In einem geräumigen Zimmer, dessen Einrichtung so einfach war, dass sie beinahe an Armut grenzte, sassen zwei junge Mädchen in tiefer Trauerkleidung und ein Mann, der die Höhe der Sechzig erreicht haben mochte, um einen runden, mit einer blau und rot gewürfelten Decke bedeckten Tisch.
Von draussen schlug in kurzen Absätzen ein stössiger Nordost gegen die Fensterscheiben.
Am Himmel zogen graue, schwere Wolken einher und verdunkelten auf Augenblicke das kahle, unfreundliche Gemach. Man konnte dann nur noch die bleichen Gesichter der beiden Mädchen und die auf dem Fussboden verstreuten Blütenblätter von weissen Astern und hellfarbigen Rosen deutlich unterscheiden. Ein widerlicher Geruch von Karbol, Räucheressenzen, Cichorienkaffee und toten Blumen durchzog den Raum.
Eine zeitlang war es ganz still zwischen den Dreien. Nur ab und zu klirrte ein Kaffeelöffel gegen eine der Tassen auf dem Tisch, vornehmlich von dem breiten geblümten Sofa her, auf dem in gebückter Haltung der Mann – eine starkknochige, breitschultrige Gestalt – sass. Als er jetzt mit der Hand ungeschickt gegen die dickbauchige Kaffeekanne stiess und beinahe den ganzen starkduftenden Trank verschüttet hätte, rief er ungeduldig die beiden ihm gegenübersitzenden Mädchen an.
»Bring' doch endlich eine von Euch Licht, man sieht ja nicht die Hand vor Augen mehr.«
Die schlankere und schmächtigere der beiden Mädchen war sofort aufgesprungen und kam nach einigen Augenblicken mit einer brennenden Lampe wieder, die sie in der einen Hand trug, während die andere sich schützend über die rotverweinten Augen legte. Auch die im Zimmer verbliebene Schwester beschattete ihr Gesicht vorerst gegen den grell einfallenden Lichtschein.
Nachdem das Mädchen die Lampe auf das rotgewürfelte Tischtuch gestellt hatte, schloss sie sorgfältig die Fensterladen, durch deren herzförmige Ausschnitte jetzt kaum noch ein fahler Tagesschein drang, so schnell hatte die Dunkelheit[5] zugenommen. Auch der Wind war stärker geworden. Heulend pfiff er gegen die Hauswand und wieder zurück, als ob er sich erbose, da einen Widerstand zu finden.
Als das junge schmächtige Mädchen mit ihrer Verrichtung am Fenster fertig war und sich dem Tische wieder zuwandte, standen ihr die Thränen in den Augen.
»Welch' eine Nacht für Mutter da draussen,« stiess sie halblaut, selbst wie vom Frost geschüttelt, hervor.
Die jüngere Schwester, kleiner und rundlicher wie sie, drückte ihr die Hand. Auch in ihren Augen standen Thränen.
»Grässlich, Lotte, solch' eine erste Nacht auf dem Kirchhof.«
Der Mann auf dem Sofa überhörte absichtlich die halblaute, ruckweise geführte Unterhaltung zwischen seinen Töchtern. Er rührte in seiner Kaffeetasse und warf dabei einen halben, verlangenden Blick auf den Pfeifenständer an der Wand, sich gegenüber.
Nee, nee, das würd' ja wohl doch nichts werden. So an Mutters Begräbnistag ging das nicht wohl an. – Mit einem langen Zuge leerte er den Kaffeerest aus seiner grossen Tasse, schob mit dem Rücken der Hand Brodkrumen und Gerätschaften bei Seite und sah dann mit einem halb mitleidigen, halb genierten Blick zu seinen beiden stumm dasitzenden Töchtern hinüber.
»Ihr wolltet ja was mit mir bereden, Kinder. Na, denn man los und lasst die Köpfe nicht so miesepetrig hängen, wie ein paar kranke Gäule. Mutter war doch nu mal nicht zu helfen. Ein Wunder, dass wir sie so lange behalten haben. Nu hilft's mal nichts, nu müssen wir eben ohne sie fertig zu werden suchen. Was wollt Ihr also?«
Lotte, die ältere und schlankere von beiden, hatte ihr Taschentuch hervorgezogen und schluchzte, keines Wortes mächtig, leise hinein. Die andere, Lena, versuchte ihre Schwester zu trösten. Als sie sah, dass ihre Bemühungen nicht den geringsten Erfolg hatten, wandte sie sich zu ihrem Vater hinüber.
»Wir wollten mit Dir darüber sprechen, Vater, dass Lotte und ich, wo wir nun hier nicht mehr nötig sind, unseren alten Plan wieder aufnehmen und nach Berlin ziehen wollen. Onkel Karl ist ja soweit auch ganz dafür, und er meinte, Dir würd's auch recht sein, wenn wir uns nun endlich selbstständig machten. Es sei doch auch mehr als notwendig, und hier in dem Nest nichts für uns zu holen.«
»Hm. Und wie dachtet Ihr Euch das? Du wirst Dir das ja doch wohl mit Onkel Karl schon alles gründlich ausklabautert haben, Lena?«[6]
»Ja, Onkel meinte – er wird ja auch noch selbst mit Dir reden – das beste wäre, wir gingen so schnell als möglich, damit hier nicht erst noch viel draufgeht. Es ist ja jetzt bald Ende September. Die Wohnung wirst Du vielleicht noch zum 1. Oktober los, und wir haben gerade jetzt zum Quartal doch die beste Chance für Berlin.«
»Das klingt ja alles sehr schön, aber was denkt Ihr, was aus mir werden soll, hm?«
»Du hast ja doch Deine Gnadenpension, Vater – und wenn Du uns los bist, dann kostet Dich doch das Leben nicht mehr viel. Wenn wir erst verdienen, schicken wir Dir ja auch gern dazu, Vater, und so ein einzelnes Zimmer, vielleicht bei Karsten in der Färbergasse, wo Du immer so gern im Garten sitzest, das kann ja doch auch die Welt nicht kosten.«
»Na, das ist doch wenigstens nett von Dir, Lena, dass Du bei diesem ganzen Plan auch ein bischen an Deinen alten Vater gedacht hast. Wahrhaftig, das freut mich. Geh', hol' mir einen Korn aus dem Schrank. Ich muss 'n Schluck für den Magen haben. Ganz schwubbrig ist mir geworden bei dem Gedanken, dass ich nun hier allein sollte sitzen bleiben in den kahlen vier Wänden, – aber bei Karsten, dass ist nicht übel – danke – kannst mir gleich noch einen geben, Lena. War das heut' ein Tag! – Karsten ist ein honoriger Mensch, und wird mich gut halten gegen eine kleine Vergütung, und dann, wenn Ihr erst verdient – – Und was meinst Du, Lena, wenn ich mal zum Herrn Oberamtmann nach Klockow rausführe? Vielleicht legt er noch 'ne Kleinigkeit drauf, wenn ich ihm sage, dass ich nun ganz allein stehe auf der Welt, und die Alte tot, und meine Mädchen mich verlassen haben – schenk' mir noch einen ein, Lena – am Ende bin ich doch im Oberamtmann seinem Dienst invalide geworden.«
»Ja, das thu' Du man, Vater, thu' Du man was für Dich,« warf jetzt Lotte mit thränenverschleierter Stimme ein. »Der Herr Oberamtmann ist ein guter Mensch!«
»Das wäre nun ich, wenigstens so ungefähr, und nu kommt Ihr d'ran. Wie habt Ihr Euch das mit Berlin denn gedacht?«
»Ich geh' doch zur Telephonie, Vater. Das weisst Du ja längst.«
»Ist denn die Wartezeit schon um, Lena?«
»Noch nicht, aber in ein paar Wochen, derweile helfe ich Lotte sich etablieren.«
»Lotte sich etablieren?!«
Nur mit Mühe verhielt der Alte ein lautes Lachen. Um es herunterzuwürgen, schenkte er sich den vierten Korn ein.[7]
»Als was will sich Lotte denn etablieren?«
»Sie will weiter Putz machen, Vater; hat doch hier schon ganz nett verdient, unsere Lotte,« warf Lena ein und zog die ältere Schwester protegierend an sich.
»Zum Etablieren gehört aber doch vor allen Dingen Geld und nochmal Geld,« und der Alte sah seine Töchter mit einer Art melancholisch-humoristischem Zwinkern von der Seite an.
Lotte wurde über und über rot.
»Ich denke, Vater – Lena meint – Onkel Karl sagt –«
»Unser mütterliches Erbteil müsstest Du uns natürlich auszahlen, Vater. So steht's im Testament, und so ist's auch in der Ordnung«, platzte Lena heraus.
Der Alte schlug auf den Tisch, dass Flasche, Glas und Tassen zusammenklirrten.
»I sieh mal einer an, wie klug die Mädchen heutzutage sind. Ja freilich, wenn's im Testament steht –«
Und wieder zwinkerte er mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu ihnen hinüber.
»So, und nun weisst Du, Vater, wie wir's meinen, und nun kannst Du ja überlegen, ob Dir's so recht ist.«
Und dabei stand Lena auf und zog ihre Schwester mit in die Höhe.
»Komm Lotte, Du musst jetzt ein bischen ausruh'n.« Die Mädchen waren noch nicht bis zur Thür gelangt, als vom Flur her die Klingel anschlug.
»Wer kann denn da noch kommen? heut' am Begräbnistage, und so spät –«
Lena ging schnell hinaus, um zu öffnen, und kehrte in Begleitung eines jungen Mannes zurück, der in verlegener Haltung eintrat.
Der Alte auf dem Sofa hatte sich schwerfällig nach der Thür umgewandt. Als er den jungen Mann bemerkte, legte sich ein breites, gemütliches Lächeln über sein Gesicht.
»Franz! So, so! Na, das ist ja 'mal nett, mein Jung', dass Du Dich noch ein bischen seh'n lässt, an so'n schlimmen Tag. Na setz' Dich man. Trinkst 'n Korn mit, Franz?«
Der junge Mann, eine hübsche, kräftige Erscheinung, blickte unschlüssig von den beiden Mädchen zu dem Alten auf dem Sofa zurück.
Lotte hatte sich abgewandt, aber Lena nickte ihm ermutigend zu.
»Ich will nicht lange aufhalten, Herr Inspektor. Ich wollte nur fragen, ob der Herr Inspektor oder die jungen Damen etwas für mich hätten. In solchen Zeiten – Aber am Ende störe ich doch nur –«[8]
»Na zum Kuckuck, Mädchen, könnt Ihr denn den Mund. nicht aufthun und Franz Krieger zum Bleiben nötigen? Thut ja gerade, als ob uns ein wildfremder Mensch ins Haus gefallen wäre.«
Jetzt trat Lena auf den jungen Mann zu.
»Das versteht sich doch von selbst, dass Du hier bleibst, Franz, wenn Du magst.«
Franz Krieger sah mit einem fragenden Blick zu Lotte hinüber. Die aber stand in so müder, niedergeschlagener Haltung da, dass Franz sich mit einem leisen Seufzer zu Lena zurückwandte.
»Na, wenn's recht ist, bleibe ich auf ein Stündchen.« Der Inspektor schob ihm die Kornflasche zu.
»Ein Glas, Lena. Allemal der Bienvenu, mein lieber Franz –. Ihr braucht Euch nicht zu genieren, Mädels – wenn Lotte ausruhen will –«
Die Mädchen gingen mit einem kurzen Kopfnicken zur Thür hinaus. Franz sah ihnen nach und sprach eine ganze Weile gar nichts. Dann schenkte er das vor ihm stehende Glas voll, blickte hinein und sagte: »Ja, ja. Die Frau Inspektor, das war 'ne Frau. Die armen Mädchen haben viel verloren.«
Der Alte trommelte erst eine ganze Weile auf den Tisch, ehe er sich entschloss, eine Antwort zu geben.
»Hm, ja – besonders die Lotte wird's schwer haben. Sie ist Mutters Ebenbild. Auch so 'ne weiche, anschmiegsame[9] Natur, die gleich die Flügel hängen lässt. Lena wird eher d'rüber wegkommen. Die lässt sich so leicht nicht unterkriegen oder die Butter vom Brod nehmen. Na, was sagst Du denn dazu, Franz, dass die beiden nach Berlin wollen?«
Dem Angeredeten schoss das Blut ins Gesicht. Er brauchte eine ganze Weile, bevor er antworten konnte.
