VIII.

[334] Vor allen Dingen muß ich erwähnen, daß in den letzten zwei, drei Minuten sich Lisaweta Nikolajewnas eine neue Unruhe bemächtigt hatte; sie flüsterte schnell mit ihrer Mama und mit Mawriki Nikolajewitsch, der sich zu ihr herabbeugte. Ihr Gesicht war erregt, drückte aber gleichzeitig eine große Entschlossenheit aus. Endlich stand sie von ihrem Platze auf; sie hatte es offenbar eilig, fortzufahren, und trieb auch ihre Mama zur Eile an, welcher Mawriki Nikolajewitsch beim Aufstehen aus dem Lehnstuhl behilflich war. Aber es war ihnen nicht beschieden, wegzufahren, ehe sie nicht alles bis zu Ende gesehen hatten.

Schatow, der, von allen vollständig vergessen, in seiner Ecke nicht weit von Lisaweta Nikolajewna saß und anscheinend selbst nicht wußte, warum er dasaß und nicht lieber fortging, stand plötzlich vom Stuhle auf, ging, ohne Eile, aber mit festem Schritte, durch das ganze Zimmer, zu Nikolai Wsewolodowitsch hin und sah ihm gerade ins Gesicht. Dieser hatte schon von weitem seine Annäherung wahrgenommen und ganz leise gelächelt; aber als Schatow dicht vor ihn hintrat, hörte er mit dem Lächeln auf.

Als Schatow schweigend vor ihm stehen blieb, ohne ein Auge von ihm abzuwenden, bemerkten dies plötzlich alle Anwesenden und verstummten, zuletzt von allen Peter Stepanowitsch; Lisa und ihre Mama blieben mitten im Zimmer stehen. So vergingen etwa fünf Sekunden; der Ausdruck dreister Verwunderung auf Nikolai Wsewolodowitschs Gesichte ging in den Ausdruck des Zornes über; er zog die Augenbrauen finster zusammen, und plötzlich ...

Und plötzlich holte Schatow mit seinem langen, schweren Arme aus und schlug ihn aus aller Kraft auf die Backe.[334] Nikolai Wsewolodowitsch taumelte stark auf der Stelle, wo er stand.

Schatow hatte aber auch auf eine besondere Weise geschlagen, ganz und gar nicht so, wie man nach herkömmlichem Brauche Ohrfeigen zu geben pflegt, wenn man sich so ausdrücken kann, nicht mit der flachen Hand, sondern mit der ganzen Faust, und seine Faust war groß, schwer, knochig, mit rötlichem Flaum bewachsen und mit Sommersprossen bedeckt. Wäre der Schlag auf die Nase gegangen, so hätte er die Nase zerschmettert. Aber er ging auf die Backe und traf den linken Mundwinkel und die Oberzähne, von wo denn auch sofort Blut floß.

Ich glaube, es erscholl ein momentaner Aufschrei; vielleicht hatte ihn Warwara Petrowna ausgestoßen; ich erinnere mich nicht daran, weil alle sogleich wieder starr standen. Übrigens dauerte die ganze Szene nicht länger als ungefähr zehn Sekunden.

Nichtsdestoweniger ereignete sich in diesen zehn Sekunden außerordentlich viel.

Ich erinnere den Leser wieder daran, daß Nikolai Wsewolodowitsch zu denjenigen Naturen gehörte, die keine Furcht kennen. Beim Duell konnte er vor der Pistole des Gegners kaltblütig dastehen, selbst zielen und mit einer tierisch zu nennenden Ruhe töten. Hätte ihn jemand auf die Backe geschlagen, so würde er, wie ich glaube, den Beleidiger nicht zum Duell gefordert, sondern gleich auf dem Fleck getötet haben; gerade das lag in seinem Wesen, und er würde ihn mit vollem Bewußtsein und keineswegs in sinnloser Erregung getötet haben. Es scheint mir sogar, daß er auch jene Zornesausbrüche nicht kannte, die den Menschen blind machen und der Überlegung berauben.[335] Bei dem grenzenlosen Ingrimm, der sich seiner manchmal bemächtigte, vermochte er doch immer vollständige Selbstbeherrschung zu bewahren und somit auch es sich gegenwärtig zu erhalten, daß er für einen nicht im Duell begangenen Totschlag unfehlbar zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt werden würde; aber trotzdem hätte er den Beleidiger totgeschlagen, und zwar ohne im geringsten zu zaudern.

