IX

[92] Als Lisaweta Prokofjewna in ihre Wohnung kam, blieb sie gleich im ersten Zimmer; sie war außerstande weiterzugehen und ließ sich ganz kraftlos auf eine Chaiselongue niedersinken, wobei sie sogar vergaß, den Fürsten zum Platznehmen aufzufordern. Es war dies ein ziemlich großer Saal, mit einem runden Tisch in der Mitte, mit einem Kamin, mit einer Menge Blumen auf Gestellen an den Fenstern, und in der Hinterwand mit einer zweiten Glastür, die nach dem Garten führte. Sogleich kamen Adelaida und Alexandra herein und blickten den Fürsten und ihre Mutter fragend und erstaunt an.

Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer[92] gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatten sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja bei dem Rendezvous getroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus diesen Ursachen sehr erschrocken gewesen; aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war denn dabei, wenn Aglaja den Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?

»Glaube nicht, lieber Freund«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich dich hierher geschleppt habe, um dich einem Verhör zu unterwerfen ... Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit dir zusammenzukommen, mein Bester ...«

Sie stockte ein wenig.

»Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende.

»Nun ja, gewiß möchte ich das gern!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden; denn ich kränke niemand und beabsichtige niemand zu kränken ...«

»Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die[93] Rede sein; es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank Punkt sieben Uhr getroffen, und zwar infolge einer gestrigen Aufforderung von ihrer Seite. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und mit mir über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns demzufolge getroffen und eine ganze Stunde lang über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.«

»Natürlich wird das alles sein, lieber Freund, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene.

»Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für unfähig gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, Mama, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?«

»Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Lebe wohl, Fürst; verzeih, daß ich dir Umstände gemacht habe! Ich hoffe, du bist nach wie vor von meiner unveränderlichen Hochachtung gegen dich überzeugt.«

Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu.

»Wir amüsieren uns nur darüber, Mama«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie ... wie Jewgeni Pawlowitsch.«

»Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch[94] und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen.

Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte (es war schon gegen neun Uhr), fand er in der Veranda Wjera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus.

»Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wjera erfreut.

»Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.«

»Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.«

Das Dienstmädchen ging hinaus; Wjera war schon im Begriff ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran.

»Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem ... mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!«

»Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen; er kann so lange bleiben, wie er selbst will.«

»Er wird jetzt nichts anrichten, und ... verfahren Sie nicht zu streng mit ihm!«

»O nein! Warum sollte ich das tun?«

»Und ... lachen Sie ihn nicht aus; das ist das Allerwichtigste.«

»O, durchaus nicht!«

»Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Sie das erst noch sage«, sagte Wjera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich bald umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen ... so glückliche Augen.«

»Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf.

Aber Wjera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein[95] Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer weiterlachend, schnell hinaus.

»Was für ein prächtiges Mädchen ...«, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus. Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein. Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und die Lektüre verschieben mußte.

»Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?«

»Warum sollte ich das tun ...? Aber, Kolja, ich bin müde ... Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen ... Was macht er aber jetzt?«

»Er schläft und wird noch zwei Stunden fortschlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert ... natürlich, die Aufregung ... wie wäre es auch anders möglich?«

»Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und zu Hause nicht geschlafen habe?«

»Wjera hat es mir soeben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich konnte es doch nicht unterlassen; ich bin nur auf ein Augenblickchen gekommen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten; jetzt hat mich Kostja Lebedjew abgelöst. Burdowski ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht ... na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!«

»Gewiß ... dieser ganze Vorgang ...«

»Nein, Fürst, nein; was mich so ergriffen hat, war die[96] ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und von dem zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi-gan-tischer Gedanke!«

Der Fürst sah Kolja freundlich an, der natürlich nur gekommen war, um möglichst bald über den gigantischen Gedanken sprechen zu können.

»Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Um ständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben; aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch etwas Großartiges! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde; das stellt doch eine direkte Herausforderung dar ... Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Bei solcher Lage der Dinge zu behaupten, er hätte absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wjera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich stehe dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, da wir alle bei ihm unausgesetzt Wache halten.«

»Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?«

»Ich, Kostja Lebedjew und Burdowski. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedjew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedjew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General wohnt dauernd bei Lebedjew; jetzt ist er ebenfalls weggegangen ... Lebedjew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er sucht Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt.[97] Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, eines wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowski weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernähme. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er dann seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen ...‹ Ich berichtete ihm dies und das. ›Das ist ja schön‹, sagte er; ›aber ich bin hauptsächlich hergekommen und deswegen aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und ... sich vor ihm hüten muß.‹ Können Sie das verstehen, Fürst?«

»Eigentümlich; übrigens kann es uns ja ganz gleichgültig sein.«

»Ja, zweifellos kann es uns ganz gleichgültig sein; wir sind ja keine Freimaurer! Aber ich habe mich höchlichst darüber gewundert, daß der General deswegen in der Nacht hinkam und mich wecken wollte.«

»Sie sagen, Ferdyschtschenko ist weggegangen?«

»Ja, um sieben Uhr; er kam noch für einen Augenblick zu mir heran; ich hatte die Wache. Er sagte, er wolle zu Wilkin gehen und bei dem weiterschlafen; das ist ein arger Trunkenbold, dieser Wilkin. Na, nun will ich gehen! Da kommt auch Lukjan Timofejewitsch ... Der Fürst will schlafen, Lukjan Timofejewitsch; also kehrt, marsch!«

»Nur auf eine Minute, hochverehrter Fürst, in einer meiner Ansicht nach wichtigen Angelegenheit«, sagte der eintretende Lebedjew halblaut in ernstem Ton und verbeugte sich würdevoll.[98]

Er war eben erst zurückgekehrt und noch nicht einmal in seine Wohnung gegangen, so daß er den Hut noch in der Hand hielt.