»Also soll es wirklich Ernst werden? Sie dürfen das nicht leiden, Herr Inspektor.«
»Leiden? Papperlapapp. Wenn der Knüppel beim Hund liegt.«
»Ist es so lange gegangen, Herr Inspektor, na, dann wird's ja wohl auch noch ein Weilchen weiter geh'n. Und zwei so hübsche Mädchen wie Lotte und Lena –«
Der Inspektor lachte laut auf. Dann brummte er etwas in seinen martialischen Schnauzbart, das wohl eine Art Reuebekenntnis für sein heute so überaus unpassendes Lachen bedeuten sollte.
»Du denkst wohl gar an 'n Mann, Franz? Arme Mädchen kriegen heutzutage nicht so leicht einen. Zu meiner Zeit war das was anderes. Als ich meine Luise nahm, hatte die keinen roten Dreier in der Tasche. Die 1500 Mark, die die Mädchen von ihr kriegen, hat sie sich in der Ehe zusammengespart mit ihrem privaten Gemüse- und Obsthandel, als wir noch draussen in Klockow waren. Die hat sie ja denn auch trotz Krankheit und Not bis zum Letzten festgehalten. Aber heute – pfui Deibel – nee –« und der Inspektor spuckte in weitem Bogen auf die Diele.
Franz Krieger rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her. Er schien im Begriff, eine von der Behauptung des Inspektors weit abweichende Bemerkung zu machen, als der Alte das Wort schon wieder beim Wickel hatte und mit einem gehörigen Sprunge auf eine früher gefallene Bemerkung zurückkam.
»Und was Du da von so lange gegangen sein sagst, das stimmt auch nicht, mein Jung'. Es ist eben gar nicht gegangen. So lange Mutter lebte, – und du lieber Gott, wie hat der arme Wurm die letzten Jahre gelebt, – war kein Gedanke, dass die Mädchen aus dem Hause konnten. Das weisst Du ja selber, Franz. Alles wäre drunter und drüber, und meine Alte vor der Zeit daran kaput gegangen. Nu aber ist es höchste Zeit, dass der Hausstand hier aufgelöst wird und Jeder seine Wege geht. Ich hab' mich man blos ein bischen falsch gestellt, vorher, als die Mädchen davon anfingen. Im Grunde haben sie tausendmal recht, und froh will ich[10] sein, wenn ich den ganzen Krempel erst los bin und in Karsten seinem Garten in Frieden meine Pfeife rauchen kann –«
Und der Inspektor warf wiederum einen sehnsüchtigen Blick auf die metallbeschlagenen Pfeifenköpfe an der Wand, die von dem Reflexlicht der Lampe hell beleuchtet, verlockend zu ihm herüberglänzten.
Franz Krieger war während dieser endlosen Rede noch unruhiger als zuvor auf seinem Stuhle hin- und hergerückt.
Tausend Einwände hatte er auf dem Herzen. Würde der egoistische, eigensinnige alte Mann gewillt sein, auch nur einige davon ruhig anzuhören?
In seiner Unschlüssigkeit nahm Franz nun doch das so lang verschmähte Branntweinglas an die Lippen und trank es mit einem Zuge leer. Dann, nach einem tiefen Atemzuge fasste er sich ein Herz.
»Ihre Pfeife im Garten bei Karsten rauchen – das könnten Sie ja doch wohl auch, Herr Inspektor, ohne dass die jungen Mädchen dazu nach Berlin müssten, wenigstens – Lottchen nicht. Die hat doch hier mit ihrer Putzmacherei früher schon, als die Mutter noch besser war, ganz nett verdient – und – wenn der Hausstand hier durchaus aufgelöst werden soll – meine Mutter, Herr Inspektor, die würde Lottchen gleich zu sich nehmen –«
Der Alte sah ihn beinahe mitleidig an:
»Nee Franz, mein Jung', die Vorschläge, die lass Du man sein – damit wirst Du kein Glück haben – die Mädchen trennen sich nicht –. Und warum sollen sie denn nicht auch ihr Heil in Berlin versuchen, wie so viele andere –«
»Und dabei vielleicht zu Grunde gehen, wie so viele andere,« murmelte Krieger vor sich hin. Laut sagte er nur:
»Welche Garantien haben Sie denn, Herr Inspektor, dass es Ihren Töchtern glückt? Berlin ist ein heisser Boden und viel gehört dazu, sich da durchzubringen. Die Konkurrenz ist gross in jeder Branche, und die Gefahren nicht minder für junge alleinstehende Mädchen, die keinen, aber auch gar keinen Anhalt haben. Fortwährend fordert die Grossstadt ihre Opfer. Sollte es denn keine Mittel geben, Ihre Töchter davor zu bewahren, dass sie vielleicht auch, über kurz oder lang, zu diesen Opfern gehören?«
Der Inspektor hatte dem jungen Mann zuerst mit staunender Verwunderung zugehört. Zu einer so langen Rede hatte Franz Krieger sich nach des Alten Wissen noch niemals aufgeschwungen und zu einer, des Alten Meinung nach »so[11] höllschen gebildeten«, erst recht nicht. Dann aber war er ungeduldig geworden und schlug zuletzt heftig mit der Faust auf den Tisch.
»Kotz schock Krieger, was soll denn das bedeuten? Lass Du das Flaumachen sein, das rat' ich Dir! Die Lena ist ein ganzer Kerl, die wird die Lotte schon ins Schlepptau nehmen, und dann – was die Gefahr betrifft, na hör' mal Jung', das ist denn doch ein bischen starker Tobak. Meine Mädchen sind ordentlich und rechtschaffen erzogen und für solche Mädchen giebts keine Gefahr. Und nun aus und basta!«
Franz Krieger hatte sich erhoben und war im Begriff, sich zu verabschieden, als der Inspektor einlenkte.
»Nee, so wars nicht gemeint. Bleib Du man ruhig sitzen und erzähl' mir auch ein bischen was. Die Kinder werden ja nun wohl auch gleich zurückkommen, wenn Lotte wieder ein bischen bei Wege ist. Dann isst Du ein Butterbrod mit uns. Essen muss ja der Mensch am Ende auch an solchem Tag. Aber von der Berliner Geschichte fang Du mir nicht wieder an, das rat' ich Dir.«
Und dabei schlug der Alte seinem Gast auf die Schulter, dass es klatschte.
Wirklich kamen Lotte und Lena jetzt zurück, Lotte sehr blass, aber nicht mehr mit ganz so verschwollenen Augen. Sie setzte sich zwischen ihren Vater und ihre Schwester an den runden Tisch und blickte, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen, nur manchmal stumm und nachdenklich zu Krieger hinüber, der jetzt auf des Inspektors Aufforderung vom Geschäft zu erzählen begann.
»Na, wie's scheint, macht sich die Sache, mein Jung'.«
»Ueber Erwarten gut, Herr Inspektor.«
»Bist auch ein ordentlicher Mensch, Krieger.«
Der junge Mann antwortete nicht gleich, sondern sah zu Lotte hinüber, ob sie des Vaters Bemerkung mit Miene oder Blick bestätigen würde.
Als sie statt nach ihm, mit vollkommen abwesenden Blicken in irgend einen Winkel starrte, meinte er schüchtern:
»Das Verdienst daran ist nicht gross, Herr Inspektor. Essen und trinken müssen die Leute am Ende immer, wie Sie eben selbst behaupteten. Na, und dann ist gerade in Kolonialartikeln die Konkurrenz hier am Platz nicht gross. Wenn es sich so weiter macht, hoffe ich in zwei Jahren meiner Mutter das Kapital herauszahlen zu können, das sie mir zuliebe hineingesteckt hat. Dann bin ich die Schulden los und mein eigener Herr.«[12]
Wieder sah er nach Lotte hinüber und wieder ohne jeden Erfolg. Dagegen nickte Lena ihm freundlich zu, und der Inspektor schmunzelte und schlug ihm bedeutungsvoll abermals klatschend auf die Schulter.
Dann kam, wie zu erwarten gewesen, die Rede noch einmal auf Berlin. Jetzt wurde sogar Lotte gesprächig, und bald war es Franz Krieger völlig klar, dass er bei den beiden zunächst Beteiligten ebenso wenig gegen den Berliner Plan ausrichten würde, als es kurz zuvor bei dem Alten der Fall gewesen war.
Beide Mädchen waren völlig eingenommen von ihrem künftigen Beruf und dem neuen Leben, das sie sich zu schaffen im Begriff standen. So zartfühlend sie es auch vor dem Vater zu verbergen trachteten, Franz fühlte es doch heraus, dass ihnen der Boden unter den Füssen brannte und sie fort begehrten aus dem kleinen Nest und den engen Verhältnissen mit all' jener gebieterischen Energie, die nur erfahrungslose, blind hoffende Jugend giebt.
Er überzeugte sich in dieser Stunde davon, dass ihm nichts übrig blieb, als sich zu fügen.
Berlin lag nicht aus der Welt. In kaum vier Stunden war es zu erreichen. Er würde die beiden jungen Mädchen ja mit Gottes Hilfe nicht ganz aus den Augen verlieren. Auch die zwei Jahre, bis er als vollkommen selbständiger Mann dastand, würden vorübergehen und dann, ja dann würde vielleicht alles anders und besser werden.
Als es neun Uhr schlug, empfahl er sich mit einem fragenden besorgten Blick auf Lottchen. Sie war im Laufe des Abends immer bleicher, immer gedankenabwesender geworden. Aber es gelang ihm nicht, ihr ein gutes, tröstendes Wort zu sagen. Sie bemerkte es nicht einmal, wie sehr ihn danach verlangte.
Nachdem der Tisch abgeräumt worden, suchten auch die Schwestern und der Inspektor ihre Schlafkammern auf, und zum ersten Mal seit der Todeskrankheit der Mutter hörten die Mädchen den Stelzfuss des Vaters nicht noch stundenlang über die Diele stapfen. Eine grosse Beruhigung schien über ihn gekommen zu sein, seitdem die nächsten Zukunftspläne festgestellt worden waren.
Lena schlief ein, kaum dass sie unter die Decke geschlüpft war, Lotte hörte es noch zwölf schlagen, ehe sie in einen tiefen Schlaf verfiel. Ihr träumte, sie habe ein prachtvolles Hutgeschäft in Berlin etabliert. In langen Reihen lagen die Hüte aufgeschichtet da, nach der neuesten Mode reich mit bunten, vielfarbigen Blumen garniert. Als sie aber näher zusah, waren es die Kränze auf ihrer Mutter[13] frischem Grabe. Und am Kopfende des Grabes stand Franz Krieger in der Amtstracht des Pastor Schmidt. Gleich dem Pastor heute Morgen, hielt auch Franz die Hände über dem Grabe erhoben, aber nicht in segnender Bewegung, sondern beschwörend und warnend. –
Vierzehn Tage später war alles geordnet. Der bescheidene Hausrat war unter Aufsicht Onkel Karls verkauft worden, bis auf ein paar Möbelstücke, die der Inspektor bei Karsten eingestellt hatte und das kleine Eigentum der Mädchen, das nach Berlin voran geschickt worden war. Lotte und Lena hatten ihr mütterliches Erbteil ausgezahlt erhalten und ihr bischen Kleidung zusammengepackt. Bei den wenigen bekannten Familien – Lotte hatte dabei auch ihre Kundschaft nicht vergessen – waren Abschiedsbesuche gemacht worden, und während an einem der ersten Oktobertage der Inspektor, die Pfeife im Munde, sich gemütlich in Karstens Garten in der Sonne dehnte, froh, die »ganze Schererei« los zu sein, dampften Lotte und Lena, fröhlicher Zukunftshoffnungen voll, der neuen Heimat entgegen.
Onkel Karl war tags zuvor in entgegengesetzter Richtung in seine Heimat zurückgefahren. Nur seinen Nichten zuliebe hatte er es so lange in dem kleinen Nest und bei seinem schrulligen Schwager ausgehalten.
Lotte und Lena hatten nur eine einzige gute Bekannte in Berlin, Marie Weber, eine Schulfreundin Lenas. Sie wurde von Lena ausserordentlich bewundert, da sie schon seit einem Jahre als Telephonistin angestellt war.
Es traf sich sehr glücklich, dass Fräulein Weber bei Ankunft der Schwestern gerade dienstfrei war. Sie konnte die Landsmänninnen an der Bahn empfangen und gleich zu dem bescheidenen Hôtel garni führen, in dem sie selbst bei ihrer ersten Ankunft in Berlin abgestiegen war.
So weit es ihre Zeit erlaubte, stand sie auch sonst den Schwestern während der ersten Tage rührig zur Seite und veranlasste auch Lena dazu, sich unverzüglich noch einmal bei der Ober-Postdirektion zu melden.
Vor allem aber musste so schnell als möglich eine passende kleine Wohnung gefunden werden, damit Lotte keine Zeit verlor. Von rechtswegen, behauptete Fräulein Weber, hätte sie schon Anfang September ihr Geschäft eröffnen müssen, wollte sie auf einen Saisonerfolg rechnen. – Lotte aber liess sich durch diese Behauptung nicht einschüchtern. Mit rastlosem Fleiss gedachte sie das Versäumte nachzuholen, sobald sie nur erst ein Arbeitsstübchen hatte und über die Bezugsquellen genügend orientiert war.
Mit der Kundschaft, hoffte sie, würde sich's dann schon[14] machen. Hatte sie doch zu Haus, so lange es mit der Mutter noch leidlich gegangen war, einen ganz respektablen Kundenkreis gehabt. Zu ihrer grossen Genugthuung hatte Lotte auch hier das Handgeld sozusagen in der Tasche. Marie Weber hatte bereits einen Winterhut bei ihr bestellt.
Allerneueste Mode im Preise von zehn Mark. Wenn der Hut schön würde und sie recht gut kleidete, hatte die Telephonistin versprochen, unter ihren Kolleginnen für Lottes Hüte Propaganda zu machen.
Während Lottes schlichter Sinn sich nur auf das nächste Notwendige richtete, war Lena förmlich berauscht von Berlin, das sie bisher nur einmal flüchtig besucht hatte.
Ganz gegen ihre sonstige praktische Gewohnheit brachte sie ganze Tage nur im Anstaunen der Berliner Herrlichkeiten hin. Der in diesem jungen Geschöpf lebende und bisher kaum geweckte Schönheits- und Genusssinn kam in diesen ersten Berliner Tagen mit plötzlicher Gewalt zum Ausbruch.
Was konnte man in den wundervollen durchsonnten Herbsttagen auch besseres thun, als die märchenhaft schönen Auslagen hinter den grossen Spiegelscheiben der Magazine bewundern, den herrlichen Tiergarten durchstreifen, Denkmäler und private sowie öffentliche Prachtgebäude beschauen? Nein, so wundervoll hatte Lena sich Berlin denn doch nicht vorgestellt. Lotte war wirklich grenzenlos philiströs, dass sie an nichts weiter dachte, von nichts weiter sprach, als von Wohnungsuchen und Wohnungseinrichtung, von Einkäufen an Material und den besten und billigsten Bezugsquellen. Blieb Lotte wirklich einmal an einem Schaufenster stehen, so war es zweifellos das einer Modistin, von dem sie dann ihrerseits nicht loszureissen war.
Lottes inständige Bitten, ihre unantastbaren Beweisführungen, dass dies Leben nur Geld verschlinge, ohne die geringste Aussicht auf Einnahmen zu gewähren, vermochten Lena endlich dazu, mit dem Wohnungsuchen Ernst zu machen.
Die Wirtin des kleinen Hôtel garni, in das Marie Weber sie geführt hatte, war eine ordentliche Frau. Sie meinte es gut mit den hübschen, jungen, gänzlich erfahrungslosen Dingern und hatte ihnen geraten, sich an die Querstrassen der südlichen Friedrichstrasse zu halten. Dort würde eine kleine passende Hofwohnung im Preise von 3–400 Mark noch zu finden sein. Ueberdies sei die Gegend für die Zwecke von Fräulein Lottchen ausserordentlich günstig. Es wohne da in den grossen Mietskasernen eine Menge kleinen Publikums beisammen, das sie als Kunden heranziehen könne. Auf eine Konkurrenz mit Gerson und Bestellungen aus dem Tiergartenviertel[15] würde sie ja wohl doch nicht gleich rechnen können, hatte die Wirtsfrau lächelnd hinzugefügt und Lottchen dabei freundlich auf die Schultern geklopft.
So hatten die Schwestern, von Marie Weber des näheren unterwiesen, in der Krausen- und Schützenstrasse zu suchen begonnen, aber nichts eigentlich passendes oder wünschenswertes gefunden.
Lena war der Sache bald überdrüssig. Der Tag war sommerlich warm und sie schlug vor, in einer kleinen Konditorei in der Nähe Station zu machen und Eischokolade zu trinken. Lotte aber, für gewöhnlich die bei weitem nachgiebigere und minder energische von beiden, verstand in diesen Angelegenheiten nun einmal keinen Spass. Sie erklärte Lena ganz kategorisch, dass sie erstens seitdem sie in Berlin wären, täglich mindestens sechszig Pfennig zu viel verbraucht hätten, und zum zweiten, dass sie die Wohnung noch heute suchen, finden und auf eigene Hand mieten werde, wenn Lena noch einmal abschnappe.
Das half. Lena wollte sich denn doch das Heft nicht so ohne weiteres aus den Händen winden lassen. Auch war Lotte, trotzdem sie sich jetzt im ersten Ansturm mächtig zusammenraffte, im Grunde herzlich unpraktisch und würde vermutlich, auf sich selbst gestellt, eine grundfalsche Wahl treffen.
So suchten sie denn gemeinsam weiter, bis sie in der That noch an demselben Nachmittag nicht nur etwas Passendes, sondern auch etwas Hübsches gefunden hatten.
In der Zimmerstrasse, zwischen der Wilhelm- und Friedrichstrasse, waren sie, einem Mietszettel nachgehend, in eines der älteren Berliner Häuser geraten. Durch einen tiefen dunklen Thorweg kamen sie in einen überraschend freundlichen hellen Hof, um den sich die Hintergebäude im Viereck zogen. Keines über zwei niedere Stockwerke hoch, so dass der blassblaue Oktoberhimmel breit und hell hineinsehen konnte.
In einen Winkel gedrückt stand sogar noch ein alter Nussbaum da, und breitete sein noch völlig grünes Blätterdach über die sauberen Pflastersteine. Vor den meisten der Fenster waren grüne Blumenbretter, dicht mit bunt blühenden Herbstpflanzen bestellt, angebracht. Hinter den Scheiben blinkten schlichte aber durchaus saubere Vorhänge. Nirgend lärmten schmutzige verwahrloste Kinder, alles machte einen gediegenen freundlichen Eindruck, der weit mehr an kleinstädtisches Behagen, als an das wüste Durcheinander grossstädtischer Mietskasernen gemahnte.
Lotte fühlte sich wohl hier, noch ehe sie die im Hinterhaus[16] zu vermietende Wohnung angesehen hatte. Hier würde sie, das war ihr im ersten Augenblicke klar, arbeiten und etwas leisten können. Die grossen hohen Häuser mit den engen dunklen Höfen hatten sie von Anfang an erschreckt und geängstigt, wenn sie sich auch in ihrem ausgesprochenen Pflichtgefühl überwunden haben und jedes einigermassen passende Quartier, ohne Rücksicht auf ihre besonderen Liebhabereien, gemietet haben würde.
Lena war nicht im gleichen Masse begeistert. Sie fand das ganze Anwesen grenzenlos kleinbürgerlich, so gar nicht[17] ein bischen »Berlin«. Aber am Ende gestand sie seufzend, dass sie ja vorerst nicht in der Lage seien, grosse Sprünge zu machen. Also zugegriffen, wenn die Wohnung einigermassen taugte.
Eine schmale, sehr steile Treppe führte zu dem zweiten Stockwerk hinauf. Die Wohnung bestand aus einer Küche, einem grossen, freundlichen zweifenstrigen und zwei kleinen einfenstrigen Zimmern und kostete 400 Mark. Sämtliche Räume gingen in einander. Der einzige Uebelstand war der, dass die Küche zunächst an der Treppe lag, so dass Lottes zukünftige Kundschaft diese Küche würde passieren müssen. Aber auch darin sah die kleine Enthusiastin keinen Hinderungsgrund. Man konnte mittels einer Gardine einen ganz netten Durchgang herstellen, der von dem dahinter liegenden Wirtschaftsapparat nichts ahnen liess.
Mit dem Wirt, einem der Ladenbesitzer des Vorderhauses, wurde ein coulanter Vertrag auf zwei Jahre abgeschlossen.
Ganz stolz darauf, Besitzerinnen einer eigenen Wohnung in Berlin zu sein, verliessen die Schwestern das Haus.
Auf der Strasse drückte Lotte zärtlich Lenas Arm.
»Wenn Muttchen das erlebt hätte, Lena, wie glücklich würde sie gewesen sein!«
Lena nickte nur und zog Lotte rasch zu einem Schaufenster, in dem Einrichtungsgegenstände ausgestellt waren. Hatte man die Wohnung einmal, sollte es nun auch rasch ans Möblieren gehen.
Die Einrichtung, die beiden Schwestern gleichen Spass machte, hatte aber auch eine böse Schattenseite; sie riss ein weit grösseres Loch in das mütterliche Erbteil, als sie irgend vermutet hatten. Erst jetzt sahen sie, dass das, was sie von Haus mitgebracht hatten, kaum für das Notwendigste ausreichte.
Gardinen für sämtliche Fenster, Vorhangstoff, um den künstlichen Korridor herzustellen, ein Sofa und ein paar Sessel für die Kundschaft, ein grosser Arbeitstisch, ein Glasschrank für die Auslage der fertigen Hüte, eine bescheidene Kücheneinrichtung und tausend andere Dinge mehr mussten beschafft werden.
Das erste grosse Zimmer wurde als Verkaufs- und Empfangsraum eingerichtet, Lotte nannte es ihr »Atelier«, das erste kleine zum Arbeits-, Ess- und Wohnraum, in dem dritten noch kleineren schliefen die Schwestern. Es war gerade für die Betten und ein Waschtischchen darin Platz.
Während Lena noch mit der Einrichtung beschäftigt[18] war, begann Lotte mit den Einkäufen für ihr Geschäft. Zwei grosse Kaufhäuser waren ihr genannt worden, in denen sie alles Notwendige geliefert erhalten würde.
Für den Einkauf von rohen Hüten das Engros- und Exportgeschäft von Ehlermann in der Leipziger Strasse, für den laufenden Bedarf an Band, Federn und Blumen, Seiden-, Gaze- und Futterstoffen das Konfektionshaus von Levin am Hausvogteiplatz. In dies luxuriös, im grossen Stil eingerichtete Geschäftshaus einzutreten, hatte Lotte das erste Mal eine heftige Ueberwindung gekostet.
Das prächtige Haus mit den eleganten Schaufensterauslagen, die hochherrschaftlichen Equipagen, die vor der Thür hielten und denen Damen in den elegantesten und modernsten Herbsttoiletten entstiegen, der galonierte Diener, der die breiten Glasthüren aufstiess, das alles hatte sie derartig eingeschüchtert, dass sie eigentlich gar nicht gewagt hätte, dies Geschäftshaus zu betreten, wenn nicht Fräulein Weber sowohl als auch die Hôtelwirtin sie vorher ausdrücklich versichert hätten, dass aus diesem grossen prächtigen Hause viele Hunderte von jungen Mädchen in gleicher Lage wie sie ihren Bedarf bezögen.
Nach einiger Zeit fasste sie sich endlich ein Herz, trat ein und begann zu den sechs verschiedenen Hüten, die sie bei Ehlermann erstanden hatte, Bänder, Blumen und Sammet, ja sogar ein paar billige Federn auszusuchen. Der Einkauf ging sehr langsam und umständlich von statten. Aber da der junge Mann, der Lotte bediente, auf den ersten Blick sah, dass er einen Neuling aus der Provinz vor sich hatte, übte er Geduld. Das Genre kannte er. Ueberdies war die Kleine weit hübscher und hatte trotz ihrer Schüchternheit bedeutend bessere Manieren als andere ihres Schlages.
Heut, als beim ersten Einkauf, musste Lotte sämtliche Waren baar bezahlen, aber es wurde ihr gleichzeitig mitgeteilt, dass ihr von ihrem nächsten Einkauf ab schon ein Monatskredit auf Buch eröffnet werden würde. Bei regelmässigen monatlichen Zahlungen erhalte sie vier Prozent Vergütung.
Ueber Lottes feines, blasses Gesichtchen zog ein frohes, dankbares Lächeln. Wie freundlich und entgegenkommend man in Berlin doch war! Wenn sie nur wüsste, warum man sie und Lena so sehr vor Berlin gewarnt hatte!
Vor allem Franz Krieger. Wenn er auch nicht viel darüber gesprochen hatte, so war doch sein ganzes Wesen eine einzige grosse stumme Warnung gewesen.
