den Augenblick nachher die sonderbarsten Sprünge machte, sich das Haar ausraufte, und mit lauten Ausrufungen ohne Sinn umherlief. Mehrere fielen in Ohnmacht, Einige hielten sich ganz still, Andere machten das Kreuz, und nur Wenige waren im Stande zu beten, und Gott für ihre Rettung zu danken. Alles das drückte sich mit desto mehr Lebhaftigkeit und Seltsamkeit aus, da es Franzosen waren, die sich mehr als Andere zu den äussersten Ausschweifungen hinreißen lassen, und beinahe der Hälfte mußte eine Ader geöffnet werden, um die Aufwallungen ihrer Freude zu mäßigen. Es befanden sich unter ihnen zwei Geistliche. Der älteste sank wie todt nieder, als er das Schiff betrat. Der Schiffsarzt wandte alles an, um ihn wieder in's Leben zu bringen, und vermittelst des Reibens, einiger Arzneien, und der Oeffnung einer Ader, wo das Blut erst nur tropfenweise, doch bald stärker floß, brachte er's so weit, daß der Kranke die Augen öffnete, und nach einer Viertelstunde wieder sprechen konnte.[84] Als er verbunden war, wandelte er auf dem Verdeck umher, und versicherte, er befände sich ganz wohl; der Arzt reichte ihm eine Herzstärkung, aber bald darauf ward er völlig wahnsinnig, und erst den andern Morgen erwachte er gesund aus seinem Taumel.

Der jüngere Geistliche besaß weit mehr Seelenstärke, und war ein Muster eines vernünftigen und wahrhaft frommen Mannes. Sobald er an Bord kam, warf er sich auf den Boden, um Gott für seine Rettung zu danken. Als er einige Minuten in dieser Stellung verweilt hatte, kam er auf mich zu, und bezeigte mir auf die rührendste Weise und mit thränenden Augen seinen Dank für die ihm und seinen Unglücksgefährten erwiesene Hülfe. Ich erwiderte ihm, daß ich nichts als die Pflichten der Menschlichkeit erfüllt, und selbst Ursache hätte, Gott zu preisen, daß ich so glücklich gewesen, so vielen Menschen das Leben retten zu können.

Dieser würdige Geistliche suchte hierauf seine Mitgefährten zu besänftigen, und durch Bitten und Ermahnungen ihre Freude in die Schranken der Mäßigkeit zurückzubringen; es gelang ihm aber nur bei Wenigen, denn die Uebrigen waren ausser Stande, seine Lehren zu benutzen. Auch war uns ihre Ausgelassenheit den ersten Tag sehr lästig; aber nachdem wir ihnen so gut als möglich ihre Wohnstellen angewiesen, und sie durch Schlaf ihre aufgeregten Leidenschaften beruhigt hatten, so waren sie ganz anders, still und ordentlich, und bezeugten uns Alle ihre Dankbarkeit auf alle mögliche Art, mit der gefühlvollsten Herzlichkeit.

Der Schiffskapitän und der junge Geistliche besuchten[85] mich des andern Tags, und wünschten mit mir und meinem Neffen zu sprechen, um uns über das zu berathen, was weiter für sie zu thun wäre, denn unsere Vorräthe reichten nicht zu, sie nach Ostindien mitzunehmen, und Niemand von ihnen bezeigte Lust, eine so weite Reise zu machen, oder sich auf einer unbekannten Insel, die nur mir bekannt war, niederzulassen.

Sie fiengen damit an, uns ihren innigsten, wärmsten Dank recht herzlich auszudrücken, und boten uns, im Namen aller ihrer Unglücksgenossen, mehrere Kostbarkeiten an, die sie so glücklich gewesen waren, in der Eile aus den Flammen in ihre Schluppen zu retten.