Ich habe Nikolai Wsewolodowitsch in der ganzen letzten Zeit genau studiert und weiß infolge besonderer Umstände jetzt, wo ich dies schreibe, sehr viele Tatsachen über ihn. Ich möchte ihn mit einigen Herren aus dem vergangenen Zeitalter vergleichen, an welche sich bei uns noch jetzt gewisse legendenhafte Erinnerungen erhalten haben. Man erzählte zum Beispiel von dem Dekabristen1 L***n, er habe sein ganzes Leben lang die Gefahr absichtlich aufgesucht, sich an dem Gefühl der Gefahr berauscht und dieses Gefühl zu einem Bedürfnis seiner Natur gemacht; in seiner Jugend habe er sich oft ohne jeden Grund duelliert; in Sibirien sei er, nur mit einem Messer bewaffnet, auf den Bären losgegangen; er sei in den sibirischen Wäldern gern mit entlaufenen Sträflingen zusammengetroffen, die, nebenbei bemerkt, noch furchtbarer sind als der Bär. Unzweifelhaft waren diese legendenhaften Herren fähig, das Gefühl der Furcht zu empfinden, vielleicht sogar in hohem Grade; sonst wären sie weit ruhiger gewesen und hätten nicht das Gefühl der Gefahr zu einem Bedürfnisse ihrer Natur gemacht. Aber die in ihnen steckende Feigheit zu überwinden, das war es, was sie reizte. Die ununterbrochene[336] Siegestrunkenheit und das Bewußtsein, keinen Stärkeren über sich zu haben, das hatte für sie eine große Anziehungkraft. Dieser L***n hatte schon vor seiner Verschickung eine Zeitlang mit dem Hunger gekämpft und sich sein Brot durch schwere Arbeit erworben, einzig und allein weil er sich den Forderungen seines reichen Vaters nicht fügen wollte, die er für ungerecht hielt. Also verstand er sich auf vielen Gebieten darauf, zu kämpfen und zu ringen; nicht nur dem Bären gegenüber und nicht nur in Duellen legte er Wert darauf, Festigkeit und Charakterstärke zu beweisen.

Aber seitdem sind viele Jahre vergangen, und bei der nervösen, abgequälten und zerspaltenen Natur der Menschen unserer Zeit kann jetzt überhaupt kein Bedürfnis nach jenen starken, vollen Empfindungen aufkommen, nach denen damals manche von ruhiger Tätigkeit nicht befriedigte Herren der guten alten Zeit so begierig waren. Nikolai Wsewolodowitsch hätte auf einen L***n vielleicht von oben herabgesehen und ihn wohl gar einen stets tapfer tuenden Feigling, ein Hähnchen genannt; allerdings würde er das nicht laut ausgesprochen haben. Er würde im Duell auf den Gegner geschossen haben und einem Bären entgegengetreten sein, wenn es nötig gewesen wäre, und im Walde sich eines Räubers erwehrt haben, alles ebenso erfolgreich und ebenso furchtlos wie L***n, aber ohne jede Lustempfindung, sondern lediglich infolge der unangenehmen Notwendigkeit, matt, träge, sogar gelangweilt. Was Bosheit anlangte, war er natürlich einem L***n und sogar einem Lermontow weit überlegen. Bosheit besaß Nikolai Wsewolodowitsch vielleicht mehr als diese beiden zusammen; aber diese Bosheit war eine kalte, ruhige und, wenn[337] man sich so ausdrücken kann, eine vernünftige, also die abscheulichste und furchtbarste, die es nur geben kann. Ich wiederhole noch einmal: ich hielt ihn damals und halte ihn noch jetzt (wo alles schon zu Ende ist) entschieden für einen Menschen, der, wenn er einen Schlag ins Gesicht oder eine ähnliche Beleidigung von gleicher Stärke empfangen hätte, seinen Gegner unverzüglich totgeschlagen haben würde, sofort, auf der Stelle und ohne Herausforderung zum Duell.

