|
[97] Ankunft auf der Insel.
Als wir an den Strand legten, kam uns eine Menge von den Inselbewohnern, alle bewaffet, und mit einer Friedensfahne, entgegen. Ich befahl, daß Jedermann im Boot bleiben soll, weil ich allein aussteigen, und mich ihnen zu erkennen geben wollte. Aber Freitag war nicht zurückzuhalten, denn er hatte schon in weiter Entfernung seinen Vater erblickt und erkannt, der den Uebrigen langsam und von weitem nachfolgte. Er flog wie ein Pfeil auf ihn zu, drängte sich mit Ungestüm durch Alle hindurch, fiel ihm mit ausgebreiteten Armen um den Hals, drückte ihn mit aller Heftigkeit der kindlichen Liebe an seine Brust, küßte ihn, setzte ihn auf den Stamm eines Baumes, kniete vor ihm, und sah ihm, ohne ein Wort zu sprechen, steif in's Gesicht, indeß ihm Thräne auf Thräne über die glühenden Wangen herabflossen; bald ergriff er plötzlich seine Hände und küßte sie; bald stand er auf, setzte sich bald wieder zu ihm, blickte ihn von[97] Neuem an, als wenn er sich an ihm nicht satt sehen könnte. Auch dem rohesten Menschen würde sein zärtliches Benehmen Zähren entlockt haben.
Seit diesem Augenblick ließ er ihn nicht mehr von der Seite, gieng mit ihm am Ufer spazieren, führte ihn wie eine Geliebte am Arm, lief alle Augenblicke in's Boot, bald um ein Stück Zucker, bald ein Glas Branntewein, bald Zwieback für ihn zu holen, und schien oft ganz verlegen, womit und wie er ihm seine Liebe bezeugen sollte. Nachmittags ward seine Freude noch ausschweifender, und hatte ganz den Ausdruck eines wilden Natursohns; er setzte den Alten auf die Erde, tanzte mit tausend lächerlichen Stellungen und Gebehrden um ihn her, erzählte ihm bald singend, bald lachend, bald sprechend, von seinen Reisen und Begebenheiten seit ihrer Trennung. Mit einem Worte: wenn sich die kindliche Liebe mit der Stärke und Zärtlichkeit eben so oft und allgemein bei den Christen fände, so würde nichts überflüssiger als das fünfte Gebot seyn.
Mit eben so viel Vergnügen, das sich aber auf andere Art ausdrückte, ward ich von den Insulanern bewillkommt; ich würde nicht aufhören, wenn ich alle Freundschaftsbezeugungen der guten Leute erwähnen wollte. Der Erste, der sie anführte und die Fahne trug, war Don Gusman, den ich aus den Händen der Wilden gerettet hatte; ich erkannte ihn beim ersten Anblick, er aber hatte Mühe, sich zu überreden, daß ich es wirklich sey. Wie, Senor, rief ich ihm auf portugiesisch zu, kennen Sie mich nicht mehr? Vor Erstaunen sprachlos, als er mich endlich erkannte, gab er Fahne und Flinte[98] seinem nächsten Begleiter, und umarmte mich mit Entzücken und Herzlichkeit, und einer Menge der schmeichelndsten Komplimente, die ihm die spanische Höflichkeit eingab, indem er um Verzeihung bat, das Antlitz seines Retters nicht sogleich erkannt zu haben, das ihm ehmals wie das eines Engels erschien.
Hierauf wandte er sich gegen seinen Begleiter, um die Uebrigen herbeizurufen, der auch bald mit eilf Andern sich mir näherte; aber an ihren Kleidern würde man weder ihn noch sie für spanische Edelleute angesehen haben. Er wandte sich sogleich gegen mich und sagte: »Hier, mein Herr, sind meine Gefährten, die, wie ich, Ihnen ihr Leben zu danken haben.« Dann sagte er auch ihnen, wer ich sey, und welchen Dank sie mir schuldig wären, worauf einer nach dem andern sich mir näherte, und mich nicht wie gewöhnliche Seeleute, sondern mit den höflichsten und ausgesuchtesten Ausdrücken und mit hohem Anstande bewillkommten. Ich gestehe gern, daß ihre Höflichkeit und Lebensart der meinigen überlegen war, und mich in Verlegenheit setzte, weil ich ihre Komplimente nicht erwiedern konnte.
Hierauf bot mir Don Gusman an, mich in die Burg zu führen, und wieder in den Besitz derselben zu setzen, bedauerte aber zugleich, daß er mir nicht so viele Verbesserungen und Verschönerungen zeigen könne, als ich zu erwarten berechtigt wäre. Ich willigte gern in sein Begehren, aber ehe wir uns von dem Boot entfernten, mußte dieses zu dem Schiffe zurückfahren, um Speisen, die ich bereits zu einer Mahlzeit bestimmt hatte, herbeizuholen. Dann traten wir in Begleitung[99] seiner Landsleute unsern Weg an, aber ohne meinen Führer würde ich meine ehmalige Wohnung eben so wenig haben finden können, als ob ich nie da gewesen wäre. Sie hatten eine solche Menge Bäume, und so dicht in einander gepflanzt, und sie waren während so langer Zeit so hoch aufgewachsen, daß die Burg für jeden Andern, als ihre Bewohner, ganz unzugänglich war, indem man nur durch verwickelte, labyrintische Fußsteige dahin gelangen konnte.