Mein Neffe schien geneigt, ihr Geschenk anzunehmen, und dann so viel für sie zu thun, als ihn gut däuchte. Allein ich stellte ihm die Sache in ihrer wahren Gestalt und mit meinem eigenen Beispiel bekräftigt vor, als der menschenfreundliche Portugiese mich rettete; was wäre aus mir geworden, wenn er sich dafür mit all meiner Habe bezahlt gemacht, und mich ohne Geld gelassen hätte? Es gelang mir, ihn anders zu stimmen, und ich erwiederte daher den Beiden: »Wir sind überzeugt, daß wir von Ihnen denselben Beistand würden erhalten haben, ohne ihn so theuer bezahlen zu lassen. Wir nahmen Sie auf, um Sie zu retten, und nicht um Sie alles dessen zu berauben, was Sie aus dem brennenden Schiffe retteten; das hieße Sie den Flammen oder der Wassersnoth entziehen, um Sie dem Hungertode preis zu geben. Wir werden daher nicht das Geringste annehmen. Wir haben nur gethan, was die Menschlichkeit uns zur[86] Pflicht machte, und wir in ähnlichem Falle wünschten behandelt zu werden. Weit bedenklicher und schwieriger ist der Umstand, Sie nach Ihrem Verlangen irgendwo an Land zu setzen, von wo aus Sie nach Frankreich zurückkehren könnten. Unser Schiff ist nach Ostindien bestimmt, und darf nicht so weit von seinem Laufe sich entfernen. Alles was wir thun können, ist, ihn dahin zu richten, wo zu vermuthen ist, daß wir Schiffe antreffen, die aus Westindien nach Europa zurücksegeln, oder sie in Brasilien, wo wir anlegen werden, auszusetzen.«

Der erste Theil meiner Antwort befriedigte sie eben so sehr, als der zweite sie mit Besorgnissen erfüllte, und sie beschworen uns, da wir schon so weit nordwestlich von unserm Kurs uns befanden, die Fahrt noch bis Neufundland fortzusetzen, wo sie ein Fahrzeug miethen, und nach Kanada zurückkehren wollten.

Nachdem ich mich mit meinem Neffen berathen hatte, so willigten wir desto eher in ihr Verlangen, da wir, ohne Mangel zu befürchten, so viele Menschen nicht mit nach Ostindien oder auch nur nach Brasilien mitnehmen konnten. Wir setzten also unsern Lauf nach ihrem Wunsche fort, und ich versprach ihnen, daß wenn der Wind unsere Absicht vereiteln sollte, ich sie auf Martinique aussetzen würde.

Wir hatten zwar in weniger als acht Tagen zwei heftige Windstöße auszustehen, nachher aber war und blieb das Wetter sehr schön und der Wind östlich. Wir trafen mehrere westindische nach Europa segelnde Schiffe an, aber keines wollte von unsern Passagieren aufnehmen,[87] und so mußten wir wohl bis Neufundland steuern, wo wir endlich unsere Franzosen an's Land setzten. Nur der junge Geistliche und vier brave Matrosen blieben bei uns zurück. Für jenen hatte ich eine wahre Vorliebe und Hochachtung, und diese leisteten uns auf der ganzen Reise sehr gute Dienste.

Nun wendeten wir unsern Lauf südwärts, und hatten einige 20 Tage nur schwachen Wind, als wir am 19. März 1694, ungefähr um 27 Grad, 5 Minuten Nordbreite, ein großes Schiff entdeckten, das gegen uns hintrieb, und durch einen Kanonenschuß ein Nothzeichen gab. Wir bemerkten, daß es die Vorbramstänge, die große Stänge, den Besansmast und den Bugspriet verloren hatte, und fanden, als wir nahe genug herankamen, um es anzusprechen, daß die Mannschaft desselben sich in eben so beklagenswerthen Umständen befand, und eben so sehr unserer Hülfe bedurfte, als die ausgesetzten Franzosen.