Sein Gesicht war sorgenvoll und trug einen besonderen, ungewöhnlichen Ausdruck von selbstbewußter Würde.

Der Fürst forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

»Sie haben schon zweimal nach mir gefragt? Sie beunruhigen sich vielleicht immer noch wegen des gestrigen Vorfalls?«

»Sie meinen in bezug auf den Jungen, der uns gestern in Erregung versetzte, Fürst? O nein, nein; gestern waren mir meine Gedanken in Unordnung geraten ... aber heute habe ich nicht mehr vor, Ihre Anordnungen irgendwie zu konterkarieren.«

»Konterka ... Wie sagten Sie?«

»Ich sagte: konterkarieren; ein französisches Wort, wie viele andere, das in den russischen Sprachschatz aufgenommen worden ist; aber ich will es nicht sonderlich verteidigen.«

»Sie benehmen sich ja heute so würdevoll und zeremoniös, Lebedjew, und reden so bedächtig«, sagte der Fürst lächelnd.

»Nikolai Ardalionowitsch!« wandte sich Lebedjew an Kolja in einem Ton, der beinah gerührt klang; »ich habe dem Fürsten eine besondere Sache mitzuteilen: sie betrifft eigentlich ...«

»Nun, ja, selbstverständlich, selbstverständlich; was geht es mich an? Auf Wiedersehen, Fürst!« sagte Kolja und entfernte sich sogleich.

»Ich habe den Knaben wegen seiner schnellen Auffassung gern«, bemerkte Lebedjew, indem er ihm nachsah.

»Ein gewandter Junge, nur etwas zudringlich. Es ist mir ein außerordentliches Unglück widerfahren, hochgeehrter Fürst: gestern abend oder heute frühmorgens ... ich bin noch nicht imstande, die Zeit genau anzugeben ...«

»Was ist denn geschehen?«[99]

»Es sind mir vierhundert Rubel aus der Seitentasche abhanden gekommen, hochgeehrter Fürst; eine nette Geschichte!« fügte Lebedjew mit einem sauren Lächeln hinzu.

»Sie haben vierhundert Rubel verloren? Das ist sehr bedauerlich.«

»Und besonders, wo es einen armen Menschen betroffen hat, der ehrenhaft von seiner Arbeit lebt.«

»Gewiß, gewiß; aber wie ist denn das zugegangen?«

»Es ist eine Folge des Weingenusses. Ich wende mich an Sie wie an die Vorsehung, hochgeehrter Fürst. Ich empfing gestern um fünf Uhr nachmittags eine Summe von vierhundert Rubeln von einem Schuldner und kehrte mit dem Zug hierher zurück. Die Brieftasche mit dem Geld hatte ich in der Tasche. Als ich die Uniform mit einem Zivilrock vertauschte, steckte ich das Geld in den Zivilrock, da ich es am Leib behalten wollte, weil ich darauf rechnete, daß ich es noch am selben Abend einer an mich gerichteten Bitte zufolge würde auszuzahlen haben ... Ich erwartete einen Vermittler.«

»Apropos, Lukjan Timofejewitsch, ist das wahr, daß Sie in den Zeitungen annoncieren, Sie gäben Geld gegen Verpfändung von Gold- und Silbersachen?«

»Durch einen Vermittler; mein eigener Name wird dabei nicht genannt, auch meine Adresse nicht angegeben ... Da ich nur ein geringfügiges Kapital besitze und auf das Heranwachsen meiner Familie Rücksicht nehmen muß, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß ein ehrlicher Prozentsatz ...«

»Nun ja, nun ja; ich wollte mich ja auch nur danach erkundigen; entschuldigen Sie die Unterbrechung.«

»Der Vermittler erschien nicht. Unterdessen wurde dieser Unglückliche hergebracht; ich befand mich schon nach dem Mittagessen in animierter Stimmung; nun kamen diese Gäste; wir tranken ... Tee, und ... ich heiterte mich zu meinem Verderben an. Dann (es war schon spät geworden) kam dieser Keller und brachte die[100] Nachricht von Ihrem Geburtstag und von Ihrer Anordnung in betreff des Champagners; da ich nun, teurer und hochgeehrter Fürst, ein Herz besitze (was Sie gewiß schon bemerkt haben; denn ich verdiene es), da ich ein Herz besitze, ich will nicht sagen ein empfindsames, aber ein dankbares, worauf ich stolz bin, so kam ich zu mehrerer Feierlichkeit des verbreiteten Zusammenseins und in der Erwartung, daß ich Ihnen meine Glückwünsche würde persönlich aussprechen dürfen, auf den Einfall, meinen alten Hausrock wieder mit der Uniform zu vertauschen, die ich bei meiner Heimkehr abgelegt hatte; dies tat ich denn auch, wie Sie, Fürst, wahrscheinlich bemerkt haben, da Sie mich den ganzen Abend über in Uniform gesehen haben. Bei diesem Kleiderwechsel vergaß ich in dem Zivilrock die Brieftasche ... Es ist eine alte Wahrheit: wen Gott bestrafen will, dem nimmt er zuerst den Verstand. Und erst heute, als ich aufwachte (es war schon halb acht), sprang ich wie halbverrückt auf und griff vor allen Dingen nach dem Zivilrock: die Tasche war leer! Die Brieftasche war spurlos verschwunden!«

