[255] Der Fürst trat plötzlich an Jewgeni Pawlowitsch heran.
»Jewgeni Pawlowitsch«, sagte er mit auffälliger Wärme, indem er seine Hand ergriff, »seien Sie überzeugt, daß ich[255] Sie trotz allem für den edelsten, besten Menschen halte; das versichere ich Ihnen ...«
Jewgeni Pawlowitsch war so erstaunt, daß er sogar einen Schritt zurücktrat. Einen Augenblick lang hatte er die größte Mühe, einen starken Lachreiz zu unterdrücken; aber bei näherem Hinsehen bemerkte er, daß der Fürst kaum seiner selbst mächtig war und sich jedenfalls in einem ganz eigenartigen Zustand befand.
»Ich möchte darauf wetten, Fürst«, rief er, »daß Sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollten und vielleicht gar nicht zu mir ... Aber was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Möglich, gut möglich, und Sie haben sehr richtig bemerkt, daß ich mich vielleicht gar nicht an Sie wenden wollte!«
Nach diesen Worten lächelte er auf eine ganz seltsame und sogar komische Weise; aber plötzlich schien er in starke Erregung zu geraten und rief:
»Erinnern Sie mich nicht an mein Benehmen vor drei Tagen! Ich habe mich diese drei Tage über sehr geschämt ... Ich weiß, daß ich schlecht gehandelt habe ...«
»Aber ... aber was haben Sie denn so Schreckliches getan?«
»Ich sehe, daß Sie sich vielleicht mehr für mich schämen, als es die andern alle tun, Jewgeni Pawlowitsch. Sie erröten, und das ist das Zeichen eines guten Herzens. Ich gehe sogleich weg; glauben Sie mir!«
»Aber was hat er denn nur? Fangen etwa die Anfälle bei ihm so an?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna erschrocken an Kolja.
»Beachten Sie das nicht weiter, Lisaweta Prokofjewna; ich bekomme keinen Anfall; ich werde sogleich weggehen. Ich weiß, daß ich von der Natur stiefmütterlich behandelt bin. Ich bin vierundzwanzig Jahre lang krank gewesen, bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Fassen Sie auch jetzt meine Worte und Handlungen als[256] die eines Kranken auf. Ich werde sogleich weggehen, sogleich; seien Sie dessen versichert. Ich erröte über mein Wesen nicht; denn es wäre ja wunderlich, wenn ich darüber erröten wollte, nicht wahr? Aber für die Gesellschaft tauge ich nicht ... Ich sage das nicht aus gekränktem Ehrgefühl ... Ich habe in diesen drei Tagen viel nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß ich Ihnen bei erster Gelegenheit meinen Entschluß offen und ehrlich mitteilen muß. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf, weil ich unfehlbar alle Hörer zum Lachen bringen würde; eben dies hat mir Fürst Schtsch. soeben ins Gedächtnis zurückgerufen ... Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus; darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. Und daher habe ich kein Recht ... Außerdem bin ich mißtrauisch; ich ... ich bin überzeugt, daß mich in diesem Haus niemand kränken will, und daß ich hier mehr geliebt werde, als ich verdiene; aber ich weiß, weiß zuverlässig, daß nach einer vierundzwanzigjährigen Krankheit notwendigerweise etwas zurückbleiben mußte, so daß die Menschen manchmal nicht umhin können, über mich zu lachen ... nicht wahr?«
Er blickte sich ringsum und schien eine Erwiderung, eine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Alle standen stumm da, peinlich erstaunt über dieses unerwartete, krankhafte und, wie es schien, jeder Ursache entbehrende Benehmen. Aber dieses Benehmen gab zu einer seltsamen Episode Anlaß.
»Warum sagen Sie das hier?« rief Aglaja plötzlich. »Warum sagen Sie das zu diesen Menschen? Zu diesen Menschen! Zu diesen Menschen!«
Sie schien im höchsten Grad entrüstet zu sein; ihre Augen sprühten Funken. Der Fürst stand stumm und sprachlos vor ihr und wurde auf einmal ganz blaß.
»Hier ist niemand, der solcher Worte wert wäre!« fuhr[257] Aglaja heftig fort. »Alle, die hier anwesend sind, sind nicht so viel wert wie Ihr kleiner Finger und reichen an Ihren Verstand und an Ihr Herz nicht heran; Sie sind ehrlicher als sie alle, edler als sie alle, klüger als sie alle ...! Manche sind hier nicht wert, sich zu bücken und das Taschentuch aufzuheben, das Sie soeben haben hinfallen lassen ... Warum setzen Sie sich selbst herab und stellen sich unter die andern alle? Warum karikieren Sie all Ihre guten Eigenschaften? Warum besitzen Sie so gar keinen Stolz?«
»O Gott, ist es zu glauben?« rief Lisaweta Prokofjewna und schlug die Hände zusammen.
»Der arme Ritter! Hurra!« schrie Kolja begeistert.