Das Schiff kam von Barbados, und war nach Bristol bestimmt, ward aber einige Tage vor dem Absegeln durch einen Sturm von seinen Ankern losgerissen und in die See hinausgetrieben. Was ihr Unglück vergrößerte, war, daß die Vorräthe kaum zur Hälfte an Bord, der Kapitän und Steuermann eben am Lande, und also keine erfahrne Seeleute zu Schiffe waren. Einige Tage nach dem ersten überfiel sie ein zweiter Sturm, der das Fahrzeug entmastete und ab trieb, und in den erbarmenswürdigen Zustand versetzte, worin es sich jetzt befand. Ihre Beseglung war so dürftig, daß sie keine bestimmte Richtung halten konnten, und da[88] Niemand Ansehen genug besaß, um die wenigen Lebensmittel haushälterisch abzutheilen, so starben sie beinahe vor Hunger; seit acht Tagen hatten sie kein Brod, kein Fleisch mehr, und von allen Vorräthen blieb ihnen nichts als eine halbe Tonne Mehl, etwas Zucker und Rum, und zum Glück einige Fässer mit Wasser. Der Bootsmann, der zu mir an Bord kam, und den schrecklichen Zustand des Schiffs beschrieb, erzählte mir, es befänden sich unter den Passagiers ein junger Mann mit seiner Mutter und ihrer Magd, welche sich am Abend vor dem Sturm an Bord des Schiffs begeben hatten, das sie segelfertig glaubten. So lange ihre mitgebrachten Erfrischungen vorhielten, vermochten sie ihr Leben zu fristen, aber nachdem sie aufgezehrt waren, so litten sie wahre Hungersnoth, denn der allgemeine Mangel erstickte alles Mitleid der rohen Seeleute. Er glaubte, sie wären bereits Hungers gestorben, denn, da er ihnen nicht helfen konnte, so hatte er vermieden, sich nach ihnen zu erkundigen. Er selbst, der die Leitung des Fahrzeugs übernommen, sich aber mit dem gleichen Antheil, wie die Uebrigen, begnügt hatte, sah, so wie seine sechs Ruderer, die kaum die Riemen zu bewegen vermochten, Todtengerippen ähnlich.

Ich ließ ihnen sogleich Speise reichen, aber diese Hülfe hätte ihnen beinahe tödtlich werden können, denn sie fielen so hastig darüber her, daß alles von den Folgen ihres Heißhungers zu fürchten war, und kaum hatten sie einige Bissen genossen, als sie sich übel befanden. Der Bootsmann befolgte unsern Rath, langsam[89] zu essen, aber die Uebrigen hörten in ihrer Wuth nichts, und verschlangen die Speisen dergestalt, daß den folgenden Tag Zwei dem Tode nahe waren. Dieser Anblick war desto angreifender für mich, da er mich an meine eigene Lage nach dem Schiffbruch erinnerte, als ich den öden Strand meiner Insel betrat, und nicht das Geringste zu meiner Nahrung erblickte, und sogar befürchtete, den wilden Thieren zur Speise zu dienen. Die Theilnahme ist nie stärker, als wenn man sich in ähnlicher Lage befunden hat.

Die Nachricht von dem jungen Mann, seiner Mutter und ihrer Magd, die wahrscheinlich den schrecklichsten, den Hungertod, gelitten hatten, rührte mich so heftig, daß ich mich nicht begnügte, dem Hochbootsmann, der mit Nahrungsmitteln auf das Fahrzeug geschickt wurde, diese beklagenswerthen Passagiere auf's dringendste zu empfehlen, wenn noch etwas für ihre Rettung möglich wäre, sondern nachdem der Schiffskapitän, so nannten wir jetzt den Bootsmann des andern Schiffs, sich erholt hatte, ließ ich mich mit ihm auf selbiges übersetzen, wo ich alles in einer Art Tumult antraf.

