IV.

[262] Peter Stepanowitsch war vielleicht kein dummer Mensch; aber der Sträfling Fedka hatte mit Recht von ihm gesagt, er mache sich in seinem Kopfe von einem Menschen eine bestimmte Vorstellung zurecht und behandle ihn dann dauernd auf Grund dieser Vorstellung. Als er von Lembke fortging, war er fest davon überzeugt, daß er diesen wenigstens für sechs Tage beruhigt habe; diese Frist aber brauchte er höchst notwendig. Aber seine Annahme war irrig, und seine ganze Spekulation beruhte nur darauf, daß er sich Andrei Antonowitsch gleich von Anfang an und ein für alle Mal als einen ganz beschränkten Menschen vorgestellt hatte.

Wie jeder zu seiner eigenen Qual argwöhnische Mensch war Andrei Antonowitsch jedesmal, wenn er aus einem Zustande der Ungewißheit herauskam, im ersten Augenblick sehr fröhlich und vertrauensvoll. Die neue Wendung der Dinge erschien ihm zunächst in ziemlich erfreulichem Lichte, obwohl sich schon wieder einige sorgenvolle Komplikationen bemerklich machten. Aber wenigstens waren die alten Zweifel erledigt. Überdies war er nach den letzten Tagen so müde und fühlte sich so zermartert[262] und hilflos, daß seine Seele unwillkürlich nach Ruhe dürstete. Aber leider war er doch schon wieder unruhig. Das lange Leben in Petersburg hatte in seiner Seele unverwischbare Spuren zurückgelassen. Die offizielle und sogar die geheime Geschichte der »neuen Generation« war ihm hinreichend bekannt (er war ein wißbegieriger Mensch und hatte Proklamationen gesammelt); aber begriffen hatte er von dieser Geschichte niemals auch nur das geringste. Jetzt aber hatte er eine Empfindung, wie wenn er sich in einem Walde verirrt hätte: er spürte instinktiv, daß in Peter Stepanowitschs Worten etwas lag, was mit allen Formen und Gebräuchen unvereinbar war; »freilich, weiß der Teufel, was bei dieser ›neuen Generation‹ alles geschehen kann, und weiß der Teufel, wie es bei ihnen zugeht,« meinte er im stillen, sich in Gedanken verlierend.

Aber gerade in diesem Augenblicke steckte Blümer wieder den Kopf zu ihm herein. Während der ganzen Zeit, wo Peter Stepanowitsch da gewesen war, hatte er in der Nähe gewartet. Dieser Blümer war sogar ein entfernter Verwandter Andrei Antonowitschs; aber diese Verwandtschaft war bisher stets sorgsam und ängstlich geheimgehalten worden. Ich bitte den Leser um Verzeihung, wenn ich dieser unbedeutenden Persönlichkeit hier wenigstens ein paar Worte widme. Blümer gehörte zu der sonderbaren Gattung der »unglücklichen« Deutschen, nicht wegen seines völligen Mangels an Begabung, sondern aus unbekannter Ursache. Die »unglücklichen« Deutschen sind kein Mythus, sondern sie existieren tatsächlich, sogar in Rußland, und haben ihren besondern Typus. Andrei Antonowitsch hegte das ganze Leben über das rührendste Mitleid mit ihm und brachte ihn überall, wo er nur konnte,[263] je nach seinen eigenen Erfolgen in der amtlichen Laufbahn, unter, in einer untergeordneten, von ihm abhängigen Stelle; aber dem wollte es nirgends glücken. Bald wurde die Stelle eingezogen, bald wechselte der Vorgesetzte, bald wurde er beinahe mit anderen vor Gericht gezogen. Er war im Amte sorgfältig, aber sozusagen übermäßig, ohne Not, und mürrisch, wovon er selbst den Schaden hatte; dazu rothaarig, hochgewachsen, von gebückter Haltung, trübsinnig, sogar sentimental, aber bei all seiner Demut hartnäckig und eigensinnig wie ein Bulle, wiewohl immer am falschen Fleck. Seinem Gönner Andrei Antonowitsch bewies er mitsamt seiner Frau und seinen zahlreichen Kindern eine vieljährige, ehrerbietige Anhänglichkeit. Außer Andrei Antonowitsch hatte ihn nie jemand gern gehabt. Julija Michailowna hatte ihn gleich von vornherein für minderwertig erklärt, hatte aber die Hartnäckigkeit ihres Gemahls nicht überwinden können. Dies war ihr erster ehelicher Streit gewesen; er trug sich gleich nach der Hochzeit zu Beginn der Flitterwochen zu, als der bis dahin sorgsam vor ihr verborgen gehaltene Blümer ihr plötzlich vor die Augen trat und sie das beleidigende Geheimnis erfuhr, daß er mit ihr verwandt sei. Andrei Antonowitsch flehte sie mit gefalteten Händen an und erzählte ihr mit rührenden Worten Blümers ganze Geschichte, und wie sie von ihrer Kindheit an Freunde gewesen wären; aber Julija Michailowna hielt sich für lebenslänglich entehrt und brachte sogar eine Ohnmacht zur Anwendung. Aber Herr v. Lembke gab ihr auch nicht einen Zollbreit nach und erklärte, er werde Blümer um keinen Preis aufgeben und aus seiner Nähe entfernen, so daß sie endlich in Staunen geriet und sich genötigt sah,[264] Blümer zu dulden. Indes beschloß man, die Verwandtschaft noch sorgfältiger als bisher, wenn das überhaupt möglich war, zu verheimlichen und sogar Blümers Namen zu ändern; denn dieser hieß ebenfalls Andrei Antonowitsch. Blümer verkehrte bei uns mit niemand als mit einem deutschen Apotheker, hatte niemandem einen Besuch gemacht und lebte nach seiner Gewohnheit geizig und zurückgezogen. Andrei Antonowitschs schriftstellerische Sünden waren ihm schon längst bekannt. Er wurde vorzugsweise dazu berufen, seinen Roman bei geheimen Vorlesungen unter vier Augen anzuhören, und saß dann oft sechs Stunden hintereinander wie ein Pfahl da; er schwitzte und strengte alle seine Kraft an, um nicht einzuschlafen, sondern zu lächeln; wenn er nachher nach Hause kam, stöhnte er mit seiner langbeinigen, hageren Frau über die unglückliche Schwäche, die dieser Wohltäter der Familie für die russische Literatur besaß.

Andrei Antonowitsch blickte den eintretenden Blümer mit einem leidvollen Ausdruck an.

»Ich bitte dich, Blümer, mich in Ruhe zu lassen,« begann er hastig und in Erregung, mit dem offensichtlichen Wunsche, eine Erneuerung des Gespräches von vorhin, das durch Peter Stepanowitschs Ankunft unterbrochen war, zu vermeiden.

»Aber das läßt sich doch auf die taktvollste Weise, ganz im stillen machen; Sie besitzen ja alle erforderlichen Vollmachten,« sagte Blümer, der respektvoll, aber hartnäckig auf etwas bestand und den Rücken krümmend mit kleinen Schritten immer näher an Andrei Antonowitsch herankam.[265]

»Blümer, du bist mir dermaßen ergeben und gehorsam, daß ich es jedesmal mit der Angst bekomme, sowie ich dich nur ansehe.«

»Sie machen immer witzige Bemerkungen und schlafen dann in der Freude über das, was Sie gesagt haben, ruhig ein; aber eben dadurch schaden Sie sich.«

»Blümer, ich bin soeben zu der Überzeugung gelangt, daß sich diese Sache ganz anders verhält, ganz anders.«

»Doch nicht etwa auf Grund der Reden dieses verlogenen, lasterhaften jungen Menschen, gegen den Sie selbst Verdacht hegen? Er hat Sie durch schmeichlerisches Lob Ihres schriftstellerischen Talentes eingewickelt.«

»Blümer, du verstehst nichts davon; dein Projekt ist eine Torheit, sage ich dir. Wir werden nichts finden; es wird sich ein gewaltiges Geschrei erheben, und dann ein Gelächter, und dann wird Julija Michailowna ...«

»Wir werden zweifellos alles finden, was wir suchen,« unterbrach ihn Blümer und trat, die rechte Hand auf das Herz legend, mit festem Schritte an ihn heran. »Wir werden plötzlich eine Haussuchung veranstalten, früh morgens, mit aller Rücksichtnahme auf die Person und unter genauer Beobachtung aller gesetzlich vorgeschriebenen Formen. Die jungen Leute, Ljamschin und Teljatnikow, versichern auf das bestimmteste, daß wir alles Gewünschte finden werden. Sie sind dort oft zu Besuch gewesen. Herrn Werchowenski ist hier niemand sonderlich zugetan. Die Generalin Stawrogina hat ihm ihre Wohltaten offenkundig entzogen, und jeder ehrenhafte Mensch, wenn es einen solchen in dieser argen Stadt gibt, ist überzeugt, daß sich dort von jeher die Quelle des Unglaubens und der sozialistischen Lehre versteckt hat. In seiner Wohnung[266] sind alle möglichen verbotenen Bücher vorhanden, Rylejews1 ›Träumereien‹, alle Schriften von Herzen ... Ich habe für alle Fälle ein leidlich vollständiges Verzeichnis.«