»Schweigen Sie ...! Wie kann jemand wagen, mich hier in Ihrem Haus zu beleidigen!« wandte sich Aglaja plötzlich mit größter Heftigkeit zu ihrer Mutter. Sie befand sich bereits in jenem gereizten Zustand, in dem der Mensch sich um keine Grenzen mehr kümmert und über jedes Hindernis hinwegschreitet. »Warum peinigen sie mich alle, alle ohne Ausnahme? Warum haben alle diese Menschen mir diese drei Tage lang um Ihretwillen zugesetzt, Fürst? Ich werde Sie um keinen Preis heiraten! Hören Sie wohl: um keinen Preis und niemals! Das mögen Sie wissen! Wie kann man denn auch einen so lächerlichen Menschen wie Sie heiraten? Betrachten Sie sich nur jetzt einmal im Spiegel, wie Sie dastehen! Warum, warum ziehen mich alle damit auf, daß ich Sie heiraten werde? Sie, Sie müssen das wissen! Sie sind auch mit ihnen im Komplott!«
»Nie hat dich jemand damit aufgezogen!« murmelte Adelaida erschrocken.
»Es ist keinem in den Sinn gekommen; kein Wort von der Art ist gesprochen worden!« rief Alexandra Iwanowna.
»Wer hat sie aufgezogen? Wann ist das geschehen? Wer hat es fertiggebracht, so etwas zu ihr zu sagen? Redet sie irre?« Mit diesen Fragen wandte sich Lisaweta Prokofjewna, zitternd vor Zorn, an alle Anwesenden.[258]
»Alle haben es gesagt, alle ohne Ausnahme, die ganzen drei Tage lang! Aber ich werde ihn niemals heiraten, niemals!«
Nach diesen heftig hervorgestoßenen Worten brach Aglaja in bittere Tränen aus, verbarg ihr Gesicht mit dem Taschentuch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Aber er hat dir ja noch gar keinen Antrag ...«
»Ich habe Ihnen keinen Antrag gemacht, Aglaja Iwanowna«, entfuhr es dem Fürsten unwillkürlich.
»Wa-as?« rief Lisaweta Prokofjewna erstaunt, entrüstet, erschrocken aus und zog dieses Wort sehr in die Länge. »Was – soll – das – heißen?«
Sie wollte ihren Ohren nicht trauen.
»Ich wollte sagen ... ich wollte sagen«, erwiderte der Fürst zitternd, »ich wollte Ihrem Fräulein Tochter nur erklären ... die Ehre haben zu erklären, daß ich überhaupt nicht beabsichtigte ... die Ehre zu haben, um ihre Hand zu bitten ... zu keiner Zeit ... Ich bin hierbei ganz unschuldig, bei Gott, ganz unschuldig, Aglaja Iwanowna! Ich habe es nie gewollt, und es ist mir nie in den Sinn gekommen; ich werde es niemals wollen; das werden Sie selbst sehen; davon können Sie überzeugt sein! Irgendein schlechter Mensch muß mich bei Ihnen verleumdet haben! Seien Sie ganz beruhigt!«
Während er das sagte, näherte er sich dem aufgeregten Mädchen.
Diese nahm das Taschentuch weg, mit dem sie ihr Gesicht verhüllte, warf einen schnellen Blick auf ihn und seine ganze erschrockene Gestalt, wurde sich über den Sinn seiner Worte klar und lachte ihm auf einmal gerade ins Gesicht, mit einem so lustigen, unbezwingbaren Lachen, mit einem so komischen, spöttischen Lachen, daß als erste Adelaida, namentlich nachdem sie ebenfalls den Fürsten angeblickt hatte, sich nicht halten konnte, zu ihrer Schwester hinstürzte, sie umarmte und in ein ebenso unaufhaltsames, backfischmäßig lustiges Lachen ausbrach wie diese. Beim Anblick der beiden begann der[259] Fürst plötzlich zu lächeln und sagte mit fröhlicher, glückseliger Miene mehrmals:
»Nun, Gott sei Dank, Gott sei Dank!«
Nun konnte sich auch Alexandra nicht mehr beherrschen und lachte von ganzem Herzen. Es schien, als wollte dieses Gelächter der drei Mädchen gar kein Ende nehmen.
»Na, sie sind verrückt!« murmelte Lisaweta Prokofjewna. »Erst jagen sie einem einen Schreck ein, und dann ...« Aber jetzt lachte auch schon Fürst Schtsch., auch Jewgeni Pawlowitsch lachte; Kolja lachte ohne Aufhören, und beim Anblick des allgemeinen Gelächters lachte auch der Fürst.
»Wir wollen spazierengehen, wir wollen spazierengehen!« rief Adelaida. »Alle zusammen wollen wir gehen, und der Fürst muß unbedingt mit uns mitkommen; Sie dürfen nicht weggehen, Sie lieber Mensch! Was für ein lieber Mensch er ist, Aglaja! Nicht wahr, Mama? Ich muß ihn notwendig, notwendig umarmen und ihm einen Kuß geben für ... für die Erklärung, die er unserer Aglaja soeben gemacht hat. Liebe Mama, erlauben Sie mir, ihm einen Kuß zu geben! Aglaja, erlaube mir, deinen Fürsten zu küssen!« rief die Übermütige, sprang wirklich zu dem Fürsten hin und küßte ihn auf die Stirn. Dieser ergriff ihre beiden Hände, drückte sie kräftig, so daß Adelaida beinah aufschrie, sah ihr mit grenzenloser Freude ins Gesicht, führte plötzlich schnell ihre Hand an seine Lippen und küßte sie dreimal.
»Wir wollen gehen!« rief Aglaja. »Fürst, Sie sollen mich führen! Darf das ein junger Mann tun, Mama, der mir einen Korb gegeben hat? Ihre Absage an mich gilt ja doch wohl gleich für das ganze Leben, Fürst? Aber doch nicht so! So gibt man einer Dame doch nicht den Arm! Wissen Sie denn nicht, wie man einer Dame den Arm bietet? So macht man das! Nun kommen Sie; wir wollen allen vorangehen; wollen Sie mit mir vorangehen, tête-à-tête?«[260]
Sie sprach ohne Pause und lachte dazwischen immer noch stoßweise.
»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« sagte Lisaweta Prokofjewna ein Mal über das andere, ohne selbst zu wissen, worüber sie sich eigentlich freute.
»Ganz sonderbare Menschen!« dachte Fürst Schtsch. vielleicht zum hundertsten Male, seit er sie kennengelernt hatte; aber ... diese sonderbaren Menschen gefielen ihm. Was den Fürsten anlangte, so gefiel ihm der vielleicht nicht sonderlich; Fürst Schtsch. machte ein sehr ernstes Gesicht und schien nicht frei von Sorgen zu sein, als alle den Spaziergang antraten.
Jewgeni Pawlowitsch befand sich anscheinend in heiterster Gemütsstimmung; während des ganzen Weges zum Bahnhof unterhielt er Alexandra und Adelaida mit den lustigsten Reden, und die jungen Damen lachten mit ganz besonderer Bereitwilligkeit über seine Scherze, mit einer solchen Bereitwilligkeit, daß ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, sie hörten auf das, was er sagte, vielleicht überhaupt nicht hin. Infolge dieses Gedankens brach er plötzlich, ohne einen Grund anzugeben, in ein lautes Gelächter aus, das ihm ganz von Herzen kam (das lag nun einmal so in seinem Wesen!). Die beiden Schwestern, die übrigens in einer Art von festtäglicher Stimmung waren, blickten fortwährend nach Aglaja und dem Fürsten hin, die vor ihnen gingen; offenbar hatte die jüngste Schwester ihnen ein schweres Rätsel aufgegeben. Fürst Schtsch. war andauernd bemüht, Lisaweta Prokofjewna mit nebensächlichen Dingen zu unterhalten, vielleicht um sie zu zerstreuen, und wurde ihr damit sehr lästig.
Sie schien ganz verstört zu sein und gab Antworten, die nicht auf die Fragen paßten; mitunter antwortete sie auch überhaupt nicht. Aber die Rätsel, die Aglaja Iwanowna den anderen an diesem Abend aufgab, hatten noch nicht ihr Ende erreicht. Das letzte derartige Rätsel legte sie dem Fürsten allein vor. Als sie sich ungefähr hundert[261] Schritte von dem Landhaus entfernt hatten, sagte Aglaja hastig halbflüsternd zu ihrem hartnäckig schweigenden Kavalier:
»Blicken Sie einmal nach rechts!«
Der Fürst blickte nach der angegebenen Richtung.
»Blicken Sie recht aufmerksam hin! Sehen Sie da eine Bank im Park, da, wo die drei großen Bäume stehen ... eine grüne Bank?«
Der Fürst antwortete, daß er sie sehe.
»Gefällt Ihnen das Plätzchen? Ich gehe manchmal frühmorgens, gegen sieben Uhr, wenn alle noch schlafen, allein dorthin und sitze da.«
Der Fürst murmelte, es sei ein sehr schönes Plätzchen.
»Aber jetzt gehen Sie von mir weg; ich möchte nicht länger mit Ihnen untergefaßt gehen. Oder besser so: lassen Sie mir Ihren Arm, aber reden Sie mit mir kein Wort! Ich möchte still für mich nachdenken ...«
Dieses Verbot war jedenfalls überflüssig: der Fürst hätte sicherlich auch ohne solche Weisung auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen. Sein Herz begann furchtbar zu klopfen, als er die Mitteilung von der Bank hörte. Einen Augenblick darauf hatte er sich wieder gesammelt und wies voller Scham einen absurden Gedanken zurück, der ihm gekommen war ...
Auf dem Bahnhof in Pawlowsk versammelt sich an den Wochentagen, wie allgemein bekannt ist oder wenigstens alle behaupten, ein »feineres« Publikum als an Sonn- und Festtagen, wo »alle möglichen Leute« aus der Stadt herauskommen. Die Toiletten sind nicht festtäglich, aber elegant. Es ist Sitte, sich bei der Musik zu treffen. Die Kapelle ist vielleicht tatsächlich die beste unserer Gartenkapellen und spielt moderne Sachen. Die dort herrschende Wohlanständigkeit und Etikette sind hervorragend, trotzdem das Ganze bis zu einem gewissen Grade einen Anstrich von Familienhaftigkeit, ja von Intimität hat. Bekannte, sämtlich Sommerfrischler, finden sich dort zusammen, um einander wechselseitig zu mustern.[262] Viele vollführen das mit wirklichem Vergnügen und gehen nur zu diesem Zweck hin; aber es gibt auch einige, die lediglich um der Musik willen kommen. Skandalszenen sind äußerst selten, wiewohl sie auch an Wochentagen vorkommen. Aber ganz ohne solche geht es nun einmal nicht ab.
Es war diesmal ein wundervoller Abend und ziemlich viel Publikum beisammen. Alle Plätze in der Umgebung der musizierenden Kapelle waren besetzt. Unsere Gesellschaft nahm auf Stühlen etwas mehr seitwärts Platz, dicht bei dem linken Bahnhofsausgang. Die bunte Menge und die Musik übten auf Lisaweta Prokofjewna bis zu einem gewissen Grad eine belebende Wirkung aus und brachten den jungen Mädchen etwas Zerstreuung; sie hatten schon Zeit gefunden, mit diesem und jenem ihrer Bekannten einen Blick zu wechseln, einem und dem andern von weitem freundlich zuzunicken, die Kostüme zu betrachten, einige Sonderbarkeiten daran zu bemerken, darüber ihre Ansichten auszutauschen und spöttisch zu lächeln. Jewgeni Pawlowitsch verneigte sich ebenfalls sehr häufig. Auf Aglaja und den Fürsten, die immer noch zusammen waren, war schon mancher aufmerksam geworden. Bald traten zur Mutter und zu den jungen Damen einzelne junge Männer aus ihrem Bekanntenkreis heran, um sie zu begrüßen; zwei oder drei blieben da und unterhielten sich mit ihnen; alle waren sie mit Jewgeni Pawlowitsch befreundet. Unter ihnen befand sich ein junger, sehr hübscher Offizier, ein sehr munterer, redseliger Mensch; er beeilte sich, mit Aglaja ein Gespräch anzuknüpfen, und bemühte sich aus allen Kräften, ihr Interesse zu erregen. Aglaja benahm sich gegen ihn sehr gnädig und zeigte sich sehr lachlustig. Jewgeni Pawlowitsch bat den Fürsten um die Erlaubnis, ihn mit diesem Freund bekanntmachen zu dürfen; der Fürst verstand kaum, was man mit ihm vornehmen wollte; aber die Vorstellung kam doch zustande, beide verbeugten sich gegeneinander und reichten sich die[263] Hand. Jewgeni Pawlowitschs Freund tat eine Frage; aber der Fürst antwortete, wie es schien, gar nicht darauf oder murmelte höchstens in so sonderbarer Weise etwas vor sich hin, daß der Offizier ihn mit einem prüfenden Blick scharf anschaute, dann nach Jewgeni Pawlowitsch hinsah, sogleich begriff, warum dieser den Einfall gehabt hatte, sie einander vorzustellen, leise lächelte und sich wieder zu Aglaja wandte. Nur Jewgeni Pawlowitsch nahm es wahr, daß Aglaja plötzlich darüber errötete.
Der Fürst bemerkte es gar nicht einmal, daß andere mit Aglaja sprachen und ihr den Hof machten; minutenlang vergaß er sogar, daß er selbst neben ihr saß. Manchmal befiel ihn ein Verlangen, irgendwohin wegzugehen, ganz von hier zu verschwinden; es hätte ihm sogar ein düsterer, öder Ort zugesagt, wenn er nur hätte mit seinen Gedanken allein sein können und niemand gewußt hätte, wo er sich befände. Oder wenn er wenigstens hätte bei sich zu Hause sein können, in der Veranda, aber so, daß niemand bei ihm wäre, weder Lebedjew noch die Kinder; dann hätte er sich auf sein Sofa geworfen, das Gesicht in das Kissen gedrückt und so einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag dagelegen. In einzelnen Augenblicken traten ihm auch die Berge vor die Seele und namentlich eine ihm wohlbekannte Stelle in den Bergen, an die er immer gern zurückgedacht hatte; nach dieser Stelle war er gern hingegangen, als er noch dort wohnte, und hatte von da auf das Dorf hinabgeblickt und auf den nur schwach schimmernden weißen Faden des Wasserfalls da unten und nach den weißen Wolken da oben und nach der alten Burgruine. Oh, wie gern wäre er jetzt wieder dort gewesen und hätte an das Eine gedacht – oh! das ganze Leben über nur daran – und für tausend Jahre hätte er an diesem einen Gedanken genug gehabt! Hier hätte man ihn ganz vergessen mögen. Und das wäre sogar notwendig gewesen; und das beste wäre gewesen, wenn man ihn hier gar nicht gekannt hätte und das alles nur ein Traumbild gewesen wäre. Aber war es denn nicht[264] ganz gleich, ob es ein Traum oder Wirklichkeit war? Manchmal begann er auf einmal Aglaja zu betrachten und konnte fünf Minuten lang seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen; aber sein Blick war sehr sonderbar; er schien sie so anzusehen, als wäre sie ein etwa zwei Werst weit von ihm entfernter Gegenstand, oder als wäre sie ihr Porträt und nicht sie selbst.
»Warum sehen Sie mich denn so an, Fürst?« fragte sie auf einmal, indem sie das heitere Geplauder und Gelache mit ihrer Umgebung unterbrach. »Ich fürchte mich vor Ihnen; ich habe immer die Vorstellung, Sie wollten die Hand ausstrecken und mein Gesicht mit dem Finger berühren, um es zu befühlen. Nicht wahr, Jewgeni Pawlowitsch, so sieht er mich an?«
Der Fürst hörte, wie es schien, mit Erstaunen, daß sich jemand an ihn wandte, überlegte das Gesagte, wiewohl er es vielleicht nicht ganz verstand, gab jedoch keine Antwort; aber als er sah, daß sie und alle andern lachten, öffnete er plötzlich den Mund und begann ebenfalls zu lachen. Das Gelächter ringsum wurde noch stärker; der Offizier, der offenbar ein lachlustiger Mensch war, schüttelte sich nur so vor Lachen. Aglaja flüsterte auf einmal zornig vor sich hin: »So ein Idiot!«
»O Gott! Kann sie denn wirklich so einen ... ist sie denn ganz verrückt geworden?« dachte Lisaweta Prokofjewna zähneknirschend im stillen.
»Das ist ein Scherz! Es ist derselbe Scherz wie damals mit dem ›armen Ritter‹«, flüsterte ihr Alexandra im Ton fester Überzeugung ins Ohr; »weiter nichts! Sie hat sich in ihrer Weise wieder über ihn lustig gemacht. Nur geht dieser Scherz zu weit; man muß ihn abkürzen, Mama! Vorhin hat sie uns wie eine Komödiantin eine Szene vorgespielt und uns aus Unart einen Schreck eingejagt ...«
»Es ist noch ein Glück, daß sie an einen solchen Idioten geraten ist«, flüsterte ihr Lisaweta Prokofjewna als Antwort zu.[265]
Die Bemerkung der Tochter hatte ihr doch das Herz etwas leichter gemacht.
Der Fürst hörte, daß er ein Idiot genannt wurde, und fuhr zusammen, aber nicht infolge dieser Benennung (die vergaß er sofort wieder); sondern in der Menge, nicht weit von der Stelle, wo er saß, irgendwo seitwärts (er hätte die Stelle und den Punkt, wo es gewesen war, schlechterdings nicht bezeichnen können), war ein Männergesicht aufgetaucht, ein blasses Gesicht, mit lockigem, dunklem Haar, mit einem ihm bekannten, sehr bekannten Blick und Lächeln; es war aufgetaucht und wieder verschwunden. Sehr gut möglich, daß er es sich nur eingebildet hatte; von der ganzen Vision blieb ihm nur der Eindruck des schiefen Lächelns, der Augen und des hellgrünen, stutzerhaften Halstuches, das der vorüberhuschende Herr getragen hatte, im Gedächtnis haften. Ob dieser Herr in der Menge verschwunden oder in den Bahnhof hineingeschlüpft war, das konnte der Fürst gleichfalls nicht sagen.
Aber einen Augenblick darauf begann er auf einmal schnell und unruhig um sich zu blicken; diese erste Vision konnte die Vorbotin und Vorgängerin einer zweiten sein. Das war mit Sicherheit anzunehmen. Hatte er wirklich, als er nach dem Bahnhof ging, gar nicht an die Möglichkeit eines Zusammentreffens gedacht? Während er nach dem Bahnhof ging, hatte er allerdings gar nicht gewußt, daß er dorthin ging; in einem solchen Zustand hatte er sich befunden. Wenn er verstanden oder vermocht hätte aufmerksamer zu sein, so hätte er schon vor einer Viertelstunde bemerken können, daß Aglaja ab und zu ebenfalls mit einer gewissen Unruhe eilig um sich blickte, ebenfalls als ob sie etwas um sich herum suche. Jetzt, als seine Unruhe stark bemerkbar wurde, wuchs auch Aglajas Aufregung und Unruhe, und kaum blickte er rückwärts, so tat auch sie fast im gleichen Augenblick dasselbe. Das Ereignis, dem mit solcher Unruhe entgegengesehen wurde, ließ nicht lange auf sich warten.[266]
Von eben jenem Seitenausgang des Bahnhofes her, neben dem der Fürst und die ganze Jepantschinsche Gesellschaft Platz genommen hatten, erschien ein ganzer Schwarm von mindestens zehn Menschen. An der Spitze dieses Schwarmes gingen drei Frauen; zwei von ihnen waren außerordentlich schön, und es war nicht zu verwundern, daß ihnen so viele Verehrer nachfolgten. Aber sowohl die Verehrer als auch die Frauen, alle hatten etwas Besonderes an sich, etwas, was von dem Wesen des übrigen bei der Musik versammelten Publikums stark abwich.