Unser Hochbootsmann war mit einem Boot nebst einem Vorrath von Brod und Fleisch auf das Schiff gekommen, und hatte sogleich Anstalt getroffen, Letzteres im Schiffskessel abkochen zu lassen. Aber die ausgehungerten Menschen wurden bei'm Anblick der Speisen beinahe rasend, und wollten die Küche bestürmen, um selbige mit Gewalt wegzunehmen. Allein der Hochbootsmann that seine Pflicht mit eben so viel Festigkeit als[90] Klugheit; er stellte zehn von seinen zwölf Matrosen als Wache vor die Küche, und widersetzte sich ihrem Andrang und Geschrei mit Gewalt und zu ihrem eigenen Besten. Er suchte ihnen begreiflich zu machen, daß sie sonst, statt ihr Leben zu erhalten, den Tod an den Lebensmitteln essen würden, aber das war tauben Ohren gepredigt, und nur die Aufmerksamkeit der Wache vermochte sie abzuhalten. Um sie nach und nach zu besänftigen, ließ er Zwieback in die Suppe tauchen, und theilte solchen in kleinen Stücken unter sie aus, indem er ihnen vorstellte, daß er bloß zu ihrer Erhaltung nur so wenig auf einmal reichen lasse. Aber diese vernünftigen Vorstellungen würden desto weniger gefruchtet haben, da der Genuß des Wenigen sie nur desto begieriger nach Mehrerm machte, und wer weiß, was erfolgt seyn würde, wenn ich nicht eben mit ihrem Bootsmann angelangt wäre, und meinen Ermahnungen die Drohung beigefügt hätte, ihnen gar nichts mehr zu geben. Die Furcht, alles zu verlieren, hielt sie von weiterm Unfug ab, und ich ließ ihnen allmählig mehr Speise reichen, bis sie endlich soweit hergestellt waren, daß man ihre Eßlust ohne Besorgniß befriedigen konnte, und alles besser ablief, als ich's erwartete.

Weit trauriger war der Zustand der Passagiere. Da das Schiffsvolk schon anfangs wenig Lebensmittel hatte, so theilte man ihnen nur sehr kleine Portionen zu, und späterhin vernachlässigten sie selbige ganz, so daß sie seit sechs oder sieben Tagen keine Speisen erhalten hatten. Die Mutter war, nach allgemeinem Zeugniß, eine wohlerzogene, verständige Frau, die, aus wahrer[91] mütterlicher Zärtlichkeit für ihren Sohn, jeden Bissen für ihn aufhob, aber dadurch endlich alle Kräfte verlor. Als unser Hochbootsmann in ihre Wohnung trat, fand er sie zwischen zwei Stühlen am Boden sitzend, gegen das Schiffsbord angelehnt, den Kopf auf die Brust gesenkt, und obwohl noch lebend, doch mehr einem Leichnam ähnlich. Er that alles, um sie in's Leben zurückzubringen und zu stärken; sie öffnete die Lippen, und gab sich viele aber vergebliche Mühe zu sprechen, und schien zu verstehen, was er zu ihr sagte; endlich wies sie mit dem Finger auf ihren Sohn, als ob sie ihn bäte, für diesen zu sorgen; für sie käme die Hülfe zu spät. Der gerührte Bootsmann suchte jedoch ihr etwas stärkende Fleischbrühe beizubringen; allein obgleich ihm das mit einigen Löffeln voll gelang, so war dennoch die Mühe verloren, denn sie starb in der folgenden Nacht. Ihr Sohn, dessen Leben sie mit dem ihrigen gerettet hatte, befand sich in einem nicht viel bessern Zustande, beinahe erstarrt in einem Bettchen, schien halb todt, und hatte den Rest eines ledernen Handschuhs im Munde, von dem er das Uebrige verzehrt hatte. Der Bootsmann brachte ihm ebenfalls einige Löffel voll Fleischsuppe bei; aber obgleich sein Magen sie nicht vertragen konnte, so erholte er sich nach einigen Uebelkeiten, da er jung und stärker als seine Mutter war.