Ich befragte ihn um die Ursache dieser so sehr angehäuften Befestigungen; worauf er antwortete: »Ich würde die Nothwendigkeit derselben leicht einsehen, wenn er mir ihre umständliche Geschichte seit ihrer Ankunft würde erzählt haben. Obgleich Ihre Abreise mich in das größte Schrecken setzte, so war ich doch zugleich entzückt, daß Sie das Glück hatten, ein Fahrzeug zu Ihrer Befreiung und Rückkehr zu finden. Aber gewiß habe ich in meinem ganzen Leben kein größeres Entsetzen gefühlt als das bei der Nachricht von Ihrer Entfernung. Doch hoffte ich immer, Sie würden einst wieder hierher zurückkommen, und eine süße Ahnung machte es mir fast zur Gewißheit.«
Er fügte hinzu, daß er mir eine lange Geschichte zu erzählen habe, denn sie wären mit den drei englischen Bösewichten, die ich zurückgelassen hätte, in einer weit schlechtern Lage gewesen, als mit den Wilden, wo sie ein so trauriges Leben in lauter Gefahr und Entbehrungen lebten, und – setzte er hinzu, indem er ein Kreuz machte – »wären sie zahlreicher, oder wir weniger gewesen, so wären wir längst im Fegfeuer.[100] Ich hoffe, mein Herr, daß Sie es nicht übel nehmen werden, wenn ich Ihnen sage, daß die äußerste Nothwendigkeit und die Sorge für unsere Erhaltung uns zwang, sie nicht nur zu entwaffnen, sondern auch uns zu unterwerfen, denn sie wollten nicht nur unsere Herren, sondern selbst unsere Mörder seyn.«
Ich erwiederte ihm, daß ich schon bei meiner Abreise alles von der Bosheit dieser Elenden befürchtet, und gewünscht hätte, Ihre Ankunft zu erwarten, um Sie förmlich in den Besitz der Insel zu setzen, indem ich Ihnen die drei Engländer nach Verdienen unterordnete; und daß ich, weit entfernt, etwas dawider einzuwenden, höchst zufrieden wäre, daß Sie an meiner Stelle daran gedacht, und es auch ausgeführt hätten.
Die Geschichte, die mir Don Gusman von ihrer Ankunft und seitherigem Aufenthalt erzählte, ist so merkwürdig, und in so naher Beziehung mit dem, was ich schon früher von meiner Insel angeführt habe, daß ich überzeugt bin, die umständliche Mittheilung derselben werde das höchste Interesse für meine Leser haben. Sie werden sich noch erinnern, daß ich ihn mit Freitags Vater absandte, um die übrigen Spanier abzuholen, und in dem großen Kanot auf meine Insel zu bringen, wo wir uns dann berathen und unsere Kräfte vereinigen wollten, um wieder nach Europa oder wenigstens zu Christen zu kommen. Zu dieser Zeit hatte ich noch nicht die geringste Aussicht zu meiner Befreiung, und konnte eben so wenig als zwanzig Jahre früher die Ankunft eines englischen Schiffes vermuthen,[101] das mich aus meiner Einsamkeit wieder zu Menschen bringen würde. Als daher der Spanier mit seinen Landsleuten und Freitags Vater bei ihrer Zurückkunft mich nicht mehr, sondern drei Fremdlinge an meiner Stelle fanden, so war ihre Bestürzung desto größer, da sie diese im völligen Besitz meines Eigenthums sahen, das sie mit mir zu theilen hofften.
Während diesen Gesprächen waren wir durch mancherlei Umwege in meiner ehemaligen Burg angelangt, und ich ward bei Erblickung so vieler Gegenstände, die mich an vielerlei Kummer, Beschwerlichkeit, Angst und Noth, aber auch an mehrere Annehmlichkeiten erinnerten, in eine Rührung versetzt, die mir Thränen auspreßte. Wie ein Mensch, der nach langer Abwesenheit zu dem Aufenthalt seiner Jugendjahre zurückkömmt, wo jeder Baum, jeder Winkel an eine kindliche Ergötzlichkeit oder Schmerz erinnert, betrat ich den Vorhof und die Höhle, die ich mein Schloß nannte. Mit süßer Erinnerung überlief ich die ganze Geschichte meines mühevollen Lebens, und konnte mich nicht enthalten, den Umstehenden bei jedem Kunstwerke zu erzählen, wie mich der Zufall darauf geführt, wie lange ich daran gearbeitet, und dann über meine gelungene Arbeit frohlockt hatte; ich konnte beinahe meines Erzählens kein Ende finden.
Während dem war das Boot mit den Speisen, die ich an Bord zu einer Mahlzeit hatte zurichten lassen, angelangt, und wir waren Alle höchst vergnügt; so fröhliche Gesichter und Herzen waren noch nie in dieser Einöde gewesen. Aber ich brannte vor Ungeduld, die[102] Geschichte der Kolonie während meiner Abwesenheit zu erfahren, daß ich gleich nach aufgehobener Tafel mich mit Don Gusman auf die Seite begab, um mit ihm allein zu seyn. Ich fragte ihn nun um die Ursache, die ihn damals so lange auf dem festen Lande aufgehalten hatte, und er fieng nun seine Erzählung folgendergestalt an.
Ausgewählte Ausgaben von
Robinson Crusoe
|
Buchempfehlung
Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«
242 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro