Dritter Auftritt.

[184] Chor der Wände.


BEIDE CHÖRE.

Es verstummen die Menschen im thörichten Wahn, und so sind nun die Zeiten gekommen,

Da die Steine beredt, mit tönendem Mund, für die Wahrheit zeugen und sprechen.[184]

In der Erde stillem verborgenem Schooß, die frühsten Gebilde der Schöpfung,

Verband uns zuerst zu fester Gestalt der Urkraft schaffendes Walten,

Und gab in gewaltigster Fülle der Macht uns ein Leben, das der Veränd'rung

Jahrtausende schon in schweigender Ruh' und Größe trotzend gelächelt.

Wir sahen, wie sich die heutige Welt aus verschwundenen Welten gebildet,

Des Menschen Geburt, der Bevölkerung Gang, und das Wachsen, und Blühen, und Sterben,

Und Wiederverwachsen der Staaten aus Blut, und zerfallendem Moder der frühern;

So vertrauet uns denn, und gläubigen Ohr's vernehmt uns're Worte,

Vieljährigen Alters gesammelten Schatz, die Frucht der gereiften Erfahrung. –


Strophe.


Vielen Gefahren erliegt der Mensch,

Der Sohn des Staubes, der Erbe der Schwachheit;

Doch es naht am Verderblichsten immer dem Armen

Die stille Gewohnheit.

Schleichend siegt sie, mit leisem Schritt, unmerklich betäubend,

Bleiern herrscht sie mit starrer Macht, und drücket gewaltsam

Nieder, was Menschen zu Menschen macht, die Gedanken.

Faulen Tod in's quellende Leben trägt sie,

Hüllt in Nebeldüster das Licht des Geistes,

Fluch der Tyrannin!


Gegenstrophe.


Ruhiges Dulden erweicht den Haß,

Besiegtem Gegner verzeiht die Rache,

Doch es quält den Bezwung'nen mit härterem Joche

Die zähe Gewohnheit.

Emsiges Feilen erlöst den Mann aus eisernen Ketten,

Viele Tropfen zerstören den Fels, ihn langsam vernichtend,

Doch der Gewohnheit Netz ist nicht zu zerreißen,[185]

Durch den Sitz des innersten Lebens schlägt sie

Zahllos Fäden, jede Bewegung hemmend,

Immer sich stärkend.

BEIDE CHÖRE.

Immer sich stärkend. –


Quelle:
Der deutsche Michel, Revolutionskomödien der Achtundvierziger. Stuttgart 1971, S. 184-186.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Wände
Die Wände