Die Magd lag neben dieser am Boden, und kämpfte mit dem Tode. Ihre rechte Hand hielt krampfhaft das Bein eines Stuhls, die andere lag über dem Kopfe, und die Füße stemmten sich gegen den Tisch, und man[92] hatte die größte Mühe, sie aus dieser Lage zu bringen; es gelang dem Wundarzt, sie herzustellen, sie schien aber mehrere Tage lang den Verstand verloren zu haben, denn nicht der Hunger allein und die Todesangst, sondern auch die Leiden ihrer Herrschaft, für welche sie, nach dem Zeugnisse des Schiffsvolks, die größte Ergebenheit hatte, quälten sie eben so sehr.

Wer diese traurige Geschichte liest, muß bedenken, daß man, auch bei der größten Menschlichkeit, auf dem Meere dennoch zuweilen gezwungen ist, selbige einzuschränken, und daß man nicht so viel thun kann, als auf dem Lande, wo der längere Aufenthalt auch mehr gestattet. Wir konnten nicht lange bei dem Fahrzeuge verweilen, oder in seiner Gesellschaft weiter segeln, da es mastlos, folglich ein schlechter Segler war. Alles was wir thun konnten, war, ihm neue Bramstängen an den großen und an den Besansmast zu geben, und sie aufzutakeln. Dann tauschten wir fünf bis sechs Tonnen Rindfleisch, eine mit Speck, und einen bedeutenden Vorrath von Zwieback, Mehl und Erbsen gegen drei Kisten mit Zucker und einige Tonnen Rum ein, und verliessen selbiges, nachdem wir den Jüngling und die Magd auf ihr inständiges Bitten an Bord genommen hatten.

Der Jüngling war ein artiger, wohlgezogener Mensch von siebzehn Jahren. Er hatte sich an den Wundarzt unsers Schiffs gewandt, um von mir, den er für den Schiffskapitän hielt, die Erlaubniß zu erhalten, mit seiner Magd auf unser Schiff genommen zu werden. Der Wundarzt stellte ihm anfangs die weite[93] Reise und die der vorigen ähnlichen Gefahren vor; aber er bestand auf seiner Bitte, indem es ihm gleichviel gelte, wohin er gehe, wenn er nur von den Mördern seiner Mutter wegkomme, deren Tod ihn desto mehr betrübte, da er kurz vorher auch seinen Vater auf den barbadischen Inseln verloren hatte. Freilich scheint es, daß man etwas mehr für die Rettung dieser Unglücklichen hätte thun können; aber Noth hat kein Gebot, und der Hunger kennt keine Menschlichkeit, keine Freundschaft, keine Verwandtschaft, ist ohne Mitleid, ohne Gefühl, ohne Reue.

Auf die Vorstellungen des Wundarztes willigte ich ein, und nahm sie mit allem, was ihnen angehörte, an Bord, ausser eilf Kisten mit Zucker, zu denen man nicht gelangen konnte. Da aber der Jüngling eine Verschreibung für selbige hatte, so mußte mir der Schiffskapitän eine Verpflichtung unterschreiben, sobald er in Bristol angelangt seyn werde, sich zu dem Kaufman Roger, einem Verwandten des jungen Menschen, zu begeben, und ihm, nebst einem Brief von mir, alles Eigenthum der verstorbenen Wittwe, das er noch an Bord hatte, zu überliefern. Allein alle diese Vorsichtsanstalten scheinen überflüssig gewesen zu seyn, denn man hat nie etwas von diesem Fahrzeug erfahren, das wahrscheinlich zu Grund gegangen ist.