Fast alle Anwesenden bemerkten die Ankömmlinge sofort, bemühten sich aber großenteils, so zu tun, als ob sie sie gar nicht sähen, und nur einige junge Männer lächelten über sie und tauschten miteinander halblaute Bemerkungen aus. Sie zu übersehen war ganz unmöglich: sie zeigten sich offen, redeten laut und lachten. Man konnte annehmen, daß manche unter ihnen einen ziemlichen Rausch hatten, obgleich äußerlich betrachtet mehrere derselben stutzerhaft und elegant gekleidet waren; aber es waren darunter auch Leute von recht sonderbarem Aussehen, in sonderbarer Kleidung und mit sonderbar geröteten Gesichtern; auch einige Offiziere waren dabei; manche waren bereits über die Jugend hinaus; etliche waren behäbig gekleidet, in bequemen, elegant gearbeiteten Anzügen, und trugen kostbare Ringe und Hemdknöpfe, prächtige pechschwarze Perücken und schwarze Backenbärte und gaben ihren Gesichtern einen besonders vornehmen, wiewohl etwas verdrossenen Ausdruck, eine Menschensorte, die man in der Gesellschaft wie die Pest zu meiden pflegt. Unter den Sommerfrischen in unseren Vororten befinden sich natürlich auch solche, die sich durch besonders guten Ton auszeichnen und sich eines vorzüglichen Rufes erfreuen; aber auch der vorsichtigste Mensch kann sich nicht in jedem Augenblick vor einem Ziegelstein hüten, der vom Nachbarhaus herabfällt. Ein solcher Ziegelstein war jetzt auch im Begriff auf[267] das wohlanständige Publikum herabzufallen, das sich bei der Musik versammelt hatte.
Um von dem Bahnhof auf den Platz zu gelangen, auf dem das Orchester war, mußte man drei Stufen hinabsteigen. Dicht bei diesen Stufen hatte der Schwarm haltgemacht; sie trauten sich nicht hinabzusteigen; aber eine der Frauen schritt vorwärts; von ihrer Suite wagten nur zwei Männer ihr zu folgen. Der eine war ein Herr in mittleren Jahren, mit recht bescheidener Miene und einem in jeder Hinsicht anständigen Äußern; aber er machte den Eindruck eines richtigen Einschichters, das heißt eines der Leute, die nie jemanden kennen und von niemandem gekannt werden. Der andere, der sich von der Dame nicht getrennt hatte, trug eine sehr schäbige Kleidung und sah sehr zweideutig aus. Außer diesen beiden folgte der exzentrischen Dame niemand weiter; aber sie blickte während des Hinuntersteigens gar nicht zurück, als wäre es ihr völlig gleichgültig, ob ihr jemand folge oder nicht. Sie lachte und redete laut wie vorher; gekleidet war sie mit vielem Geschmack und reich, aber etwas luxuriöser, als es schicklich gewesen wäre. Sie schlug die Richtung an dem Orchester vorbei nach der andern Seite des Platzes ein, wo neben der Landstraße eine Equipage wartete.
Der Fürst hatte »sie« schon seit mehr als drei Monaten nicht gesehen. Seit seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich jeden Tag vorgenommen, zu ihr zu gehen; aber vielleicht hatte ihn eine geheime Ahnung immer davon zurückgehalten. Wenigstens vermochte er schlechterdings nicht den Eindruck vorauszusehen, den die bevorstehende Begegnung mit ihr auf ihn machen werde; aber er bemühte sich manchmal angstvoll, ihn sich vorzustellen. Eines war ihm klar: daß die Begegnung peinlich sein werde. Mehrmals hatte er in diesen sechs Monaten an die erste Empfindung zurückgedacht, die das Gesicht dieser Frau schon beim bloßen Anblick ihres Bildes bei ihm hervorgerufen hatte; aber selbst der Eindruck des Bildes[268] war, wie er sich erinnerte, ein sehr peinlicher gewesen. Jener Monat in der Provinz, während dessen er beinah täglich mit ihr zusammengewesen war, hatte auf ihn eine schreckliche Wirkung ausgeübt, derart, daß der Fürst manchmal sogar die Erinnerung an diese noch nicht weit zurückliegende Zeit zu verscheuchen suchte. In dem Gesicht dieser Frau lag für ihn stets etwas, was ihm eine Qual verursachte: in dem Gespräch mit Rogoschin hatte der Fürst dieses Gefühl als ein Gefühl grenzenlosen Mitleides bezeichnet, und das war die Wahrheit gewesen: dieses Gesicht hatte schon beim Anblick des Bildes in seinem Herzen ein Mitleid erweckt, das zum eigenen Leid geworden war; dieses Gefühl des Mitleides und sogar des eigenen Leides um dieses Wesen hatte ihn nie verlassen und war ihm auch jetzt gegenwärtig. Nein, es war jetzt sogar noch stärker. Aber der Ausdruck, den er Rogoschin gegenüber gebraucht hatte, hatte den Fürsten auf die Dauer nicht befriedigt; erst jetzt, in dem Augenblick, wo sie plötzlich vor seinen Augen erschien, verstand er, vielleicht infolge der unmittelbaren Anschauung, inwiefern das, was er zu Rogoschin gesagt hatte, mangelhaft gewesen war. Er hatte damals nicht den Ausdruck »Entsetzen« angewandt; jawohl, Entsetzen! Jetzt, in diesem Augenblick, war er geradezu von Entsetzen ergriffen; er war auf Grund all seiner eigenen Beobachtungen mit völliger Sicherheit davon überzeugt, daß diese Frau irrsinnig war. Wenn man eine Frau über alles in der Welt liebt oder einen Vorgeschmack von der Möglichkeit einer solchen Liebe verspürt und nun auf einmal diese Frau an der Kette erblickt, hinter einem Eisengitter, von dem Stock des Aufsehers bedroht, dann mag die Empfindung einigermaßen derjenigen ähnlich sein, die jetzt der Fürst durchmachte.