»Oh, das ist unangenehm!«

»Ja, es ist wirklich unangenehm; und Sie haben mit richtigem Taktgefühl sofort den zutreffenden Ausdruck gefunden«, bemerkte Lebedjew nicht ohne eine gewisse Tücke.

»Gewiß ist es unangenehm, aber ...«, sagte der Fürst, der ein wenig nachgedacht hatte und nun in Aufregung geriet, »die Sache hat doch ihre ernste Seite.«

»Ja, sie hat wirklich ihre ernste Seite; da haben Sie wieder einen sehr passenden Ausdruck gefunden, Fürst, zur Bezeichnung ...«

»Ach, hören Sie doch auf, Lukjan Timofejewitsch; was ist denn da zu finden? Die Ausdrücke sind hierbei nicht von Wichtigkeit ... Halten Sie für möglich, daß Sie die Brieftasche im Zustand der Trunkenheit aus der Tasche verloren haben?«[101]

»Möglich ist es; im Zustand der Trunkenheit, wie Sie sich mit aller Offenheit ausgedrückt haben, ist alles möglich, hochgeehrter Fürst! Aber ich bitte Sie, Folgendes zu erwägen: wenn ich die Brieftasche beim Rockwechsel hätte aus der Tasche fallen lassen, so müßte der herausgefallene Gegenstand dort auf dem Fußboden liegen. Wo ist aber dieser Gegenstand?«

»Haben Sie die Brieftasche nicht vielleicht in die Kommode oder in einen Tischkasten gelegt?«

»Ich habe alles durchsucht, alles durchwühlt, obgleich ich mich genau erinnere, sie nirgends verwahrt und kein Schubfach geöffnet zu haben.«

»Haben Sie im Schränkchen nachgesehen?«

»Gleich zuerst, und sogar mehrere Male ... Aber wie hätte ich auch dazu kommen sollen, sie in das Schränkchen zu legen, aufrichtig verehrter Fürst?«

»Ich muß bekennen, Lebedjew, daß mich die Sache aufregt. Also muß es jemand auf dem Fußboden gefunden haben?«

»Oder aus der Tasche entwendet! Das sind zwei Möglichkeiten.«

»Die Sache regt mich sehr auf; denn wer könnte eigentlich ... Das ist die Frage!«

»Ohne allen Zweifel ist das die Hauptfrage! Sie finden mit bewundernswerter Sicherheit die richtigen Gedanken und Ausdrücke und präzisieren die Situation vortrefflich, durchlauchtigster Fürst.«

»Ach, Lukjan Timofejewitsch, lassen Sie doch die Spöttereien; hier ...«

»Spöttereien!« rief Lebedjew und schlug die Hände zusammen.

»Nun, nun, schon gut, ich bin nicht weiter böse; aber hier handelt es sich um etwas ganz anderes ... Ich fürchte für die Menschen. Wen haben Sie denn im Verdacht?«

»Das ist eine schwierige Frage und ... eine sehr verwickelte Frage! Das Dienstmädchen kann ich nicht im Verdacht haben; die hat sich die ganze Zeit über in ihrer[102] Küche aufgehalten. Meine eigenen Kinder ebenfalls nicht.«

»Am Ende gar!«

»Also müßte es einer der Gäste gewesen sein.«

»Aber ist das möglich?«

»Das ist völlig unmöglich, ganz und gar unmöglich; aber es muß doch unter allen Umständen der Fall sein. Ich will jedoch zugeben und bin sogar davon überzeugt, daß, wenn ein Diebstahl stattgefunden hat, er nicht am Abend ausgeführt ist, als alle zusammen waren, sondern erst in der Nacht oder gar erst gegen Morgen, von einem der hier Übernachtenden.«

»Ach, mein Gott!«

»Burdowski und Nikolai Ardalionowitsch nehme ich natürlich aus; die sind überhaupt nicht zu mir hereingekommen.«

»Am Ende gar! Und selbst wenn sie hereingekommen wären! Wer hat bei Ihnen übernachtet?«

»Mich mitgezählt, waren wir unser vier Personen, die in zwei nebeneinander liegenden Zimmern übernachteten: ich, der General, Keller und Herr Ferdyschtschenko. Also muß es einer von uns vieren gewesen sein!«

»Das heißt, einer von den dreien; aber wer denn?«

»Um der Gerechtigkeit und guten Ordnung willen habe ich auch mich selbst mitgezählt; aber Sie werden zugeben müssen, Fürst, daß ich mich nicht wohl selbst bestehlen konnte, obgleich solche Fälle allerdings in der Welt schon vorgekommen sind ...«