Hierauf setzten wir unsern Lauf bei schönem Wetter fort, und kamen ohne weitere bedeutende Ereignisse in die Gegend, wo meine Insel liegen sollte; wir hatten aber viele Mühe sie zu finden, kreuzten oft vor ihr vorbei, ohne sie zu erkennen, weil ich sie nun von einer[94] Seite sah, wo ich sie zuvor von der See her nie zu Gesicht bekommen hatte, denn wir segelten auf der Nordwestseite, ich hingegen war auf der Ost-und Südostseite sowohl gelandet als abgesegelt. Wir betraten mehrere Inseln in der Mündung des Orinoko, ohne die rechte zu treffen, und ich fand, daß ich mich ehmals getäuscht hatte, als ich die ausgedehnten Küsten für das feste Land hielt, denn es ergab sich, daß es nur eine Insel von bedeutender Länge oder vielmehr eine Inselgruppe war, die sich so sehr ausdehnte, und die Wilden, die von Zeit zu Zeit meine Insel besuchten, waren nicht eigentliche Karaiben, sondern Bewohner dieser Inseln, die theils bewohnt, theils auch unbewohnt waren. Auf der einen trafen wir Spanier an, die ich für meine Zurückgelassenen hielt; aber sie waren es nicht, sondern von der Insel Trinidad gekommen, um Salz und Perlmuscheln zu holen; ihr Fahrzeug lag unfern in einer Bucht am Strande. Endlich am Morgen des 10. Aprils 1694, nachdem wir sowohl mit unserer eigenen als mit derjenigen Schluppe, die wir von dem französischen verbrannten Schiffe erhalten hatten, und sehr gut war, eine Menge Inseln besucht hatten, erblickte ich meine Insel von der Südostseite, und erkannte sie sogleich, obwohl in beträchtlicher Entfernung.

Wir steuerten nun auf selbige zu. Ich rief nun sogleich Freitag, und wies ihm die Insel; er sah eine Weile starr hin, klatschte dann mit den Händen, sang, machte vor Freude allerlei Sprünge, und zeigte dann mit dem Finger, indem er ausrief: »Dort,[95] dort, die Burg, dort die Warte!« – Nun, Freitag, werden wir Jemand finden? wird dein Vater da seyn? Bei der Nennung seines Vaters ward er plötzlich still, und dem gefühlvollen Jungen glänzten Thränen in den Augen; »ach, rief er, nie, nie werd' ich ihn wieder sehen; ach, er war schon alt, ist jetzt längst gestorben.« Ungeachtet ihm die Thränen häufig über die Wangen herabrollten, entdeckte er mit seinem scharfen Gesicht dennoch Menschen, obwohl wir noch über eine halbe Stunde entfernt waren. »Dort, rief er, auf dem Hügel hinter der Burg, sehe ich viele Menschen.« Ich schaute hin, konnte aber selbst mit dem Fernrohr nichts erblicken, weil ich es, wahrscheinlich wegen der Heftigkeit meiner Empfindungen, nicht gut gerichtet hatte. Ich hatte Mühe, Freitag zurückzuhalten, daß er nicht in's Wasser sprang, um an's Land zu schwimmen.

Sobald er mir gesagt hatte, daß er Menschen sähe, ließ ich gleich die brittische Flagge aufhissen, und zwei Kanonen abfeuern, um ihnen zu zeigen, daß wir Freunde seyen, und wir sahen bald darauf bei der kleinen Bucht einen dicken Rauch empor wallen. Ich befahl sogleich, das Schiff in dieser Bucht vor Anker zu legen und eine Schluppe auszusetzen, die ich mit der weißen Friedensflagge schmücken, zugleich aber mit sechszehn wohlbewaffneten Leuten besetzen ließ, auf den Fall, daß ich nicht meine zurückgelassenen Freunde antreffen würde. Dann fuhr ich mit Freitag und mit dem jungen französischen Geistlichen, der durch meine Erzählung von meinem Aufenthalt und den Begebnissen auf der[96] Insel gereizt wurde, mich dahin zu begleiten, an's Land, wo die steigende Fluth uns bis in den kleinen Meerbusen, nahe bei der Burg, meiner ehemaligen Wohnung, trieb.

Quelle:
[Defoe, Daniel]: Der vollständige Robinson Crusoe. Constanz 1829, Band 2, S. 78-97.
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