»Was ist Ihnen?« fragte Aglaja hastig, indem sie sich nach ihm umwandte und naiv seinen Arm berührte.
Er drehte den Kopf nach ihr hin, sah sie an, blickte in ihre schwarzen Augen, die jetzt in einer ihm unverständlichen[269] Weise funkelten, und machte den Versuch, ihr zuzulächeln; aber plötzlich, wie wenn er sie sofort wieder vergessen hätte, wandte er die Augen wieder nach rechts und verfolgte die ihn so fesselnde Erscheinung weiter. Nastasja Filippowna ging soeben dicht an den Stühlen der jungen Damen vorüber. Jewgeni Pawlowitsch fuhr fort, Alexandra Iwanowna etwas wohl sehr Komisches und Interessantes zu erzählen, und sprach laut und lebhaft. Der Fürst erinnerte sich später, daß Aglaja auf einmal halblaut gesagt hatte: »Was für eine ...«
Diese Worte hatten noch keinen bestimmten Sinn, und sie sprach den Satz nicht zu Ende; sie beherrschte sich sofort wieder und fügte nichts weiter hinzu; aber auch das Gesagte genügte schon. Nastasja Filippowna, die, anscheinend ohne jemand besonders zu beachten, vorbeigegangen war, wandte sich plötzlich zu der Jepantschinschen Gesellschaft um und schien erst jetzt Jewgeni Pawlowitsch zu bemerken.
»Ah! Da ist er ja!« rief sie stehenbleibend. »Einmal kann man ihn durch noch so viele Boten nicht ausfindig machen, und ein andermal sitzt er gerade da, wo man ihn nicht vermutet ... Ich dachte ja, du wärst dort ... bei deinem Onkel!«
Jewgeni Pawlowitsch wurde dunkelrot und blickte sie wütend an, wandte sich aber schnell wieder von ihr ab.
»Wie? Weißt du es etwa noch nicht? Kann man sich das vorstellen: er weiß es noch nicht! Er hat sich erschossen! Heute früh hat sich dein Onkel erschossen! Mir wurde es vorhin, um zwei Uhr, gesagt; aber jetzt weiß es schon die halbe Stadt; dreihundertfünfzigtausend Rubel Staatsgelder fehlen, wie es heißt; andere aber sagen: fünfhunderttausend. Und ich spekulierte immer darauf, daß er dir noch eine große Erbschaft hinterlassen werde; aber er hat alles durchgebracht. Ja, ja, der alte Mann führte ein ausschweifendes Leben ... Nun, lebe wohl, bonne chance! Also du fährst wirklich nicht hin? Da hast du ja noch glücklich zur rechten Zeit den Abschied genommen,[270] du Schlaukopf! Ach, Unsinn, du hast es ja gewußt, hast es vorher gewußt: vielleicht wußtest du es schon gestern ...«
Obgleich hinter dieser dreisten Zudringlichkeit und der öffentlichen Behauptung einer gar nicht existierenden Bekanntschaft und Intimität unbedingt eine besondere Absicht steckte und daran jetzt kein Zweifel mehr möglich war, so hatte Jewgeni Pawlowitsch doch zunächst noch geglaubt, er könne davonkommen, wenn er die Beleidigerin gar nicht beachte. Aber Nastasja Filippownas Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag; als er von dem Tod seines Onkels hörte, wurde er kreidebleich und wandte sich zu der Überbringerin dieser Nachricht hin. In diesem Augenblick erhob sich Lisaweta Prokofjewna schnell von ihrem Platz, winkte allen, ihr zu folgen, und entfernte sich fast laufend. Nur Fürst Ljow Nikolajewitsch blieb noch einen Moment anscheinend unentschlossen auf seinem Platz, und Jewgeni Pawlowitsch stand immer noch wie besinnungslos da. Aber die Familie Jepantschin hatte sich noch nicht zwanzig Schritte entfernt, als sich eine furchtbare Skandalszene abspielte. Der mit Jewgeni Pawlowitsch gut befreundete Offizier, der sich mit Aglaja unterhalten hatte, war im höchsten Grad empört.
»Da müßte man einfach eine Reitpeitsche nehmen; auf andere Art wird man mit diesem Geschöpf nicht fertig!« sagte er ziemlich laut. (Wie es schien, war er auch früher schon Jewgeni Pawlowitschs Vertrauter gewesen.)