»Ach, Lebedjew, wie langweilig das ist!« rief der Fürst ungeduldig. »Kommen Sie doch zur Sache, und ziehen Sie die Vorreden nicht in die Länge ...«

»Es bleiben also drei Personen übrig. Da ist erstens Herr Keller, ein Mensch ohne festen Wohnsitz, ein trunksüchtiger Mensch und in manchen Dingen fortschrittlich gesinnt, das heißt, wo es darauf ankommt, aus anderer Leute Tasche zu leben; im übrigen aber sind seine Neigungen sozusagen mehr altritterlicher als fortschrittlicher[103] Art. Er übernachtete anfangs im Zimmer des Kranken und kam erst in der Nacht zu uns herüber, mit der Begründung, es sei ihm nicht möglich, auf dem harten Fußboden zu schlafen.«

»Haben Sie ihn im Verdacht?«

»Ich hatte ihn allerdings im Verdacht. Als ich zwischen sieben und acht Uhr morgens wie ein Halbverrückter aufsprang und mich vor die Stirn schlug, da weckte ich sogleich den General, der den Schlaf der Unschuld schlief. Nachdem wir über Ferdyschtschenkos sonderbares Verschwinden unsere Betrachtungen angestellt hatten, ein Umstand, der schon an und für sich unsern Verdacht erweckte, entschieden wir beide uns sofort dafür, Keller zu visitieren, der wie ... wie ... beinah wie ein Holzklotz dalag. Wir visitierten ihn vollständig: in den Taschen fand sich kein Groschen, und nicht eine einzige Tasche war ohne Löcher. Inhalt: ein baumwollenes, blaukariertes Taschentuch in unanständigem Zustand; ferner ein Liebesbrief von einem Stubenmädchen, enthaltend Geldforderungen und Drohungen, und Fetzen des Ihnen bekannten Feuilletons. Der General gab sein Urteil dahin ab, daß Keller unschuldig sei. Zum Zweck völliger Vergewisserung weckten wir ihn selbst, was uns nur mit Mühe durch viele Püffe gelang; er begriff nur schwer, um was es sich handelte, und sperrte erstaunt den Mund auf. Das betrunkene Aussehen, der alberne, unschuldige, ja dumme Gesichtsausdruck – er war es nicht gewesen!«

»Nun, da freue ich mich!« rief der Fürst, freudig aufatmend. »Ich hatte schon für ihn gefürchtet!«

»Gefürchtet? Also hatten Sie schon einen Grund dazu?« fragte Lebedjew, die Augen zusammenkneifend.

»O nein, ich redete das nur so hin!« erwiderte der Fürst hastig. »Ich habe mich furchtbar dumm ausgedrückt, wenn ich sagte, ich hätte für ihn gefürchtet. Tun Sie mir den Gefallen, Lebedjew, und sagen Sie das niemandem weiter!«[104]

»Aber Fürst, Fürst! Ihre Worte ruhen in meinem Herzen ... in der Tiefe meines Herzens ... wie in einem Grab!« rief Lebedjew pathetisch und drückte den Hut gegen sein Herz.

»Schon gut, schon gut ... Also dann war es Ferdyschtschenko? Das heißt, ich meine, Sie haben Ferdyschtschenko im Verdacht?«

»Wen sonst?« sagte Lebedjew leise, indem er den Fürsten prüfend ansah.

»Nun ja, selbstverständlich ... wen denn sonst ... das heißt, was haben Sie für Beweise dafür?«

»Beweise habe ich schon. Erstens das Verschwinden um sieben Uhr oder sogar noch vor sieben Uhr morgens.«

»Ich weiß, Kolja hat mir gesagt, daß er zu ihm herangekommen sei und gesagt habe, er gehe weg, um den Rest der Nacht bei seinem Freund zuzubringen ... ich habe den Namen vergessen.«

»Wilkin heißt er. Also Nikolai Ardalionowitsch hat Ihnen das bereits gesagt?«

»Von dem Diebstahl hat er mir nichts gesagt.«

»Davon weiß er auch noch nichts; denn ich habe die Sache bis jetzt geheimgehalten. Also er ist zu Wilkin gegangen; man könnte nun meinen: was ist denn Wunderbares dabei, daß ein Trunkenbold zu einem ebensolchen Trunkenbold, wie er, geht, wenn es auch am frühen Morgen und ohne allen Anlaß geschieht? Aber hier kann man doch eine Spur entdecken: er hat beim Weggehen seine Adresse zurückgelassen ... Achten Sie jetzt wohl auf die Frage, die dabei entsteht, Fürst: warum hat er seine Adresse zurückgelassen ...? Warum geht er zu Nikolai Ardalionowitsch, wozu er einen Umweg machen muß, und teilt ihm mit: ›Ich gehe, um den Rest der Nacht bei Wilkin zuzubringen‹? Wer kann sich denn dafür interessieren, daß er weggeht, und daß er gerade zu Wilkin geht? Was hat es für Zweck, das hier mitzuteilen? Nein, das ist eine Schlauheit, die Schlauheit eines Diebes! Das bedeutet: ›Seht ihr wohl? Ich verberge meine Spuren[105] absichtlich nicht; wie kann ich denn dann ein Dieb sein? Würde etwa ein Dieb Mitteilung davon machen, wohin er geht?‹ Er sucht da mit besonderer Sorgfalt den Verdacht von sich abzulenken und sozusagen seine Spuren im Sand zu verwischen ... Haben Sie mich auch verstanden, hochgeehrter Fürst?«