Und doch geschah im vorliegenden Falle etwas ganz Anderes, etwas Seltsames.

Kaum hatte er sich wieder geradegerichtet, nachdem er sich infolge der erhaltenen Ohrfeige so schmählich beinah bis zur halben Höhe seines Wuchses zur Seite gebeugt hatte, und noch war, wie es mir vorkam, im Zimmer der gemeine und gewissermaßen feuchte Klang von dem Faustschlage ins Gesicht nicht verhallt, als er sofort Schatow mit beiden Händen an den Schultern faßte; aber unmittelbar darauf, fast in demselben Augenblicke, zog er auch seine beiden Arme wieder zurück und verschränkte sie hinter seinem Rücken. Er schwieg, blickte Schatow an und wurde bleich wie Leinwand. Aber sonderbar: sein Blick war wie erloschen. Nach zehn Sekunden blickten seine Augen kalt und (ich bin überzeugt, daß ich nicht die Unwahrheit rede) ruhig. Er war nur furchtbar blaß. Natürlich weiß ich nicht, was in seinem Innern vorging; ich sah nur die Außenseite. Mir scheint, wenn es jemanden gäbe, der zum Beispiel eine rotglühende Eisenstange ergriffe und mit der Hand festhielte, um seine Standhaftigkeit zu erproben, und dann zehn Sekunden lang den entsetzlichen Schmerz zu überwinden suchte und ihn schließlich wirklich[338] überwände, dann würde, glaube ich, dieser Mensch eine ähnliche Empfindung haben wie jetzt Nikolai Wsewolodowitsch in diesen zehn Sekunden.

Der erste von den beiden, der die Augen niederschlug, war Schatow, und offenbar, weil er sich gezwungen sah, sie niederzuschlagen. Dann drehte er sich langsam um und ging aus dem Zimmer, aber keineswegs mehr mit demselben Gange, mit dem er soeben an seinen Gegner herangetreten war. Er ging leise fort, zog in einer eigentümlich unbeholfenen Weise die Schultern von hinten in die Höhe, ließ den Kopf herunterhängen und schien etwas bei sich zu überlegen. Mir war, als ob er etwas vor sich hin flüsterte. Er ging vorsichtig bis an die Tür, ohne an etwas anzustoßen oder etwas umzuwerfen, und öffnete die Tür nur ein wenig, so daß er sich durch die Öffnung beinahe seitwärts hindurchschob. Während er hindurchschlüpfte, war der auf seinem Hinterkopfe aufragende Haarbüschel besonders auffällig.

Dann erscholl, noch vor allen anderen Ausrufen, ein furchtbarer Schrei. Ich sah, wie Lisaweta Nikolajewna ihre Mama an der Schulter und Mawriki Nikolajewitsch bei der Hand faßte und zwei-, dreimal den Versuch machte, sie hinter sich her aus dem Zimmer zu ziehen, plötzlich aber aufschrie und der Länge lang ohnmächtig zu Boden stürzte. Bis heute noch ist es mir, als hörte ich, wie sie mit dem Hinterkopfe auf den Teppich aufschlug.

Fußnoten

1 Ein Teilnehmer an der Verschwörung im Jahre 1825.

Anmerkung des Übersetzers.
[339]


Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Die Teufel. Leipzig [1920], Band 1, S. 334-340.
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