Nastasja Filippowna wandte sich augenblicklich zu ihm um. Ihre Augen funkelten; sie stürzte auf einen ihr ganz unbekannten jungen Mann los, der zwei Schritte von ihr entfernt stand und ein dünnes geflochtenes Spazierstöckchen in der Hand hatte, entriß es ihm und versetzte ihrem Beleidiger damit aus aller Kraft einen Schlag quer ins Gesicht. All dies vollzog sich in einer Sekunde ... Der Offizier, vor Wut außer sich, stürzte sich auf sie; ihr Gefolge hatte Nastasja Filippowna nicht mehr um sich;[271] der anständige Herr in mittleren Jahren war bereits völlig verschwunden, und der angeheiterte Herr stand ein wenig abseits und lachte aus Leibeskräften. Eine Minute darauf wäre natürlich die Polizei erschienen; aber während dieser Minute wäre es Nastasja Filippowna schlimm ergangen, wenn ihr nicht eine unerwartete Hilfe gekommen wäre: der Fürst, der ebenfalls zwei Schritte davon entfernt stand, vermochte noch gerade den Offizier von hinten an den Armen zu fassen. Seinen Arm losreißend, versetzte ihm der Offizier einen starken Stoß gegen die Brust; der Fürst flog etwa drei Schritte zurück und fiel auf einen Stuhl. Aber nun erschienen bei Nastasja Filippowna bereits zwei Beschützer. Vor dem heranstürmenden Offizier stand der Boxer, der Verfasser jenes dem Leser bekannten Schmähartikels und aktives Mitglied der früheren Rogoschinschen Bande.
»Keller! Leutnant a.D.«, stellte er sich in affektiert forscher Weise vor. »Wenn Ihnen ein Faustkampf gefällig ist, Hauptmann, so stehe ich als Vertreter des schwachen Geschlechts zu Ihren Diensten; ich verstehe mich vorzüglich auf die englische Boxkunst. Nehmen Sie es nicht übel, Hauptmann; ich bedaure die Ihnen angetane ›blutige‹ Beleidigung; aber ich kann nicht zugeben, daß jemand gegen eine Frau vor den Augen des Publikums vom Faustrecht Gebrauch macht. Wenn Sie aber, wie es sich für einen anständigen Mann schickt, die Sache in anderer Form zu erledigen wünschen, so ... Sie werden mich selbstverständlich verstehen, Hauptmann ...«
Aber der Hauptmann war schon zur Besinnung gekommen und hörte nicht mehr auf ihn. In diesem Augenblick tauchte Rogoschin aus der Menge auf, reichte Nastasja Filippowna schnell den Arm und zog sie hinter sich her davon. Rogoschin selbst schien furchtbar aufgeregt zu sein; er war blaß und zitterte. Während er Nastasja Filippowna wegführte, fand er noch Zeit, dem Offizier höhnisch ins Gesicht zu lachen und ihm mit triumphierender Miene zuzurufen:[272]
»Hui! Da hast du's abbekommen! Die ganze Visage voll Blut! Hui!«
Der Offizier, der seine Fassung wiedererlangt hatte und sich darüber klar geworden war, an wen er sich zu halten hatte, wandte sich, das Gesicht mit dem Taschentuch verdeckend, höflich an den Fürsten, der bereits vom Stuhl wieder aufgestanden war:
»Sie sind Fürst Myschkin, dem ich das Vergnügen hatte vorgestellt zu werden?«
»Sie ist irrsinnig! Geisteskrank! Ich versichere Ihnen!« antwortete der Fürst mit zitternder Stimme und streckte ihm aus irgendeinem Grund seine zitternden Hände entgegen.
»Ich kann mich natürlich solcher Kenntnisse nicht rühmen; aber ich muß Ihren Namen wissen.«
Er nickte ihm zu und ging weg. Die Polizei erschien genau fünf Sekunden, nachdem die letzten beteiligten Personen verschwunden waren. Übrigens hatte die ganze Szene nicht länger als zwei Minuten gedauert. Einige aus dem Publikum hatten sich von ihren Stühlen erhoben und waren weggegangen; andere hatten sich nur von dem bisherigen Platz auf einen andern gesetzt; wieder andere freuten sich gewaltig über den Skandal; andere endlich begannen eifrig und mit lebhaftem Interesse darüber zu sprechen. Die Musikkapelle fing wieder an zu spielen. Der Fürst folgte den Jepantschins nach. Wenn er darauf verfallen wäre oder Zeit gehabt hätte, nach links zu blicken, als er infolge des Stoßes auf den Stuhl gefallen war, so hätte er zwanzig Schritte von ihm entfernt Aglaja erblickt, die stehengeblieben war, um die Skandalszene mitanzusehen, und nicht auf die Rufe ihrer Mutter und ihrer Schwestern hörte, welche schon weitergegangen waren. Fürst Schtsch., der zu ihr gelaufen kam, überredete sie endlich, schneller wegzugehen. Lisaweta Prokofjewna erinnerte sich später, daß Aglaja zu ihnen in einer solchen Aufregung zurückkam, daß sie ihre Rufe wohl kaum gehört haben mochte. Aber zwei Minuten[273] darauf, als sie eben in den Park eingetreten waren, sagte Aglaja in ihrem gewöhnlichen, gleichgültigen, launischen Ton:
»Ich wollte nur ansehen, wie die Komödie endete.«
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»Was soll ich von deinen augen/ und den weissen brüsten sagen?/ Jene sind der Venus führer/ diese sind ihr sieges-wagen.«
224 Seiten, 11.80 Euro
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro