Zwölfter Abschnitt.

[197] Entdeckungsreise zu Wasser.


Endlich konnte ich doch der Begierde, rings um die Insel zu fahren, und den ganzen Umfang meines kleinen Königreichs zu besehen, nicht länger widerstehen, denn da ich schon eine Landreise bis an die andere Seite der Insel gemacht hatte, so erregten die damaligen Entdeckungen in mir den Wunsch, auch die andern Theile der Küste zu sehen, und dazu war mein Boot vortrefflich. Ich beschloß also, diese Entdeckungsreise nicht länger aufzuschieben.

Zu diesem Ende versah ich mein Fahrzeug hinlänglich mit Mund- und Schießvorräthen, mit zwei großen Ueberröcken, welche sonst den Matrosen auf der Wache gedient hatten, sowohl um darauf zu liegen als mich in kühlen Nächten damit zu bedecken; auf dem Hintertheil steckte ich meinen ausgebreiteten Sonnenschirm,[197] um bei Tage die ausserordentliche Hitze abzuhalten, und so begab ich mich am 6. November im siebenten Jahre meines Königreichs oder meiner Gefangenschaft an Bord, und segelte ab; allein diese Reise nahm eine ganz andere Wendung, als ich vermuthet hatte.

Als ich die Bay hinaus gesegelt war, bemerkte ich an der südlichen Seite ein Felsenriff, das sich zwei Meilen weit in die See erstreckte, von dem einige Klippen über, andere unter der Wasserfläche waren. Am Ende des Riffs lief eine trockene Sandbank in gleicher Richtung noch eine gute Meile weiter in's Meer hin, so daß ich einen großen Umweg machen mußte, wenn ich die Spitze umsegeln wollte. Diese unwillkommene Entdeckung nöthigte mich, wieder dem Lande zuzusteuern, und dort zu ankern. Hierauf nahm ich meine Flinte, stieg ans Land, und dann auf einen Hügel, von dem ich das ganze Felsenriff übersehen konnte. Hier bemerkte ich nun einen heftigen Strom, der von der Nordküste der Insel kam, und nach Südost, sehr nahe an der äussersten Spitze der Sandbank hinlief. Die genaue Beobachtung dieser Strömung war für mich von der höchsten Wichtigkeit, denn wenn sie mein Fahrzeug nur berührte, so mußte es von ihrer Gewalt ergriffen, und in die weite See hinausgetrieben werden, so daß ich die Insel aus den Augen verlieren und kaum mehr wieder erreichen würde. Von der Südseite kam ein ähnlicher Strom, dessen Richtung Ost-Nordost war, der sich aber viel weiter von der Sandbank entfernte, sich aber nothwendig in der Entfernung[198] von einigen Meilen mit dem nördlichen Strom vereinigen mußte. Das Wasser beider Ströme war sehr trübe, das übrige aber helle und zwischen denselben ohne sonderliche Bewegung. Diesen Beobachtungen zufolge mußte ich so nahe an der Sandbank hinsteuern, als es ohne Gefahr zu stranden möglich war, um nicht in den nördlichen Strom zu fallen, und durch ihn fortgerissen zu werden; dann mußte ich nahe an der Sandbank die Spitze umsegeln, um auch an der Südseite zwischen der Strömung und der Küste zu bleiben. Allein der Südostwind war dem nördlichen Strom gerade entgegen, wehete frisch und verursachte daher eine heftige Brandung an dem Riff und an der Sandbank. Aus dieser Ursache war es unmöglich, die Reise fortzusetzen, denn wegen der Brandung war es sehr gefährlich, mich nahe an das Ufer zu halten, und wegen der Strömung durfte ich mich nicht weit davon entfernen. Ich blieb zwei Tage in einer kleinen Einbucht an der Küste liegen, aber den dritten Tag, da der Wind sich in der Nacht gelegt hatte und die See ganz ruhig schien, gieng ich gleich nach Aufgang der Sonne unter Segel. Allein mein Beispiel möge unbehutsamen Seefahrern zur Warnung dienen! Kaum war ich an die Spitze jener Sandbank gekommen, und nur die Länge meines Boots von ihr entfernt, als der Strom dasselbe ergriff, und mit solcher Heftigkeit