»Ach Gott, diese Bücher besitzt jeder; wie einfältig du bist, mein armer Blümer!«

»Auch viele Proklamationen hat er,« fuhr Blümer fort, ohne auf die Zwischenbemerkung zu hören. »Es wird uns dabei sicher gelingen, auf die Spur der Proklamationen zu kommen, die hier jetzt verbreitet werden. Dieser junge Werchowenski ist mir im höchsten Grade verdächtig.«

»Aber du verwechselst den Vater mit dem Sohne. Sie leben nicht in Eintracht; der Sohn macht sich über den Vater unverhohlen lustig.«

»Das ist nur eine Maske.«

»Blümer, du hast dir vorgenommen, mich zu Tode zu quälen! Bedenke nur, er ist doch eine hier am Orte angesehene Persönlichkeit. Er ist Professor gewesen; er ist ein bekannter Mann; er wird ein großes Geschrei erheben, und es werden sogleich die Spottreden durch die Stadt schwirren; na, und wir haben uns dann gründlich blamiert ... und bedenke nur, in welche Stellung dann Julija Michailowna gerät ...«

Blümer drang weiter vor ohne zu hören.

»Er ist nur Privatdozent gewesen, nicht Professor, und dem Range nach war er bei seinem Ausscheiden nur Kollegienassessor,« sagte er, indem er sich mit der Hand gegen die Brust schlug. »Dekorationen besitzt er keine; entlassen wurde er aus der dienstlichen Tätigkeit wegen Verdachtes regierungsfeindlicher Gesinnung. Er hat unter geheimer[267] Aufsicht gestanden und steht unzweifelhaft noch unter ihr. Und angesichts der jetzt hervortretenden Ordnungswidrigkeiten sind Sie ohne Zweifel zum Einschreiten verpflichtet. Sie aber lassen sich die Gelegenheit, sich auszuzeichnen, entgehen, wenn Sie gegen einen tatsächlich Schuldigen Nachsicht üben.«

»Julija Michailowna kommt! Mach, daß du hinauskommst, Blümer!« rief v. Lembke auf einmal, da er die Stimme seiner Gemahlin im anstoßenden Zimmer hörte.

Blümer fuhr zusammen, wollte sich aber noch nicht ergeben.

»Gestatten Sie, gestatten Sie,« sagte er, indem er noch näher herantrat und noch fester beide Hände gegen die Brust drückte.

»Mach, daß du hinauskommst!« rief Andrei Antonowitsch zähneknirschend. »Tu, was du willst ... ein andermal ... O mein Gott!«

Die Portiere wurde aufgehoben, und Julija Michailowna erschien. Bei Blümers Anblick blieb sie majestätisch stehen, musterte ihn mit einem hochmütigen, kränkenden Blicke, wie wenn schon allein die Anwesenheit dieses Menschen an diesem Orte für sie eine Beleidigung wäre. Blümer machte ihr schweigend und achtungsvoll eine tiefe Verbeugung und ging, sich vor Respekt zusammenkrümmend und die Arme ein wenig auseinanderbreitend, auf den Zehen zur Tür.

Ob er wirklich Andrei Antonowitschs letzten ungeduldigen Ausruf als eine direkte Erlaubnis auffaßte, so zu verfahren, wie er es vorgeschlagen hatte, oder ob er in diesem Falle, um seinem Wohltäter zu nützen, gegen sein Gewissen handelte, weil er gar zu fest davon überzeugt[268] war, daß das Ende das Werk krönen werde, das muß dahingestellt bleiben; aber, wie wir weiter unten sehen werden, aus diesem Gespräche des Vorgesetzten mit seinem Untergebenen ging ein höchst unerwartetes Begebnis hervor, das eine große Publizität erlangte, viele Leute zum Lachen brachte, Julija Michailownas heftigen Zorn erregte und durch all dies Andrei Antonowitsch vollständig in Verwirrung setzte und ihn gerade zur kritischsten Zeit in bedauerlichster Weise ratlos machte.

Fußnoten

1 Dichter; im Jahre 1826 als Verschwörer hingerichtet.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Die Teufel. Leipzig [1920], Band 2, S. 262-269.
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