»Verstanden habe ich Sie; sehr gut habe ich Sie verstanden; aber das reicht doch noch nicht aus.«

»Zweiter Beweis: die Spur erweist sich als gefälscht, und die angegebene Adresse stimmt nicht. Eine Stunde darauf, das heißt um acht Uhr, klopfte ich schon bei Wilkin; er wohnt da in der Pjataja-Straße, und ich bin sogar mit ihm bekannt. Aber da war kein Ferdyschtschenko vorhanden. Zwar erfuhr ich von dem sehr schwerhörigen Dienstmädchen, daß vor einer Stunde tatsächlich jemand geläutet habe, und zwar so stark, daß der Klingelzug abgerissen sei. Aber das Mädchen hatte nicht geöffnet, da sie Herrn Wilkin nicht hatte wecken mögen und vielleicht auch selbst keine Lust gehabt hatte aufzustehen. Das kommt schon vor.«

»Und das sind all Ihre Beweise? Das ist wenig.«

»Aber, Fürst, bedenken Sie: wen könnte man denn sonst noch im Verdacht haben?« erwiderte Lebedjew in gerührtem Ton; aber aus seinem Lächeln schaute eine gewisse Listigkeit heraus.

»Sie sollten noch einmal in allen Zimmern und Schubfächern nachsehen!« sagte der Fürst nach einigem Nachdenken mit sorgenvoller Miene.

»Das habe ich ja getan!« versetzte Lebedjew mit noch größerer Rührung und seufzte dabei.

»Hm ...! Warum mußten Sie auch den Zivilrock mit der Uniform vertauschen?!« rief der Fürst und schlug ärgerlich auf den Tisch.

»Das ist eine Frage aus einem alten Lustspiel. Aber, großmütigster Fürst, Sie nehmen sich mein Unglück zu sehr zu Herzen! Ich bin so vieler Teilnahme gar nicht wert. Das heißt, ich allein würde nicht wert sein, daß Sie[106] sich so beunruhigen; aber Sie leiden ja auch um des Verbrechers willen ... um dieses unbedeutenden Herrn Ferdyschtschenko willen!«

»Nun ja, ja, Sie haben mich wirklich in Unruhe versetzt«, unterbrach ihn der Fürst zerstreut und mißvergnügt. »Also was beabsichtigen Sie denn nun eigentlich zu tun ... wenn Sie so fest davon überzeugt sind, daß es Ferdyschtschenko gewesen ist?«

»Fürst, hochgeehrter Fürst, wer könnte es denn sonst gewesen sein?« erwiderte Lebedjew, mit immer wachsender Rührung sich hin und her windend. »Das Fehlen eines andern, an den man denken könnte, und sozusagen die absolute Unmöglichkeit, auf jemand außer Herrn Ferdyschtschenko Verdacht zu haben, das ist ja sozusagen noch ein Beweis gegen Herrn Ferdyschtschenko, schon der dritte Beweis! Denn ich frage noch einmal: wer könnte es sonst gewesen sein? Ich kann doch nicht Herrn Burdowski verdächtigen, hehehe!«

»Was für ein Unsinn!«

»Oder schließlich den General, hehehe?«

»Was für dummes Zeug!« rief der Fürst, beinah zornig, und drehte sich ungeduldig auf seinem Platz hin und her.

»Natürlich ist das dummes Zeug! Hehehe! Dieser Mensch, ich wollte sagen der General, hat mich ordentlich zum Lachen gebracht! Ich ging mit ihm vorhin auf der warmen Fährte zu Wilkin ... ich muß Ihnen noch bemerken, daß der General noch mehr, wie ich selbst, bestürzt war, als ich nach Entdeckung des Verlusts zuallererst ihn weckte, dermaßen bestürzt, daß er die Farbe wechselte und bald rot, bald blaß wurde und schließlich in eine so empörte, edle Aufregung geriet, wie ich sie in solchem Maß gar nicht von ihm erwartet hatte. Ein höchst edeldenkender Mensch! Er lügt zwar fortwährend, aus Schwäche, ist aber von den erhabensten Gefühlen erfüllt; und dabei ist er ein Mann von geringer geistiger Begabung, der durch seine Harmlosigkeit das größte Vertrauen einflößt. Ich habe Ihnen schon gesagt, hochgeehrter[107] Fürst, daß ich nicht nur eine gewisse Schwäche für ihn habe, sondern ihn sogar liebe. Auf einmal blieb er mitten auf der Straße stehen, knöpfte sich den Rock auf und entblößte seine Brust: ›Visitiere mich!‹ sagte er, ›du hast Keller visitiert; warum visitierst du mich nicht? Das verlangt‹, sagte er, ›die Gerechtigkeit!‹ Dabei zitterten ihm die Arme und die Beine, und er war ganz blaß geworden; ganz grimmig sah er aus. Ich fing an zu lachen und sagte: ›Hör mal, General‹, sagte ich, ›wenn mir ein anderer das von dir sagte, dann würde ich mir gleich auf der Stelle mit eigenen Händen den Kopf abnehmen, ihn auf eine große Schüssel legen und ihn selbst auf der Schüssel zu allen Zweiflern hintragen: Hier, würde ich sagen, seht mal diesen Kopf an; also mit meinem eigenen Kopf hier verbürge ich mich für ihn, und nicht nur den Kopf will ich daransetzen, sondern auch dafür ins Feuer gehen! Siehst du‹, sagte ich, ›in dieser Weise bin ich bereit, mich für dich zu verbürgen!‹ Da umarmte er mich mitten auf der Straße, brach in Tränen aus, fing an zu zittern und drückte mich so fest an seine Brust, daß ich heftig husten mußte. ›Du‹, sagte er, ›bist der einzige Freund, der mir in meinem Unglück geblieben ist!‹ Er ist ein gefühlvoller Mensch! Nun, selbstverständlich erzählte er mir sofort unterwegs eine auf diesen Fall passende Geschichte, wie er ebenfalls, noch als junger Mensch, einmal des Diebstahls von fünfhunderttausend Rubeln verdächtigt worden sei; aber er habe sich gleich am folgenden Tag in die Flammen eines brennenden Hauses gestürzt und den Grafen, der ihn verdächtigt habe, sowie Nina Alexandrowna, die damals noch Mädchen gewesen sei, aus dem Feuer herausgeschleppt. Der Graf habe ihn umarmt, und auf diese Weise sei seine Ehe mit Nina Alexandrowna zustande gekommen; gleich am nächsten Tag aber habe man in den Brandruinen auch die Schatulle mit dem vermißten Geld gefunden; es sei eine eiserne Schatulle gewesen, von englischer Arbeit, mit einem Geheimschloß, und sie sei auf irgendeine[108] Weise unter den Fußboden geraten gewesen, so daß niemand sie habe bemerken können und sie nur durch diese Feuersbrunst wieder zutage gekommen sei. Alles die reine Lüge! Aber als er auf Nina Alexandrowna zu sprechen kam, da schluchzte er sogar. Nina Alexandrowna ist eine höchst edeldenkende Dame, obwohl sie auf mich böse ist.«

»Sind Sie mit ihr bekannt?«

»So gut wie gar nicht; aber ich würde es von ganzem Herzen wünschen, wenn auch nur um mich vor ihr zu rechtfertigen. Nina Alexandrowna ist auf mich schlecht zu sprechen, weil sie meint, ich richte ihren Gatten durch Verführung zum Trinken zugrunde. Aber weit entfernt ihn zu verführen, zähme ich vielmehr diese seine Leidenschaft; ich halte ihn vielleicht von verderblicherer Gesellschaft zurück. Zudem ist er mein Freund, und ich bekenne Ihnen, ich werde ihn jetzt nicht mehr verlassen, das heißt, sogar im allereigentlichsten Sinne: wo er hingeht, da werde ich auch hingehen, weil man nur durch Einwirkung auf seine Gefühle etwas mit ihm anfangen kann. Jetzt besucht er sogar seine Hauptmannsfrau gar nicht mehr, wiewohl es ihn im geheimen zu ihr hinzieht und er sogar manchmal nach ihr stöhnt, namentlich alle Morgen, wenn er aufsteht und sich die Stiefel anzieht; ich weiß nicht, warum gerade zu dieser Zeit. Geld besitzt er nicht, das ist das Malheur; und ohne Geld kann er sich bei dieser Frau nicht blicken lassen. Hat er Sie nicht um Geld gebeten, hochgeehrter Fürst?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Er schämt sich. Er wollte es schon tun; er hat mir sogar gestanden, daß er Sie mit seiner Bitte belästigen wolle; aber er schämt sich, weil Sie ihm erst unlängst behilflich gewesen sind und er überdies glaubt, Sie würden ihm nichts geben. Er hat mir als seinem Freund sein Herz ausgeschüttet.«

»Und Sie geben ihm kein Geld?«

»Fürst! Hochgeehrter Fürst! Diesem Menschen würde[109] ich nicht nur Geld geben, sondern ich würde für ihn sozusagen sogar mein Leben hingeben ... übrigens nein, ich will nicht übertreiben, das Leben nicht; aber wenn es sich darum handelte, etwa ein Fieber oder ein Geschwür oder sogar einen Husten zu ertragen, so bin ich, weiß Gott, bereit, das zu tun, vorausgesetzt, daß es sehr nötig ist; denn ich halte ihn für einen bedeutenden, aber heruntergekommenen Menschen! So steht es; also es handelt sich nicht nur um Geld!«

»Also Geld geben Sie ihm?«

»N-nein, Geld habe ich ihm nicht gegeben, und er weiß selbst, daß ich ihm keines geben werde; aber das geschieht einzig und allein, um ihn an Enthaltsamkeit zu gewöhnen und ihn zu bessern. Jetzt hat er sich an mich gehängt, um mit mir nach Petersburg zu fahren; ich fahre nämlich nach Petersburg, um Herrn Ferdyschtschenko abzufassen, solange die Fährte noch warm ist; denn ich weiß sicher, daß er schon dort ist. Mein General kocht nur so vor Entrüstung; aber ich vermute, daß er sich in Petersburg von mir wegschleichen wird, um die Hauptmannsfrau zu besuchen. Ich gestehe, ich will ihn sogar absichtlich von mir weggehen lassen, und wir haben auch schon verabredet, bei der Ankunft in Petersburg uns sogleich zu trennen und nach verschiedenen Seiten zu gehen, um Herrn Ferdyschtschenko leichter zu fangen. In dieser Weise werde ich ihn also von mir weggehen lassen und ihn dann plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei der Hauptmannsfrau überraschen ... eigentlich um ihn als Familienvater und, allgemein gesagt, als Menschen zu beschämen.«

»Führen Sie nur keinen Skandal herbei, Lebedjew, um Gottes willen keinen Skandal!« sagte der Fürst halblaut in starker Unruhe.

»O nein, mein Zweck ist ja nur, ihn zu beschämen und zu sehen, was er für ein Gesicht macht; denn aus dem Gesicht kann man auf vieles schließen, hochgeehrter Fürst, und besonders bei einem solchen Menschen! Ach,[110] Fürst! Obgleich mein eigener Schade groß ist, kann ich doch auch jetzt nicht umhin, an ihn und an die Besserung seiner Moral zu denken. Ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie, hochgeehrter Fürst; ich bekenne sogar, daß ich eigentlich nur deswegen hergekommen bin: Sie sind schon mit seiner Familie bekannt und haben dort sogar schon gewohnt; wenn also Sie, hochgeehrter Fürst, sich entschließen wollten, mir hierbei zu helfen, eigentlich nur um des Generals und seines Glückes willen ...«

Lebedjew faltete sogar die Hände wie beim Gebet.

»Was meinen Sie denn? Wie soll ich denn helfen? Seien Sie überzeugt, daß ich lebhaft wünsche, Sie ganz zu verstehen, Lebedjew!«

»Einzig und allein in dieser Überzeugung bin ich ja auch zu Ihnen gekommen! Man könnte durch Nina Alexandrowna auf ihn einwirken, indem man Seine Exzellenz im Schoß seiner eigenen Familie beständig beobachtet und ihm sozusagen auf den Fersen bleibt. Ich selbst bin unglücklicherweise dort nicht bekannt ... Und außerdem könnte da auch Nikolai Ardalionowitsch vielleicht mithelfen, der Sie sozusagen mit allen Fibern seiner jungen Seele vergöttert ...«

»N-nein ... Nina Alexandrowna dürfen wir in diese Sache nicht hineinziehen, um Gottes willen nicht! Und Kolja ebensowenig ... Ich verstehe Sie übrigens vielleicht noch nicht ganz, Lebedjew.«

»Aber es ist ja dabei eigentlich gar nichts zu verstehen!« rief Lebedjew und sprang sogar ein wenig auf seinem Stuhl in die Höhe. »Gefühlvolle und zarte Behandlung, das ist die einzige Arznei für unsern Kranken. Sie erlauben mir wohl, Fürst, ihn für einen Kranken anzusehen?« »Das zeugt sogar von Ihrem Zartgefühl und von Ihrem Verstand.«

»Ich möchte es Ihnen durch ein Beispiel klarmachen, das ich der Deutlichkeit wegen aus der Praxis entnehme. Sehen Sie, was das für ein Mensch ist: da hat er nun jetzt eine Schwäche für diese Hauptmannsfrau, bei der er sich[111] ohne Geld nicht blicken lassen darf, und bei der ich ihn heute zu seinem eigenen Besten abzufassen beabsichtige; aber nehmen wir an, er habe nicht nur dieses Verhältnis mit der Hauptmannsfrau, sondern er begehe ein wirkliches Verbrechen, irgendeine unehrenhafte Handlung (wiewohl er einer solchen durchaus nicht fähig ist), so behaupte ich, man könnte auch dann einzig und allein durch edelmütige, zarte Behandlung, um mich so auszudrücken, bei ihm alles erreichen; denn er ist ein gefühlvoller Mensch! Glauben Sie mir, er würde es nicht fünf Tage lang aushalten, sondern in Tränen ausbrechen und alles bekennen, und besonders wenn die Familie und Sie sozusagen sein ganzes Mienenspiel, seine sämtlichen Äußerungen beobachten und in geschickter, edelmütiger Weise auf ihn einwirken ... Oh, hochgeehrter Fürst!« rief Lebedjew und sprang in einer Art von Begeisterung vom Stuhl auf; »ich behaupte ja gar nicht, daß er es bestimmt gewesen sei ... Ich bin sogar bereit, mein ganzes Blut für ihn zu vergießen, auf der Stelle, wiewohl Sie zugeben müssen, daß Unenthaltsamkeit und Trunksucht und eine Hauptmannsfrau, alles zusammengenommen, einen Menschen zu allem Möglichen bringen können.«

»Solche Absichten bin ich natürlich jederzeit bereit zu fördern«, erwiderte der Fürst, indem er aufstand. »Aber ich bekenne Ihnen, Lebedjew, daß ich mich in furchtbarer Unruhe befinde. Sagen Sie, Sie glauben doch immer noch ... kurz, Sie sagen ja selbst, daß Sie Herrn Ferdyschtschenko im Verdacht haben.«

»Aber wen denn auch sonst? Wen denn sonst, offenherzigster Fürst?« antwortete Lebedjew, indem er wieder gerührt die Hände faltete und milde lächelte.

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht.

»Sehen Sie, Lukjan Timofejewitsch, ein Irrtum könnte hier die schrecklichsten Folgen haben. Dieser Ferdyschtschenko ... ich möchte nichts Schlechtes von ihm sagen ... aber dieser Ferdyschtschenko ... ich meine, wer[112] weiß, vielleicht ist er es doch gewesen ...! Ich will sagen, vielleicht ist er wirklich einer solchen Tat eher fähig als ... als der andere.«

Lebedjew kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren.

»Sehen Sie«, fuhr der Fürst fort, der immer mehr in Verwirrung geriet und dessen Gesicht immer finsterer wurde, während er im Zimmer auf und ab ging und es dabei vermied, Lebedjew anzusehen, »man hat mir zu verstehen gegeben ... es hat mir jemand von Herrn Ferdyschtschenko gesagt, er sei, von allem anderen abgesehen, ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich in acht nehmen müsse und nichts Überflüssiges reden dürfe; verstehen Sie? Ich sage das mit Bezug auf meine Bemerkung, daß er vielleicht wirklich einer solchen Tat eher fähig sei als der andere ... damit wir uns nicht irren ... das ist doch die Hauptsache; Sie verstehen wohl?«

»Aber wer hat Ihnen das über Herrn Ferdyschtschenko mitgeteilt?« fragte Lebedjew eifrig.

»Ich habe es zufällig gehört; es hat es mir jemand zugeflüstert; übrigens glaube ich es selbst nicht ... es ist mir sehr ärgerlich, daß ich genötigt war, es zu erwähnen; aber ich versichere Ihnen, ich glaube es selbst nicht ... es ist ein törichtes Gerede ... Pfui, wie dumm von mir, es nachzusprechen!«

»Sehen Sie, Fürst«, sagte Lebedjew und zitterte dabei am ganzen Leib, »das ist wichtig, das ist jetzt sehr wichtig, ich meine die Art, wie diese Beurteilung zu Ihrer Kenntnis gelangt ist; das ist wichtig, wenn auch nicht in bezug auf Herrn Ferdyschtschenko.« (Während Lebedjew das sagte, lief er hinter dem Fürsten her auf und ab und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.) »Da möchte auch ich Ihnen jetzt etwas mitteilen, Fürst: als ich vorhin mit dem General zu diesem Wilkin ging, da fing er, nachdem er mir schon die Geschichte von der Feuersbrunst erzählt hatte, auf einmal in höchster sittlicher Entrüstung an, mir ganz ebensolche Andeutungen über[113] Herrn Ferdyschtschenko zu machen, aber in einer so ungereimten, einfältigen Manier, daß ich unwillkürlich ein paar Fragen darüber an ihn richtete und infolgedessen zu der bestimmten Überzeugung kam, daß diese ganze Beurteilung lediglich aus dem Gehirn Seiner Exzellenz stammte. Eigentlich war sie sozusagen ein Ausfluß seiner Herzensgüte. Denn er lügt einzig und allein, weil er seiner Rührung nicht Herr zu werden vermag. Nun belieben Sie zu erwägen: wenn er das erlogen hat (und davon bin ich überzeugt), wie ist es dann zugegangen, daß auch Sie davon gehört haben? Wohlgemerkt, Fürst, es war das nur eine momentane Eingebung; wer in aller Welt hat es Ihnen also mitgeteilt? Das ist wichtig, das ... das ist sehr wichtig und ... sozusagen ...«

»Ich habe es soeben von Kolja gehört, und ihm hatte es kurz vorher sein Vater gesagt, den er um sechs Uhr oder bald darauf auf dem Flur traf, als er zu irgendeinem Zweck aus dem Krankenzimmer herausgegangen war.« Und der Fürst erzählte alles eingehend.

»Nun, sehen Sie, das ist, was man eine Spur nennt!« sagte Lebedjew, sich die Hände reibend und leise lachend. »Ganz so hatte ich es mir auch gedacht! Das bedeutet, daß Seine Exzellenz seinen unschuldigen Schlaf gegen sechs Uhr unterbrochen hat, um zu seinem geliebten Sohn hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein, und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe ...!«

»Hören Sie, Lebedjew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedjew, ich beschwöre Sie ...! Wenn Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein; aber niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!«

»Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und[114] edelster Fürst«, rief Lebedjew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird! Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes Blut ... Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein gemeiner Mensch; aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken, nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag, ob mit einem ebensolchen Schurken, wie er, oder mit einem so überaus edeldenkenden Menschen, wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das wird ein Triumph der Tugend sein! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit leisen Schritten ... mit leisen Schritten und ... gemeinsam.«

Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Der Idiot. Die großen Romane, Bände 3–5, Frankfurt am Main 1981, Band 5, S. 92-115.
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