fortriß, daß alle meine Bemühungen vergeblich waren. Die Tiefe war weit größer als die Länge meines Kabels; kein Wind regte sich, um mir durch Segeln aus der Strömung zu helfen, und diese war so stark,[199] daß mein Ruder nichts dagegen vermochte. Jetzt schien ich verloren, denn nach dem Zusammenfluß beider Ströme mußten sie mich mit vereinter Kraft so weit in die See hinaustreiben, daß mein Untergang unvermeidlich schien; zwar nicht der See wegen, denn die war – ausser den Strömen – ruhig, aber wegen Mangel an Lebensmitteln, welche in zwei Dutzend Broden, einem Topf voll geröstetem Reis, das beinahe meine tägliche Kost war, einer halben gebratenen Ziege, einer Schildkröte, die ich Abends zuvor gefangen, und einem großen Kruge voll frischen Wassers bestanden; aber wie gering war das gegen den unermeßlichen Ozean, wenn ich auf mehrere tausend Meilen hinausgetrieben wurde, wo ich kein Land zu finden hoffen konnte. Nun sah ich, wie leicht es ist, aus einem elenden Zustande in einen noch elendern zu gerathen. Nun blickte ich nach meiner öden verlassenen Insel, als dem angenehmsten Aufenthalt zurück, und mein wünschenswerthestes Glück, meine größte Sehnsucht war, wieder daselbst zu seyn; ich fühlte es sehr tief, daß wir den Werth einer Sache nie gehörig zu schätzen wissen, bis wir ihrer beraubt sind; ich streckte meine Hände nach ihr und rief: o du glückselige Einöde! wie undankbar war ich, daß ich dich verließ! o! gelangte ich wieder zu dir, nie, nie wollte ich dich wieder verlassen! Soll ich dich nie wieder sehen? Wirklich war ich über 15 Meilen von ihr entfernt, und konnte sie kaum noch erkennen; hätte ich sie ganz aus dem Gesichte verloren, oder wäre eine Wolke oder düsteres Wetter dazwischen gekommen, so würde ich nie gewußt haben, in welcher[200] Richtung ich wieder auf sie zusteuern sollte, denn ich war so unvorsichtig gewesen, keinen von meinen Kompassen mitzunehmen, weil ich nur längs der Küste hinzusteuern dachte. Meine Kräfte waren von rudern und Angst erschöpft. Endlich gegen Mittag spürte ich ein kleines Lüftchen in meinem Gesicht, das mir wieder Muth einflößte; eine Viertelstunde darauf erhob sich ein sanfter Südostwind, ich richtete sogleich meinen Mast auf, setzte mein Segel bei, und arbeitete, aus dem Strome zu kommen; sah auch bald, daß derselbe nicht mehr so trübe und heftig war, und eine andere Richtung nahm, indem er sich an einigen östlich liegenden Klippen brach und theilte, so daß der Hauptstrich dieselben in Nordost liegen ließ und südlich lief, der andere hingegen prellte von der Klippe ab, und strömte erst schwach, dann stärker nach Nordost; so trieb und segelte ich, von Fluth und Wind begünstigt, sehr schnell dem nördlichen Theil der Insel zu. Nachdem ich mit Hülfe dieses Gegenstroms einige Meilen fortgesteuert hatte, bemerkte ich, daß derselbe sich von der Küste entfernte und mich zu weit nördlich ableiten würde, so daß ich in Gefahr stand, die Insel zu verfehlen; ich benutzte daher den zunehmenden Wind, lenkte etwas westlicher, und kam bald aus dem Strom in stilles Wasser. Jetzt gieng meine Fahrt nicht mehr so schnell, ich war aber derselben nun völlig Meister, und kam gegen sechs Uhr Abends an das nördliche Ufer meiner lieben Insel. Nachdem ich etwa drei Meilen längs demselben westlich hingesegelt war, um eine sichere Bucht zu finden, fand ich eine sehr gute Einfuhrt, deren Mündung[201] eine halbe Meile breit seyn mochte, die aber immer schmäler und endlich bloß ein kleiner Fluß wurde; hier lief ich ein und befestigte mein Fahrzeug an einer bequemen Stelle, die im Schatten einiger Bäume, mit Fleiß für dasselbe gemacht zu seyn schien.

Sobald ich den Fuß auf das Land gesetzt hatte, überfiel mich eine so lebhafte Freude über meine Rettung, daß ich Gott auf den Knieen dafür dankte. Nur derjenige, der von der unvermeidlichsten Todesgefahr geängstiget, aus Mörderhänden gerettet, oder auf dem Schaffot unverhofft begnadigt wird, nur der kann sich ungefähr eine Vorstellung von meinem Entzücken machen, und ich nahm den festen Entschluß, nie wieder daran zu denken, mich auf die offene See zu begeben. Nachdem ich mich erholt und durch Speise erquickt hatte, legte ich mich ganz ermattet im Schatten der Bäume nieder, und schlief bald ein.

Des andern Morgens überlegte ich während dem Frühstück, wie ich meine Rückreise antreten sollte. Ich entschloß mich, mein Fahrzeug hier zu lassen, und den Rückweg zu Fuße zu machen; ich nahm nichts als meine Flinte und meinen Sonnenschirm mit, denn die Hitze war sehr groß. Da ich mir schon früher vorgenommen hatte, die Entdeckung der Ost- und Nordküste meiner Insel dergestalt zu vollenden, daß ich wieder zu dem Grenzpfahl gelangte, den ich aufgerichtet hatte, so nahm ich jetzt meinen Weg nach West, und nach zwei Stunden entdeckte ich mein Zeichen, wie ich es aufgestellt hatte. Nachdem ich die größte Hitze über im Schatten einiger Bäume ausgeruht hatte, setzte[202] ich meine Reise fort, und kam gegen Abend auf meinem Landsitz an, stieg wie gewöhnlich über den Zaun, legte mich im Schatten nieder, um auszuruhen, und von der Hitze und dem weiten Weg ermüdet, schlief ich bald ein.

Wer kann sich mein Entsetzen lebhaft genug vorstellen, als ich durch eine Stimme aufgeschreckt wurde, die mich verschiedene Male bei meinem Namen rief: Robin! Robin! wo bist du? Robin, wo kommst du her? armer Robinson Crusoe, wo bist du gewesen? Ich war in einen so tiefen Schlaf gesunken, daß ich nicht ganz davon erwachte, sondern halb wachend, halb schlafend, durch ängstliche Träume beunruhigt ward, bis endlich das wiederholte Rufen: Robin, Robinson Crusoe! mich völlig erweckte. Als ich nun überzeugt war, daß mich kein Traum täuschte, weil das Rufen immer fortdauerte, so wäre ich vor Todesangst beinahe gestorben, wenn ich nicht meinen Poll auf dem Zaune bemerkt hätte, der sich in seinem Geplauder nicht stören ließ, auch gleich zu mir kam, als ich ihn rief, sich auf meinen Finger setzte, seinen Schnabel dicht an meine Wangen schmiegte und fortfuhr zu rufen: Robin, armer Robinson! wo bist du gewesen? wo kömmst du her? u.dgl., denn anfangs, wenn mich die Betrübniß über meine verlassene Lage anwandelte, waren dies meine gewöhnlichen Ausrufungen, die denn Poll von mir gelernt hatte. Obgleich ich nun wußte, daß niemand anders als er es war und seyn konnte, so stand es doch eine gute Weile an, ehe ich mich recht von meinem Schreck erholte, denn[203] ich konnte gar nicht begreifen, und kann mirs noch jetzt nicht erklären, wie das Thier so weit von meiner Wohnung, und gerade hierher kam; das gesellige Geschöpf machte sich nichts daraus, sondern setzte sein Geschwätz und seine Schmeicheleien fort, gerade als wenn es, vor Freude mich wieder zu sehen, ganz entzückt gewesen wäre. Den andern Morgen nahm ich's mit nach Hause und stutzte ihm ein wenig die Flügel.

Nun ruhete ich mehrere Tage von meinen Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande aus, und hatte Zeit genug, die Gefahr zu überdenken, in der ich mich befunden hatte. Freilich hätte ich gar zu gerne mein Boot in der Nähe meines Wohnsitzes gehabt, aber der bloße Gedanke an die heftigen Seeströme machte, daß mir das Herz vor Angst pochte, und das Blut in den Adern gerann. So mußte ich also zufrieden seyn, und mein Fahrzeug, daran ich über zwei Jahre gearbeitet hatte, ehe ich es brauchen konnte, in so weiter Entfernung lassen, als ob ich keines gehabt hätte.

Quelle:
[Defoe, Daniel]: Der vollständige Robinson Crusoe. Constanz 1829, Band 1, S. 197-204.
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