Ob er am Ende nur so schwarz gesehen, weil er sie gern hatte? Sie wusste es längst, aber immer hatte sie sich[19] gescheut, es ihn merken zu lassen. Sie mochte ihn auch gern, gewiss, aber in anderer Art, und alles in allem hatte Lena viel mehr für ihn übrig. Lena mit ihrem frischen, lustigen, fröhlichen Wesen passte ja auch viel besser zu ihm, denn er war im Grunde auch lustig und heiter und nur immer so schrecklich verlegen ihr und Vater gegenüber. Es that ihr ja von Herzen leid, aber wahrhaftig, sie konnte nicht anders. Sie hatte ganz andere Zukunftspläne, als die Frau eines Mannes zu werden, mit dem sie schon von Kindheit an gut Freund gewesen war. Hinaufarbeiten wollte sie sich, wie so viele in Berlin es vor ihr gethan hatten. All' ihren Fleiss wollte sie zusammen nehmen, bis sie es zu einem feinen Geschäft mit einem grossen, prachtvollen Laden gebracht hatte, wie sie hier so viele sah. Dann sollten Vater und Schwester bei ihr wohnen und es so recht von Herzen gut bei ihr haben und dann, ja dann, wenn dann ein Mann bei ihr anklopfte, den sie lieb hatte mehr als alles auf der Welt, dann sollte er sie haben, ob er arm oder reich war, und herrlich und in Freuden wollten sie miteinander leben.
So ganz in Gedanken versunken, bis an das Kinn bepackt, war Lotte zu Hause angelangt. Als sie über den Hof schritt, hörte sie von ihrer Wohnung her, in der alle Fenster offen standen, um die köstlich warme Sonne einzulassen, eilfertige kurze Hammerschläge, die indess verstummten, während sie die Treppen hinaufstieg.
Die Thür zur Küche war halb geöffnet. An dieser Thür aber prangte etwas, was Lotte noch nie gesehen und was ihr die Röte der Freude bis unter das goldbraune Stirnhaar trieb: ein grosses weisses Porzellanschild mit der weithin leserlichen schwarzen Inschrift:
»Charlotte Weiss, Putzmacherin«.
Hinter der Thür aber lachte Lena vor Freude über ihre gelungene Ueberraschung. –
Bei Tisch – die Herrichtung eines einfachen Mittagsbrodes hatte Lena bis zur ihrer Anstellung übernommen – rechneten die Mädchen und kamen zu dem betrübenden Resultat, dass von den 1500 Mark Kapital seit ihrer Abreise von der Heimat bereits über 500 Mark für Reise, Hôtel, Miete praenumerando, Einrichtung und Lottes heutige Einkäufe verausgabt waren.
Lotte meinte zwar, dass damit die Ausgaben ja nun auch überstanden seien, und es jetzt ans Verdienen ginge, Lena aber, die wieder sehr praktisch geworden war, seitdem ihr erster Berliner Rausch verflogen, sah die Dinge weniger optimistisch an.
Was fingen sie an, wenn ihre Einberufung nicht binnen[20] Wochenfrist erfolgte und Lotte nicht gleich verdiente? Selbst im günstigten Fall würde bis zu ihrer Anstellung als Telephonistin noch immer Zeit genug vergehen. Aerztliche Untersuchung, Aufnahmeprüfung, vier bis sechs Wochen unentgeltlicher Dienst, das neue Jahr würde herankommen, ehe sie würde mitverdienen helfen können!
Lena wurde plötzlich sehr niedergeschlagen und fing an, sich Vorwürfe darüber zu machen, dass sie für sich selbst nicht an eine interimistische Thätigkeit gedacht hatte. Welche? Da wäre freilich guter Rat teuer gewesen.
Lotte durfte von dieser Depression beileibe nichts merken. Lena dankte Gott, dass sie den Kopf so hübsch oben trug, und ganz Hoffnung, ganz glückliche Arbeitsstimmung war. Um doch wenigstens selbst auch gleich etwas zu thun, machte sie sich daran, ihre Kenntnisse in Geographie, Aufsatz und Rechnen für die Aufnahmeprüfung wieder aufzufrischen.
Lotte nahm indess selbstverständlich zuerst den bestellten Hut für Marie Weber in Arbeit. Ob es daran lag, dass sie ganz etwas besonders gutes machen wollte, ob ihr von den vielen Modellen, die sie täglich in den Schaufenstern sah, zu vielerlei verschiedene Arrangements vorschwebten und sie verwirrten, kurz und gut, was ihr nie vordem begegnet war, sie konnte mit dem Hut nicht zustande kommen. Immer wieder hatte sie die Form anders besteckt. Einmal mit Schleifen und Blumen, dann mit Federn, schliesslich nur mit Band. Eine ganze Menge Material war schon beschädigt und unansehnlich gemacht worden, und noch immer wollte es nicht das Richtige werden. Kein Wunder, dass das endlich fertig gestellte Machwerk Marie Weber nicht zusagte. Das junge Mädchen war rücksichtsvoll genug, sich nicht weiter darüber zu äussern, bezahlte auch den ausgemachten Preis, aber die Schwestern sahen es ihr an, dass sie keine zweite Bestellung machen würde, und auch auf ihre Weiterempfehlung schwerlich zu rechnen sei.
An diesem Abend weinte Lotte bitterliche Thränen, die ersten heissen seit dem Abschied von der Mutter Grab. Ihr Selbstvertrauen war tief herabgedrückt, ihre Hoffnungsfreudigkeit auf Null gesunken.
Ein besonderer Glücksumstand war es, dass gerade an einem der folgenden Tage Lenas Einberufung eintraf.
Nun gab es Neues zu denken und mitzusorgen, und auf Tage hinaus stand für die gutherzige, zärtliche Lotte nichts anderes als Lenas nächste Zukunft auf dem Spiel. Trotzdem die Schwester kerngesund war, erwartete Lottchen sie mit Herzklopfen von der Untersuchung bei dem Kassenarzt[21] zurück. Würden Lenas Seh- und Hörkraft, ihre Lunge und die Blutzusammensetzung auch Gnade vor des Gestrengen Augen finden?
Nachdem die kleine schwerblütige Grüblerin über diese Sorge glücklich hinaus war, kam Lenas Aufnahmeprüfung an die Reihe. Bis in den grauenden Morgen des Prüfungstages hatte Lotte die Schwester examiniert und schweren Herzens sich und Lena immer wieder die Frage vorgelegt, ob Lena auch gut bestehen werde. Da der prüfende Postsekretär der Kandidatin selbst keine gar zu ängstliche Herzbeklemmung verursachte, war Lena endlich über Lottes Fragen fest eingeschlafen und die kleine Aufgeregte hatte die grösste Mühe gehabt, die Schwester morgens rechtzeitig aus dem Bett zu bekommen.
Desto grösser war die Freude, als Lena mit dem Uebermut eines Schulknaben, der wieder 'mal eine mit Hangen und Bangen erwartete Versetzung hinter sich hat, heimkam.
Aufnahmeprüfung, Vereidigung, alles war glücklich überstanden, und nun gings mit beiden Füssen zugleich hinein in ein neues Leben.
Täglich von 8–12 Uhr Vormittags oder von 2–8 Uhr Nachmittags – zuweilen verschoben sich die Stunden auch – hatte Lena Dienst, der während ihrer Ausbildung in zwei Teile zerfiel: In den praktischen Dienst unter Leitung einer Aufsichtsdame, in dem das Stadt- und Ferngespräch erlernt wurde, und in den Instruktionsunterricht bei einem Aufsichtsbeamten, der die Anfängerin über das Verhalten in und ausser dem Dienst und die Vorsichtsmassregeln bei Gewitter- und Feuersgefahr unterwies.
Lena mit ihrem anschlägigen Kopf erlernte das alles spielend. Ihr frisches, munteres Wesen trug das seine dazu bei sie beliebt und angenehm zu machen, und ohne allzu optimistisch zu sein, durfte sie ihre Anstellung um Anfang Dezember erwarten. Dann gabs für eine siebenstündige Arbeitszeit durch zwei Jahre 2 Mark 25 Tagegelder. Davon liess sich schon leben, sobald Lotte das ihre dazu verdiente.
Wie ein Kind freute sich Lena auf die Zeit, da sie in ihrer schmucken Uniform, der blauen Leinenjacke mit den rot abgesteppten Nähten und den goldenen Knöpfen, die zu dem glatten schwarzen Rock so nett passte, in Reih und Glied mit den anderen Kolleginnen würde arbeiten dürfen. Es war eine Zusammengehörigkeitsaussicht, die ihr ungemein verlockend erschien.
Während Lena so hoffnungsfreudig in die Zukunft sah, geriet Lottchen in eine immer gedrücktere Stimmung. Ihr anfangs so guter Mut wollte sich nicht wieder heben. Die[22] Stunden, in denen Lena im Dienst war, dünkten ihr endlos lang zu sein, und immer trüber wurden die Gedanken, an denen sie in diesen einsamen Stunden spann. Sie war dies Alleinsein von Haus her so gar nicht gewöhnt. Dort war sie besonders während der letzten Jahre stets an der Seite der Mutter gewesen.
Wenn es noch viel zu thun gegeben hätte! Aber die Kundschaft stellte sich nur sehr spärlich ein und war recht wenig nach Lottchens Sinn.
Zu Haus hatten die Frau Apothekenbesitzer, die Frau Doktorin, wenn nicht für sich, so doch für ihre zahlreichen Kinder, die Frau Steuereinnehmer, die Frau Kalkulator neue Hüte bei ihr bestellt, oder alte aufarbeiten lassen. Hier musste sie schon dankbar sein, wenn ein paar Mädchen aus den Nachbargeschäften kamen. Meist fanden sich indess nur Dienstmädchen bei ihr ein, die gegen Abend, während sie Einkäufe für ihre Herrschaft machen sollten, vorsprachen. Es handelte sich da beinahe stets um denselben Auftrag: der vorjährige Winterhut sollte bis zum nächsten Ausgehsonntag neu aufgearbeitet werden.
Das waren Aufgaben, die in wenigen Stunden ausgeführt waren und im besten Fall etwa eine Mark für den Hut einbrachten.
Was hätte Lotte für eine einzige Kundin mit ausgiebigen Aufträgen gegeben! Für eine Kundin aus besseren Kreisen mit der die Unterhandlung keine moralische Pein war, die sich bei dem feinfühligen Mädchen oft bis zum physischen Unbehagen steigerte.
Die Sehnsucht nach der toten Mutter wuchs wieder mächtig in ihr auf. Nur einmal während der vielen totstillen Stunden ihr Grab aufsuchen dürfen, ein paar armselige Blumen darauf niederlegen, über dem kahlen Hügel beten und weinen!
Und nicht allein zu der Toten, auch zu den Lebendigen trieb sie's zurück.
Sie wollte sichs nicht eingestehen und doch war es so, jetzt schon, nach wenigen Wochen, hatte das Heimweh sie gepackt. Nach dem Vater, nach den wenigen Bekannten, nach den engen, vertrauten Gassen sehnte sie sich zurück. Mehr als je zuvor musste sie auch an Franz Krieger denken. Wenn er am Ende doch recht gehabt und sie und Lena im Unrecht gewesen wären! Ein herzbeklemmendes Gefühl war es jedenfalls, allein und fremd zu sein unter Millionen von Menschen. Niemals ein bekanntes Gesicht zu sehen, einen freundlichen Gruss zu bieten oder zu empfangen. Die Freude würde sie überwältigt haben, wenn ihr eines Tages[23] nur irgend ein gleichgiltiger Mensch aus der Heimat begegnet wäre. Nur einmal etwas anderes sehen als fremde Gesichter.
Wie viel besser hatte es doch Lena! Von ganzer Seele gönnte sie ihr das glücklichere Los, das sie gezogen hatte, aber dem Vergleich konnte sie sich nicht entziehen. Während die Schwester mit einer Schar von Kolleginnen, die alle die gleichen Interessen verbanden, zusammen arbeiten durfte, angestrengt arbeiten, ohne rechts und links zu sehen, sass sie allein, oft ohne jede genügende Beschäftigung, und ihre Augen suchten und fanden nichts als einen stillen, engbegrenzten Raum. Was ihr in den sonnigen Herbsttagen so gefallen, die abgeschlossene kleinstädtische Ruhe des mauerumfriedeten Hofes, schien ihr jetzt, wo der Herbstzauber dahin war, nur noch ein ödes totes Einerlei.
Grau, blätterlos, halbverschneit stand der Nussbaum da. Die Fenster der Nachbarn, die im Oktober einen so freundlichen Einblick in das Innere der Wohnungen gewährt hatten, waren fest verschlossen. Vor den Fenstern blühten keine Blumen mehr, und der breite, in das Mauerwerk hinein lugende Himmel war grau und schwer, wie alles in der engen Nachbarschaft.
In den Stunden, zu denen Lena da war, liess sich freilich alles ganz anders an. Trotzdem sie meist totmüde nach Haus kam, wusste sie doch immer von allerhand lustigen und interessanten Dingen zu erzählen.
War der Dienst auch noch so streng und geregelt, die Aufsichtsdame noch so unnachsichtig, ein paar Augenblicke, um mit den Nachbarinnen zu plaudern, fanden sich doch immer. Und dann die grosse, fast einhalbstündige Erholungspause! Wie die Bienen schwärmten sie dann aus, die luftigen, sauber gehaltenen Steintreppen herunter in das kleine Paradies hinein, das die jungen Mädchen auf eigene Kosten begründet hatten und aus eigener Tasche erhielten. Da gab es guten Kaffee und Bier und belegte Brödchen, vor allem aber einen Schwatz, wie er lustiger bei keinem Kaffeekränzchen gedacht werden konnte. Was man da alles erfuhr und lernte! Unter den hundert Telephonistinnen in Lenas Saal waren neben den Töchtern aus einfachen Familien auch junge Mädchen aus den besten Kreisen vertreten. Ja drei wirkliche adelige, zwei Oberstleutnantstöchter und eine Majorstochter a.D., waren darunter. Sie waren weder hübsch noch so chic in ihren Strassenkostümen, wie die meisten der andern Mädchen, aber vornehm waren sie, kolossal.
Im Hause des Oberstleutnants von Strehsen hatte Prinz Leopold bei einem der vielen Brüder Pathe gestanden. Jetzt[24] waren die jungen Herren längst alle Kadetten oder standen als Leutnants in der Armee, und die Schwestern mussten mit verdienen helfen, damit die Offiziere nur einigermassen standesgemäss leben konnten.
Warum die Brüder alle zum Militär gingen, wenn kein Geld dazu da war, auf diese etwas naseweise Frage Lenas hatte das älteste Fräulein von Strehsen, das sonst sehr nett mit ihr zu sein pflegte, freilich keine Antwort mehr gegeben, sondern ihr achselzuckend den Rücken gedreht. Aber das würde sich schon wieder geben. Sie war im Grunde nicht stolz, das Fräulein Clementine und für ein »Fräulein von« eine gutmütige Person.
Auch über die Arbeit selbst sprach Lena sich dauernd sehr befriedigt aus. Die Handgriffe wurden ihr spielend leicht. Nach acht Tagen schon hatte sie alle Verbindungen herzustellen verstanden. Auch sprach sie deutlich und hörte scharf. Förmlich gelehrte und von technischen Ausdrücken wimmelnde Vorträge über die sinnreiche Einrichtung der Schränke, über den Sprach- und Hörapparat, über das Arbeiten mit den Klinken wusste sie Lotte zu halten. Und wie sauber, ja förmlich appetitlich alles gehalten wurde, es war eine wahre Lust.
Lenas Enthusiasmus für ihren neuen Beruf kannte keine Grenzen. Er umfasste das kleinste und das grösste mit gleicher Liebe.
So ganz eingenommen war Lena von ihren eigenen Interessen, dass sie es völlig übersah, wie blass und abgespannt Lotte war. Als sie dann eines Tages das trübselige, niedergeschlagene Wesen der Schwester zu bemerken begann, fing sie in ihrer frischen energischen Art heftig zu schelten an.
»Wo soll denn das hin, Lotte? Wie siehst Du denn aus? Das kommt von dem ewigen Stillsitzen und Alleinsein. Du wirst noch krank werden und dann haben wir's! Das muss anders werden. Zerstreuung und Bewegung musst Du haben.
Hol' mich doch heut 'mal abends vom Amt ab. Es ist solch' ein amüsanter Weg nach dem Westen heraus. Ich hab' Dir das schon so oft vorgeschlagen. Ich zeige Dir die drei Offiziersfräuleins. Wir sind immer in derselben Tour. Auf dem Rückwege bummeln wir dann noch ein bischen vor den Läden herum, es sind noch immer eine ganze Menge auf.«
Aber Lotte wollte nicht. Sie ging ungern allein weite Wege und hielt sich lieber in der Nachbarschaft, wo sie leicht wieder nach Hause konnte. Es war ihr unerträglich, sich anstarren zu lassen, oder gar dreiste Worte mit anhören zu sollen, die ihr die Röte der Scham in die Wangen trieben.[25] Mehrmals war es ihr schon so ergangen, ohne dass sie in ihrer stillen Art jemals davon gesprochen hatte.
»Wenn Du mich nicht abholen willst, so hol' Dir wenigstens ein Buch aus der Leihbibliothek und vertreibe Dir damit die einsamen Stunden. Du liest ja so gern.«
»Bücher leihen kostet Geld.«
»Puh! Sind wir so klamm, dass es auf ein paar Groschen ankommt?«
»Ich fürchte, Lena.«
Lena küsste die Schwester.
»Du, mach blos kein so trauriges Gesicht. Ich kann das nicht sehen. Pass auf, in vierzehn Tagen habe ich meine Anstellung in der Tasche, und Du so viel Weihnachtsbestellungen, dass Du vor Arbeit nicht weisst, wo aus noch ein. Dann leben wir im künftigen Jahr wie die Götter und geniessen das schöne, himmlische Berlin.«
Lotte lachte. Wenn Lena so sprach, war sie unwiderstehlich.
»Siehst Du, da lachst Du schon. Es war aber auch höchste Zeit, denn ich muss gleich in den Dienst. Vorher aber musst Du mir versprechen, dass sobald Du den Hut für Gutmanns Köchin fertig hast, den noblen, weisst Du, für eine Mark, Du heruntergehst und Dir von nebenan ein hübsches Buch holst. Die paar Groschen für Dein Vergnügen werden wir uns wohl noch absparen können. Du – und Lotte – nimm ja nichts Rührendes. Ich will Dich heute abend nicht wieder mit verweinten Augen sehen!«
Lotte sah ihr lächelnd nach. Wie fröhlich, wie hübsch, wie lustig die Lena war! Wie schnell sie sich in das neue Leben eingewöhnt hatte! Ja, der konnte es nicht fehlen in Berlin!
Um fünf Uhr war Lotte mit ihrem Hut fertig. Einkäufe hatte sie heute nicht mehr zu machen. Das wenige, was sie zum Abend brauchten, war im Hause. Auch ihre Materialvorräte reichten bei den knappen Bestellungen noch auf ein Weilchen aus. Sie genierte sich ordentlich, bei Levin so wenig Gebrauch von dem ihr seit dem 1. November eröffneten Konto zu machen. Aber vielleicht hatte Lena recht, und es wurde für den Weihnachtsmonat besser mit den Bestellungen.
Mit diesen Gedanken ging sie die Treppe hinunter, auf der eine einzige kaum zur Hälfte aufgedrehte Gasflamme brannte. Bis zu der kleinen Leihbibliothek waren es nur ein paar Schritte, als Lotte aber fühlte, dass die rauhe, frische Luft ihr gut that, legte sie ihre Scheu vor dem Alleingehen ab und schritt eiligst die Strasse ein paarmal auf und nieder.
Plötzlich sah sie wieder alles mit heitereren, lebensfroheren[26] Augen an. Lena hatte recht, sie durfte sich wirklich nicht einsperren wie eine Gefangene. Ein einziger Blick in die Aussenwelt liess gleich alles anders erscheinen. Ordentlich fröhlich schritt sie so einher und blieb sogar ganz wider ihre sonstige Gewohnheit zuweilen stehen, um einen Blick auf die hellerleuchteten Schaufensterauslagen zu werfen. So manches Geschäft hatte schon für Weihnachten gerüstet. Lotte überlegte, ohne diesmal an das leidige Geld zu denken, was sie Lena und dem Vater würde geben können.
Aus dem grossen Bierrestaurant an der nächsten Ecke, das sie sonst in weitem Bogen ängstlich zu umkreisen pflegte, seitdem sie einmal gegen Abend an der Ausgangsthür von zwei jungen Leuten angesprochen worden war, trat eine heitere Menschengruppe. Junge Männer und ein paar Damen. Sie trugen Schlittschuhe in der Hand oder über den Arm gehängt, und sprachen lachend davon, wie gut der heisse Grog nach der rauhen Luft auf der Eisbahn ihnen gethan. Ein frischer, natürlicher Hauch ging von ihnen aus, etwas ursprüngliches, das Lottes krankem Gemüt wohlthat. Wer weiss, ob diese Menschen nicht auch ihre Sorgen hatten und konnten doch auf Stunden vergnügt sein. Warum sollte sie allein ihr Leben vertrauern, weil nicht gleich alles so ging, wie es hätte gehen sollen? Konnte sich denn nicht alles mit einem Schlage ändern? Konnte das, was sie vor zwei Monaten er träumt, als sie nach Berlin gekommen war, nicht dennoch Wahrheit werden? Wo so viele, viele tausende einen sicheren Hafen fanden, weshalb sollte sie gerade scheitern? Lotte richtete sich ein wenig straffer in den Schultern auf und ging mit festen Schritten vorwärts.
Vor ihr trippelten drei kleine acht- bis zehnjährige Mädchen. Sie waren sehr ärmlich gekleidet und gegen die rauhe Luft nur mit verschlissenen Sommerjäckchen oder einem kreuzweis über die Brust geschlungenen Tuch geschützt. Arm in Arm spazierten sie fröhlich vor Lotte her und sangen dazu in einem schrillen Discant einen Gassenhauer, von dem Lotte nur den Refrain verstand:
»Ich kenn' die Welt genau,
Ich lass mich nicht verführen,
Dazu bin ich zu schlau.«
Lotte wurde rot bis unter das goldbraune Stirnhaar. Mein Gott, was diese Berliner Kinder alles daherredeten, es war schrecklich! Ganz dunkel gings ihr dabei durch den Sinn, dass die Armut am Ende einer so düsteren Vorschule bedürfe, die schon in der Kindheit vor nichts zurückschrecken macht, um sich mit Erfolg durchs Leben zu schlagen.
Die unklaren Vorstellungen, die sich an das hässliche[27] Lied knüpften, hatten Lotte wieder traurig gemacht, und mit dem melancholisch resignierten Lächeln, das jetzt schon in ihrem lieblichen Gesichtchen förmlich festgewachsen zu sein schien, trat sie endlich in den kleinen Buchladen ein.
Der enge Raum war nur notdürftig erhellt, so dass Lotte anfangs nichts unterscheiden konnte, als ein paar hohe Bücherregale und die Platte des Ladentisches.
Die schmale Glasthür zu einem Nebenzimmer in gleicher Flucht mit dem Laden stand offen. Auf einem breiten, altmodischen schwarzen Rosshaarsofa sass da ein junger Mann, eifrig über eine Papierlage gebückt und schrieb.
Er schien das leise Anschlagen der Ladenthürklingel völlig überhört zu haben. Erst ein kleines Geräusch, das Lotte absichtlich machte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, liess ihn nervös von seiner Arbeit auffahren. Unwillig sprang er auf und trat durch die Glasthür hinter den Ladentisch.
Zunächst mochten seine Gedanken noch bei der Arbeit sein, die er dort drinnen verlassen hatte, denn er gab auf Lottes bescheidene Fragen sehr konfuse Antworten. Dann plötzlich erhellte sich sein anfangs unmutig verzogenes Gesicht. Er drehte die Gasflamme über dem Ladentisch heller und beugte sich etwas zu Lotte hinüber, um seine Zerstreutheit zu entschuldigen.
Während er ihr einige Bücher zur Auswahl vorlegte, bemerkte sie, dass er ein sehr brünetter, schlank aufgeschossener, ungewöhnlich hübscher junger Mensch war.
Lotte blätterte, jetzt selber etwas zerstreut, in den ihr vorgelegten Romanbänden. Dann plötzlich sah sie zu dem jungen Mann auf und gerade in seine graublauen Augen, die er, wie sie jetzt fühlte, unentwegt auf sie gerichtet gehalten hatte.
In tötlicher Verlegenheit stotterte sie etwas von Preisen, die sie erst kennen müsse, bevor sie eine Wahl träfe. Er nahm ein kleines vergilbtes Oktavblatt von einem erhöhten Pult hinter dem Ladentisch und händigte es ihr ein. Zerstreut überblickte sie die Abonnements-Bedingungen und sagte dann zögernd:
»Also für ein Buch sind zehn Pfennige zu entrichten?«
»Für einen bis drei Tage, ja. Aber ich würde Ihnen vorschlagen, Fräulein, ein Abonnement zu nehmen.«
Als sie einen Einwand erheben wollte, dessen Grund er ahnte, fiel er ihr rasch in die kaum begonnene Rede.
»Eine Mark monatlich für ein Buch, Fräulein, und wenn Sie die Güte haben wollten, mir Namen und Adresse aufzuschreiben, würde das Pfand ganz fortfallen.«[28]
Nach einem, von Seiten des jungen Mannes dringenden, von Lottes Seite zögernd verlegenen Hin und Her wurde der Handel abgeschlossen.
Trotz der Gegenwehr des jungen Mannes legte Lotte eine Mark auf den Ladentisch. Sie wusste von zu Haus, wo sie die armselige Leihbibliothek viel benutzt hatte, dass Leihgebühren praenumerando gezahlt werden müssen.
»Und darf ich nun ganz ergebenst um Jhre werte Adresse bitten, mein Fräulein?«
»Charlotte Weiss, Putzmacherin, Zimmerstrasse 15.«
Während der junge Mann notierte, flog ein zufriedenes Lächeln über sein blasses Gesicht.
»Also Nachbarn? Da werden Fräulein doch recht oft zum Umtauschen kommen. Jeden Tag ist es gestattet, ein neues Buch zu entnehmen.«
»So viel Zeit zum Lesen werde ich hoffentlich nicht haben«, erwiderte Lotte schüchtern.
»Die Kundschaft ist wohl recht gross?«
»Leider nein. Aber ich bin auch erst seit zwei Monaten in Berlin, da kann man nicht allzu viel erwarten.«
»Freilich nicht, bei der grossen Konkurrenz.« Er sah das hübsche junge Geschöpf mitleidig an. »Aber wenn ich das Fräulein vielleicht empfehlen dürfte?«
»Sie sind sehr gütig, Herr –«
»Verzeihung, dass ich vergass, mich vorzustellen, mein Name ist Schmittlein, Gerhart Schmittlein. Ursprünglich verdorbener Schauspieler, jetzt Geschäftsführer meiner Tante Wohlgebrecht, Besitzerin dieses Ladens. Mein eigentlicher Beruf freilich, für den ich lebe und sterbe –«
Ein lauter Anschlag der Klingel, die Ladenthür ging auf. Herrn Schmittleins Gesicht verfinsterte sich wieder, und Lotte blätterte angelegentlichst in den vor ihr liegenden Büchern. Sie wusste nicht, warum, aber es war ihr plötzlich furchtbar peinlich, hier gesehen zu werden, noch dazu von der Köchin ihres Wirtes, die ein Buch umzutauschen kam. Das Neueste von der Marlitt hatte die Frau beordert. Aber ja das Allerneueste.
Während Herr Schmittlein mit einem spöttischen Lächeln nach Lektüre suchte, bemerkte das Mädchen Lotte. Die robuste Person machte nicht viel Umstände mit dem Fräulein aus dem Hinterhaus.
Du lieber Jott, so'n Wurm aus der Provinz, das für ne Mark und drunter garniert! Einen Unterschied in der gesellschaftlichen Stellung zwischen ihnen beiden konnte sie nicht finden.
»Na Freileinchen, wie stehts denn? Krieg' ich bis Sonntagmein' neuen? Wenn Sie mir in Stich lassen, sind wir jute Freunde jewesen.«
Lotte konnte vor Verlegenheit und Scham kaum antworten.
Für was musste Herr Schmittlein sie halten, wenn diese gewöhnliche Person in einem Ton wie zu ihresgleichen mit ihr sprach?
Gottlob schien er die Anrede der Köchin überhört zu haben. Wenigstens liess sein Gesicht nichts von einem üblen Eindruck merken. Mit einem freundlichen, ja förmlich tiefen Blick sah er sie an, als er sich jetzt umwendete und dem Mädchen ein Buch einhändigte.
»Sagen Sie Ihrer Herrschaft, dass vom Jenseits keine Novitäten ausgeliefert würden, wenigstens bis dato nicht. Hier ist eine lebendige Marlitt, auch nicht schlechter als die tote.«
Die Köchin sah ihn an, als ob er chaldäisch rede. Dann nahm sie das Buch unter den rotblauen bis zum Ellenbogen nackten Arm und warf die Thür laut hinter sich ins Schloss.
Aber auch Lotte drängte es nun fort, trotz aller Anstrengungen, die Herr Schmittlein machte, um sie zu halten und das unterbrochene Gespräch wieder aufzunehmen. Das Buch lag eingewickelt vor ihr, sie hatte keinen Grund länger zu bleiben.
Zu Haus erst bemerkte sie, dass Herr Schmittlein ausser dem Band moderner Novellen, den er ihr so warm empfohlen, noch einen dicken Band Gedichte eingewickelt hatte. Ohne auf Titelblatt oder Verfasser zu sehen, schlug Lotte das Buch bei dem vermutlich zufällig darin liegenden Zeichen auf.
Das Gedicht, das durch einen dicken Bleistiftstrich am Rande noch besonders kenntlich gemacht war, sprach von einem sterbenden Mädchen, an dessen armseligem Lager die Mutter sehnlichst den Morgen erwartet.
Die ersten Strophen kamen Lotte in ihrer jetzigen Stimmung besonders rührend vor. Dann plötzlich stutzte sie und überlas mit heissen Augen zwei, dreimal eine weitere Strophe. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Dachten auch andere, wie Franz Krieger gedacht? Dieser ihr unbekannte Dichter und Herr Schmittlein? Hatte der junge Mensch in den kurzen Minuten ihres Zusammenseins ihr das Heimweh und die Todesangst vor der Zukunft aus den Augen gelesen? Hatte er Zeichen und Merkstrich eigens für sie gemacht, um auch seinerseits warnend den Finger aufzuheben?
Um sich ein wenig zu beruhigen, den Geisterspuk zu bannen, der für sie in den vor ihr liegenden gedruckten[31] Zeilen lag, begann sie in ihrer schlichten, eintönigen Manier die Verse laut vor sich hin zu lesen:
»Die Not im löch'rigen Gewande
Zertritt die Perle der Moral;
Das Loos der Armut ist die Schande,
Das Loos der Schande das Spital!
Ja, jede Grossstadt ist ein Zwinger,
Der rot von Blut und Thränen dampft,
Drum hütet Euch, ihr armen Dinger,
Denn diese Welt hat schmutzige Finger –
Weh, wem sie sie ins Herzfleisch krampft.« –
Als Lena an diesem Abend erst gegen elf Uhr nach Hause kam, – sie hatte ausnahmsweise bis um zehn Dienst gehabt, – fand sie Lotte mit dem Kopf auf dem Tisch über ihren Büchern eingeschlafen. Als sie die Schlafende aufrichtete, war ihr Gesicht von Thränen überströmt.
Aergerlich warf Lena die Bücher bei Seite und Lotte wach küssend, sagte sie:
»Und ich hatte Dir doch so streng verboten, etwas Rührendes aus der Bibliothek zu holen.« –
Wenige Tage später, an einem Sonntag Vormittag, als Lotte die Welt wieder mit etwas lichteren Blicken anzusehen begann – sie hatte gerechnet und gefunden, dass das Geschäft sich ein wenig zu heben schien – klingelte es draussen an der Flurthür.
Eine kleine, untersetzte behäbige Frau in etwas auffälliger Sonntagstoilette stand vor ihr und stellte sich als Frau Wohlgebrecht, Besitzerin der Leihbibliothek, vor.
Lotte bat die kleine Dame zaghaft, durch den künstlich hergestellten Korridor einzutreten, und fragte dann verlegen, ob sie wegen des Pfandes käme, oder ob sonst etwas versehen worden sei, Herr Schmittlein sich etwa im Abonnementspreis geirrt habe?
Die Frau lächelte gutmütig und tätschelte Lotte über das prachtvolle Haar.
»I wo denn, wo denn, was denn nicht noch?« wies Frau Wohlgebrecht die verzagt Fragende freundlich zurück und liess sich behaglich in einem der neuen Plüschsessel in Lottes »Atelier« nieder.
»Einen Hut wollt' ich mir bei Ihnen bestellen, Fräulein Weiss. Was man in der Nachbarschaft haben kann, soll man nicht zu weit suchen.«
Lotte wurde glühend rot. Herr Schmittlein meinte es also wirklich gut mit ihr! Und dann stotterte sie etwas von »zu gütig« und machte sich eilfertig daran, ihren grossen[32] Glasschrank aufzuschliessen, in dem drei einsame Hüte seit Wochen ihr unbeobachtetes Dasein fristeten.
Aber Frau Wohlgebrecht wehrte ab. »Das lassen Sie man, Fräulein. Was Fertiges will ich nicht. Das werden Sie zum Fest schon noch loswerden. Ich möchte was Hübsches, Neues, nach meinem eigenen Geschmack. Ich denke so, Sie stecken mir einen Hut flüchtig auf und kommen dann zur Anprobe 'rum. Haben Sie Hutformen, Band und Federn hier?«
Lotte schloss den Schrank wieder zu und holte ihren noch ziemlich reichlichen Vorrat von Levin und Ehlermann herbei. Nachdem Frau Wohlgebrecht eine Menge gutes Material ausgewählt hatte, wurde es bei Seite gelegt, und Lotte versprach, die Anprobe bis übermorgen Abend fertig zu halten.
»Sehr schön, Fräulein, sehr schön.«
Frau Wohlgebrecht sah dabei erst Lotte, dann das nette saubere Zimmer an. Dann sagte sie plötzlich:
»Wissen Sie was, Fräulein, wenn Sie weiter nichts vorhaben, sollten Sie sich so einrichten, gleich den Abend über dazubleiben und ein Butterbrod bei mir zu essen. Mein Neffe liest uns vor, und dabei können Sie ja, wenn Sie wollen, den Hut gleich fertig machen, dann verlieren Sie keine Zeit.«
Lotte machte zu der freundlichen Einladung ein so verlegenes Gesicht, dass Frau Wohlgebrecht eine beleidigte Miene aufzog.
Sie hatte dem »einsamen Wurm« auf freundliche Weise eine Abwechselung und Ersparniss verschaffen wollen.
Das arme Mädchen, nach welchem sie inzwischen die eingehendsten Erkundigungen eingezogen hatte, that ihr leid. Sie hatte ihm etwas Gutes zuwenden wollen, und nun schien es, als solle sie mit einem hochmütigen Korb dafür belohnt werden. Da hatte der Junge, der Gerhart, ihr was Nettes eingebrockt!
Sie erhob sich mit einem sehr piquierten: »Wenn Sie nicht wollen, oder was Besseres vorhaben, freilich –«
Lotte war ganz benommen von diesem seltsamen Erfolg ihrer dankbaren Verlegenheit.
»O Gott nein, verehrte Frau. Sie haben mich gewiss nicht richtig verstanden. Ich käme ja nur allzugern, aber gerade am Dienstag hat Lena, meine Schwester, keinen Abenddienst. Ich weiss nicht, ob Sie davon wissen – wir sind beide so ganz fremd in Berlin – haben noch keinen Familienanschluss, und da kann ich Lena doch hier nicht[33] so allein sitzen lassen. – Wäre es vielleicht am Mittwoch gestattet, da ist Lena bis 9 Uhr auf dem Amt –«
Frau Wohlgebrecht hatte sich längst wieder gesetzt. Sie schmunzelte vergnügt vor sich hin. Das war so ganz nach dem Sinn der gutherzigen Frau, gleich zwei armen Dingern einen angenehmen und billigen Abend zu verschaffen, und dazu ihrem Gerhart ein doppeltes Vergnügen. Denn dass der Strick lieber zwei Zuhörerinnen für seine Poesien haben würde, als eine, das wusste sie im voraus.
»Bis Mittwoch warten? Wo denken Sie hin, Fräulein?
Es bleibt bei Dienstag und Sie bringen Ihre Schwester mit. Abgemacht.«
Frau Wohlgebrecht hielt Lena die Hand hin.
»Schlagen Sie ein, und auf gute Nachbarschaft.«
»Was hat Ihnen mein Neffe denn mitgegeben?«
»Lieder eines Modernen.«
Sie schob das Buch geringschätzig bei Seite.
»Auf diesem Punkt ist nichts mit ihm anzufangen. Nichts geht ihm über das Moderne, und in seinen eigenen Werken –«
Lotte wurde wieder einmal dunkelrot, diesmal vor freudiger Ueberraschung.
»Herr Schmittlein dichtet auch selbst?«
Frau Wohlgebrecht legte ihren dicken Zeigefinger über die Lippen.
»Pst, Fräuleinchen, im tiefsten Vertrauen will ich's Ihnen erzählen, er dichtet nicht nur, er ist sogar ein grosses Talent. Gedruckt ist freilich noch nichts von ihm, aber passen Sie auf, es wird, es wird. Ich seh' es schon, wie die Kundschaft, die er mir ja schon ganz aufs Moderne dressiert hat, ob sie will oder nicht, nichts anderes fordern kommt, als Schmittlein und wieder Schmittlein. Und geben Sie 'mal Acht, wenn dann in den Zeitungen grosse Artikel über ihn stehen, dann wird es auch heissen, seine Tante, die Wohlgebrecht, die hat ihn eigentlich entdeckt. Sie glauben nicht, Fräulein, was ich mit dem Jungen schon alles durchgemacht habe, aber er lohnt mirs, er lohnts, passen Sie auf. Als sechsjährigen Bengel hab' ich ihn schon bei mir gehabt, denn die Mutter, meine Schwester selig, war immer krank. Da ich nichts eigenes Kleines hatte, that ich's ja auch nur allzugern. Nachher, wie gar nichts aus ihm wurde und er durchaus zum Theater wollte, worüber der Schwager rein wild war, hab' ich ihn wieder zu mir genommen, das war nach dem Tode meines Seligen. Ich hab' ihm die Hauptflausen ausgetrieben und ihn ein bischen Buchhändler lernen lassen, und jetzt ist er mein Geschäftsführer und ebenso[34] gut als ich selber, nur natürlich viel gebildeter, denn trotzdem er eigentlich nicht viel gelernt hat, weiss er Alles. Mein einziger Kummer ist, dass ich glaube, er hält nicht so recht zu unserem Kaiserhause und hat auch darin allzu neumodische Ansichten. Nein, Sie brauchen nicht zu erschrecken, Fräulein, Anarchist ist er nicht, aber Demokrat, Sozialdemokrat, wahrhaftig ja, das ist er. Na, das das sind ja wohl die jungen Leute heut alle, die nicht mit 'ner Million in der Tasche auf die Welt gekommen sind. Vereine und Versammlungen, die besucht er für sein Leben gern. Politische und literarische. Aber sonst ist er sehr solide, und ich bin mit ihm zufrieden, und wenn ich im Frühjahr fort muss, kann ich ihm das Geschäft getrost auf eine Weile überlassen.«
»Sie wollen fort, Frau Wohlgebrecht?«
»Ich muss, mein Engel, auf ein paar Monate. Meine Bruderstochter, die ist oben in Westpreussen auf dem Lande verheiratet. 'Ne Mutter hat der Wurm nicht mehr, gerade wie Sie, Fräuleinchen. – Na deswegen müssen Sie nicht gleich weinen. Darin hat der Gerhart so unrecht nicht, dass manch einem besser da oben – oder wie er sagt, im »Nichts« – denn auch mit der Religion ist's schwach bei ihm bestellt – als unten bei uns zu Mute ist. Ja, was ich sagen wollte, zu meiner Bruderstochter kommt im Frühjahr zum erstenmal der Storch, und den Besuch möcht ich das kleine Frauchen nicht allein überstehen lassen.«
Jetzt zog Frau Wohlgebrecht eine dicke goldene Uhr zwischen den Knöpfen ihrer braunen Taille hervor.
»O, o«, meinte sie und erhob sich gemütlich, »da habe ich mich ja schön verplaudert. Also am Dienstag auf Wiedersehen, Fräulein. So um sieben 'rum erwarte ich Sie. Ach was, zu danken brauchen Sie nicht, versteht sich doch von selbst, dass man freundlich zu 'nem armen Mädchen ist, das sich mutterseelenallein durch die Welt schlagen muss.«
Lotte sah ihrem Besuch nach, bis die Windung der Treppe ihr Frau Wohlgebrechts Anblick entzogen hatte.
Wie gut diese Frau mit ihr war und sicherlich durch die Fürsprache des Herrn Schmittlein! Gar nicht mehr so verlassen kam sie sich vor, seit Frau Wohlgebrecht bei ihr gewesen war. Gott im Himmel, nein, gewiss würde ihr die Grossstadt nicht zum Zwinger werden, der »rot von Blut und Thränen dampft«. Heute wollte sie jedenfalls nicht mehr an das schreckliche Gedicht denken. Nein, keinen Augenblick mehr.
Mit heissen Backen setzte sie sich an das Küchenfenster. Was Lena wohl dazu sagen würde, dass sie eine wirkliche Einladung bekommen hatten, die erste in Berlin, und noch[35] dazu in das Haus eines wirklichen Schriftstellers! Lotte schwindelte der Kopf. Wenn Lena nur erst da wäre, damit sie ihr volles, glückliches Herz ausschütten konnte!
Ein brenzlicher Geruch hinter dem Vorhang erinnerte sie daran, dass das Mittagbrot noch nicht fertig war. Schnell band sie eine Schürze über das Sonntagskleid, zog den Vorhang zurück und stellte sich an den Herd. Aber während sie mechanisch auf das Essen acht gab, schweiften ihre Gedanken weit fort und zu dem zurück, was Frau Wohlgebrecht ihr von Gerhart Schmittlein erzählt hatte, und mit einem schweren Seufzer fragte sie sich, ob, wenn der Umgang wirklich fortgesetzt würde, ihre lückenhafte Bildung, ihr mangelhaftes Verständnis für Dinge, die sie kaum dunkel ahnte, jemals dazu ausreichen würden, dem hohen Fluge seiner Gedanken zu folgen. –
Lena teilte zwar Lottes freudigen Stolz über Frau Wohlgebrechts Einladung nicht, aber sie war durchaus einverstanden damit.
Erst vor einigen Tagen hatte eine der Aufsichtsdamen es ihr nahe gelegt, Familienanschluss zu suchen. Sie sei nun lange genug in Berlin, um daran zu denken.
Da Lena wusste, dass der Verkehr in rechtschaffenen Familien beinahe ein Gesetz für die auf dem Amt beschäftigten jungen Mädchen war, und sie jetzt, kurz vor ihrer Anstellung, ganz besonders bemüht sein musste, jedem Wunsch von Seiten der Behörde zuvorzukommen, kam ihr Frau Wohlgebrechts Einladung sehr gelegen. Lenas sonstige Aussichten auf Geselligkeit waren gleich Null. Der Verkehr mit Marie Weber konnte nur ausnahmsweise gepflogen werden.
Das junge Mädchen arbeitete auf Amt IV und die Fälle, dass ihre beiderseitige Dienstzeit so fiel, dass sie einen Abend hätten zusammen verbringen können, würden zu zählen sein. Das Kränzchen, das kürzlich von den Kolleginnen ihres eigenen Amtes veranstaltet worden war, hatte sie bisher der Trauer wegen nicht besuchen können. Anderen Anschluss aber hatte sie nirgends gefunden.
Lotte war überglücklich, dass sie der Schwester so indirekt einen Dienst erweisen konnte. Gewöhnlich war es umgekehrt gewesen, und alle Beziehungen, die das Leben der Schwestern bisher verschönt hatten, waren von der temperamentvolleren, heitereren Lena ausgegangen. Leider war, wie so häufig in dieser mangelhaftesten aller Welten, die Vorfreude der bessere Teil der Sache gewesen.
Anfangs zwar hatte sich alles trefflich angelassen. Die Schwestern waren von Frau Wohlgebrecht sehr herzlich empfangen worden. Herr Schmittlein hatte sich bemüht,[36] seiner stürmischen Freude, Lotte wieder zu sehen, einen Dämpfer aufzusetzen, um die andere Schwester nicht zu beleidigen, die ihm übrigens, trotzdem sie entschieden die hübschere von beiden war, nicht halb so gefiel als die sanfte, ätherische Lotte.
Dann war die Hut-Angelegenheit als erste Programmnummer gefolgt. Sie war sehr glücklich abgelaufen. Frau Wohlgebrecht hatte dem Entwurf ehrliches Lob zollen können.
Nachdem man belegte Butterbrode verspeist und dazu Thee und helles Moabiter Bier getrunken hatte, war es ans Vorlesen gegangen. Von diesem Augenblicke an hatte die Missstimmung begonnen.
Zunächst hatte Schmittlein noch im letzten Augenblick, als er grade beginnen wollte, das vor ihm liegende Manuskript gegen ein anderes vertauscht. Was er für Lotte allein ausgewählt – die gute Tante kam dabei nicht in Betracht – wollte er der fremden Schwester nicht preisgeben. Sie sah ihm ganz danach aus, als ob sie an seinen Werken nicht nur kein Gefallen finden würde, sondern sich auch nicht genieren würde, ungeschminkte Kritik daran zu üben.
Kaum hatte er dann mit dem Lesen begonnen, so war die Ladenklingel in Bewegung gesetzt worden. Dieser Zwischenfall, der sonst kurz vor acht Uhr überhaupt nur selten noch einzutreten pflegte, wiederholte sich vier bis fünfmal. Lotte empfand dieses ewige Kommen und Gehen in einer so weihevollen Stunde wie eine persönliche Bosheit gegen den Dichter, und Schmittlein selbst schien nicht weit von dieser Ansicht entfernt. Wenigstens warf er, als die Klingel kurz vor halb neun Uhr noch einmal anschlug, das Manuskript heftig bei Seite und verschwor sich, während seiner Kulischaft – keine der drei Damen ahnte, was er damit meinte, – weder Tinte noch Feder mehr anzurühren.
Endlich, nach Ladenschluss, war es ruhiger geworden. Aber mit der Stimmung war es doch vorbei. Als Schmittlein überdies bemerkte, dass seine Arbeit keinen sonderlichen Eindruck machte, unterbrach er sich und legte das Heft missmutig bei Seite.
Auf allseitiges Drängen, hauptsächlich aber auf einen bittenden Augenaufschlag Lottes hin, nahm er dann noch ein anderes Heft zur Hand, eine Gedichtsammlung: »Lieder eines Missvergnügten« betitelt.
Ob diese galligen Gedichte von ihm selbst oder einem seiner Freunde stammten, erfuhr niemand von den Anwesenden. Ehrlich gestanden gelüstete auch keinen nach einem näheren Aufschluss, denn diese Verse mit ihrer schwarzgrauen Lebensweisheit gefielen nicht einmal Lotte. Sie waren[37] noch schlimmer als das Gedicht von dem sterbenden Mädchen und dem garstigen Elend der Armut.
So war nach ein paar unerquicklichen Stunden im Grunde jeder froh, als der Abend zu Ende ging.
Nachdem die Schwestern das Haus verlassen hatten, überhäufte Gerhart in seinem nervösen Unmut die unschuldige Frau Wohlgebrecht mit Vorwürfen für den Missgriff, Lena mit eingeladen zu haben. Dieser Umstand sei einzig an dem verfehlten Abend schuld.
Da ihr Lena selbst nicht sehr sympathisch erschienen war, und ihr die Enttäuschung des armen Jungen leid that, wusste sie nicht allzu viel zu ihrer Entschuldigung vorzubringen. Dagegen vertröstete sie gutmütig auf ein anderes, gemütlicheres Beisammensein mit Lotte.
Aber Gerhart war nicht so leicht zu beruhigen; sein einziger geheimer Trost blieb der, dass er hoffte, Lotte dazu zu vermögen, unter vier Augen mit ihm zusammen zu kommen.
Lena rächte sich indessen instinktiv für das hinter ihrem Rücken über sie gefällte Urteil, indem sie ihrerseits über alles spöttelte, was sie bei Frau Wohlgebrecht gefunden hatte. Ueber die »spiessige« Einrichtung des einzigen Wohnzimmers, über den kleinbürgerlichen Ton der Frau und ihr breites, behäbiges Wesen, über den engen, kleinlichen Zuschnitt des Geschäfts, vor allem aber über Herrn Schmittleins famose Dichtungen. Nein wahrhaftig, wenn der Talent hatte, so hatte sie es auch.
Lotte verlor zu Anfang den Kopf und weinte bittere Thränen über Lenas herzlose Auffassung und ihren schnöden Undank für die gebotene Gastfreundschaft. Dann raffte sie sich auf und verteidigte ihre neugewonnenen Freunde. Ja, sie scheute sich nicht, Lena heftige Vorwürfe über das spöttische Wesen zu machen, das sie den ganzen Abend über zur Schau getragen hatte. Die Verstimmung auf Lottes Seite sass so tief, dass sie ganz gegen des Mädchens Gewohnheit mehrere Tage lang anhielt. Vielleicht hätte man sich auch dann noch nicht ganz verständigt, wenn nicht etwas dazwischen gekommen wäre, das bis auf weiteres alles andere in den Hintergrund drängte – Lenas Anstellung.
Freilich bat Lotte vergebens, Lena möchte Frau Wohlgebrecht, die so warmes Interesse für das bevorstehende Ereignis gezeigt hatte, Mitteilung von ihrer Anstellung machen. Lena wehrte sich energisch. Nein, sie wollte nichts mehr mit diesen Leuten zu thun haben. Von Berlin erwartete sie sich denn doch einen anderen Umgang, als den Verkehr mit einer kleinen Ladenbesitzerin und einem eingebildeten Dichter. Lotte würde bald sehen, dass sie den nicht nötig hätte. Heut[38] könne sie noch nichts verraten, aber bald würde es sich offenbaren und dann würde Lotte Augen machen.
Lotte machte schon jetzt Augen, aber betrübte, über Lenas Eigensinn.
Bald aber trat die lichte Seite des Ereignisses gänzlich in den Vordergrund.
Lena würde von nun ab ein erhebliches zu dem Hausstand beisteuern können, und wenn der Weihnachtsmonat für Lotte lohnende Arbeit brachte, konnte man der nächsten Zukunft wieder ein wenig ruhiger ins Auge sehen.
Und wirklich trat dieser glückliche Umstand ein, nicht zuletzt durch die gütige und angelegentliche Empfehlung der Frau Wohlgebrecht. Hätte Lotte nur gewusst, wie sie der prächtigen Frau ihren Dank abtragen sollte!
Als eines Nachmittags gar die junge Frau eines Kommunallehrers erschien und sich auf Frau Wohlgebrecht berufend, drei Hüte für ihre drei kleinen Mädchen zum Fest bestellte, da fühlte Lotte das unabweisbare Bedürfnis, ihrer Wohlthäterin, trotzdem Frau Wohlgebrecht nichts davon wissen wollte, zum mindesten einen besonderen Dankbesuch abzustatten.
Als sie gegen acht Uhr den Laden betrat, war nur Herr Schmittlein zugegen. Die Tante war für den Abend eingeladen.
Lotte, die jetzt zum Bücherlesen keine Zeit hatte, und somit kein auf der Hand liegendes Geschäft mit Herrn Schmittlein, wollte den Laden eilends wieder verlassen. Gerhart aber, froh, sie endlich einmal für sich zu haben, hielt sie mit allen erdenklichen Ausreden fest. Er zeigte ihr die Weihnachtsneuheiten und fragte sie aus, was sie selbst davon wohl gerne besitzen möchte. Dabei kamen sie auf das Fest zu sprechen, und Lotte behauptete nun, entschieden fort zu müssen. Sie wolle noch ein paar Einkäufe für eine Handarbeit, ein Hauskäppchen für den Vater machen und habe auch für die Wirtschaft noch mancherlei zu besorgen.
Schmittlein widersetzte sich dem mit seiner ganzen impulsiven Energie.
»Ein so junges Mädchen, das dabei so –« die Fortsetzung verschluckte er, aber sein warmer Blick ergänzte die fehlenden Worte – »sollte abends nicht allein in den Strassen umherlaufen. Mit Fräulein Lena ist das ganz was anderes, die steht ihren Mann. Aber Sie – nein!«
Sie sei ja aber doch die ältere, gab Lotte lächelnd zurück.
Darauf käm's nicht an! Sie mit ihrem sanften, stillen Wesen mache den Eindruck, als ob sie stets eines Schutzes bedürfe.[39] Er begreife überhaupt nicht, dass man sie habe nach Berlin gehen lassen. Sie habe ja absolut nicht das Zeug dazu – bis jetzt wenigstens nicht.
Zunächst hatte Lotte Miene gemacht, ihm ob dieser Unterschätzung zu zürnen. Mein Gott, machte sie denn einen gar so kindischen, unselbständigen Eindruck, dass alle Welt sich bemüssigt fühlte, ihr zu sagen, sie gehöre gar nicht nach Berlin? Aber ein Blick in seine ehrlich besorgten Augen hatte sie umgestimmt. Sie wusste ja selbst am besten, wie schutzbedürftig sie sich fühlte und wie dankbar sie jedem war, der sich ihrer annahm.
Mit einem sanften Erröten sagte sie:
»Ich danke Ihnen, Herr Schmittlein, Sie mögen in manchem Recht haben, aber da ich nun einmal hier bin, werde ich auch sehen müssen, mit Berlin fertig zu werden.«
»Und Sie wollen heut wirklich noch weiter, so spät und allein?«
»Ganz gewiss. Ich muss mich daran gewöhnen, so ungern ich es thue.«
»Warten Sie einen Augenblick. Ich schliesse den Laden und begleite Sie.«
Das kam in einem Ton heraus, als ob er ein Herrenrecht auf sie habe. Aber der Ton zwang sie zu einer Einwilligung, die sie auf eine höfliche Anfrage vielleicht niemals gegeben hätte. Wenige Minuten später verliessen sie zusammen das Haus.
Draussen fiel ein feiner Schnee. Er überstäubte Lottes zierliche Gestalt, und des jungen Mannes schönheitsdurstigen Augen that es wohl, sie einmal in einer lichteren Farbengebung, als in dem düsteren Einerlei des tieffarbigen Schwarz zu sehen.
Sehr langsam schritten sie nebeneinander her, von tausend gleichgültigen Dingen plaudernd, die ihnen beiden plötzlich sehr interessant erschienen. Endlich dachte Lotte auch wieder an ihre Einkäufe. Es war halb neun vorüber, als sie damit zu Ende kam. Sie wollte nun nach Haus zurück. Aber Schmittlein hielt sie unter immer neuen Vorwänden fest. Endlich fragte er geradezu, wie lange Fräulein Lena heute im Dienst sei?
»Bis zehn Uhr.«
»So haben Sie noch eine Menge Zeit, Fräulein Lottchen. Kommen Sie, lassen Sie uns noch ein Weilchen zusammenbleiben. Weshalb soll jeder von uns allein zu Hause sitzen und Trübsal spinnen, anstatt das hübsch gestimmte Beisammensein noch zu geniessen? Wer weiss, wie bald es sich wieder so trifft.«[40]
Er schlug ihr vor, in ein nahes Bierhaus zu gehen und dort zusammen eine Kleinigkeit zu Abend zu essen. Aber sie wollte nichts davon hören. Entsetzlich unpassend, ja unerhört schien ihr das. Ausserdem hatte sie keinen Pfennig Geld mehr bei sich.
»So gehen wir noch ein wenig auf und ab.«
Sie nickte stumm Gewähr. Das war der beste Ausweg. Auch sie hätte sich ungern schon jetzt von ihm getrennt. Seine zarte Fürsorge, die sich in jedem Blick und Ton offenbarte und die sie seit Jahren, seitdem die Mutter krank geworden, nicht mehr gekannt hatte, that ihr unendlich wohl.
Der Schneefall wurde immer stärker. Gerade als sie vor einer kleinen, unscheinbaren Konditorei standen und durch die Glasscheibe auf die bescheidene Weihnachtsausstellung sahen, kam zu dem heftigen Schneefall ein stössiger Wind auf, der ihnen scharf ins Gesicht blies. Gerhart Schmittlein legte wie schützend seine Hand einen Augenblick um Lottes Schulter.
»Sie werden sich erkälten, Fräulein Lottchen. Treten wir doch einen Augenblick ein. Ich kaufe eine Kleinigkeit für die Tante. Das macht ihr Spass.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er mit ihr über die ausgetretenen Stufen in den kleinen Laden.
Der Verkaufsraum sowohl, wie das dahinter liegende Zimmerchen mit seinen runden Marmortischen war völlig leer.
Am Ladentisch, hinter einem erhöhten Aufbau, der als Kasse diente, sass halb verschlafen ein Bediensteter der Konditorei in zweifelhaft weisser Konditortracht.
Er schreckte beim Eintritt der beiden wie vor etwas Ungewohntem zusammen und fragte mit ungelenker Zunge nach ihrem Begehr.
Schmittlein und Lotte traten an den Ladentisch und betrachteten die einfache Auslage, die für Lottes unverwöhntes Auge immerhin noch sehr viel Verlockendes hatte.
»Was meinen Sie, Fräulein Lottchen, was wir für die Tante mitnehmen?«
Lotte zeigte auf eine drollige Schweinegruppe von Marzipan, dabei lachte sie halb wider Willen, denn im Grunde war es ihr sehr peinlich, mit Herrn Schmittlein so ohne weiteres in eine Konditorei gegangen zu sein.
»Also die Schweine. Und was noch, Fräulein Lottchen? Hätten Sie nicht – dürfte ich nicht –?«
»O nein, bitte«, gab sie erschreckt zurück.
»Also die Schweine«, wandte er sich an den Verkäufer, »und ein Päckchen Chokolade. Die kann Tante kochen, wenn Sie wieder zu uns kommen, Fräulein Lottchen.«[41]
Er war gerade im Begriff, den Einkauf zu bezahlen, als ein neuer, noch weit heftigerer Windstoss gegen die Ladenthür prallte und eine förmliche kleine Schneelawine gegen die Scheibe drückte.
»Jetzt können wir unmöglich hinaus«, entschied er.
»Kommen Sie, Fräulein Lottchen, wir setzen uns daneben ins Zimmerchen und warten das Wetter ab. Und da es schrecklich kalt und ungemütlich hier ist«, fügte er halblaut hinzu, »werden wir ein Glas Grog trinken.«
Er machte die Bestellung und schritt dann mit seiner Begleiterin unter einem braunen, staubigen und verschlissenen Lamberquin fort, in das kleine Zimmer nebenan.
Lotte sträubte sich anfangs heftig, sich zu setzen oder gar ihr Jacket abzulegen. Es bedurfte all' seiner Ueberredungskunst, um sie davon zu überzeugen, dass es absolut kein Staatsverbrechen sei, wenn sie ein halbes Stündchen zusammen verplauderten, bis das ärgste Wetter vorüber war.
»Aber der Grog?«
»Ein vortreffliches Präservativ gegen Erkältung.«
Und dabei zog er sie fast mit Gewalt auf einen Stuhl neben sich nieder, und ihre beiden Hände ergreifend, sah er sie flehend an.
»Wollen Sie mir denn niemals einen Gefallen thun, Fräulein Lottchen? Sie sehen ja doch, wie viel mir daran liegt, einmal ein Stündchen mit Ihnen allein zu sein!«
Langsam schlug sie die gesenkten Lider zu ihm auf.
»Wenn das – wenn Ihnen wirklich daran liegt –?«
»Und das fragen Sie noch? Haben Sie es neulich nicht gefühlt, wie sehr die Gegenwart Ihrer Schwester auf mir gelastet hat? Ich war an jenem Abend gar nicht mehr ich selbst. Ein mürrischer Geselle war ich, weil ich Sie nicht allein haben konnte, und alles, was mir auf der Seele brannte, in mich verschliessen musste. Heut aber sind wir allein. Heut darf ich Ihnen alles sagen, alles lesen, was ich Ihnen neulich weder sagen noch lesen durfte.«
Lottchen war plötzlich so beklommen zu Mute, dass sie kein Wort herausbrachte. Zum Glück kam jetzt der Aufwärter mit dem dampfenden Grog.
Nachdem beide schweigsam ein paar Augenblicke in dem heissen Getränk herumgelöffelt, trank Lotte aus reiner Verlegenheit ein paar Schluck. Es schmeckte ihr gar nicht, aber der heisse Trank rann ihr doch wohlig durch die Glieder, und wie sie jetzt zu Gerhart Schmittlein aufsah, erschien es ihr plötzlich wirklich kein so grosses Verbrechen mehr zu sein, hier mit ihm zu sitzen. Im Gegenteil, sie war stolz[42] darauf, dass ihm, dem zukünftigen berühmten Dichter an ihrer Gesellschaft lag, dass er sie zu seiner Vertrauten machen wollte, sie, das arme kleine Putzmachermädel, das in der grossen Riesenstadt Niemandem sonst etwas galt.
Jetzt zog er das Heft, das er neulich Lenas wegen bei Seite gelegt hatte, aus der Tasche und legte es vor sich hin.
»Liebes Fräulein Lottchen, ehe ich Ihnen aus mei nen Gedichten vorlese, möchte ich, dass Sie einen Blick in mein Inneres thäten.
Sehen Sie, Fräulein Lottchen, alles, was ich bisher durchlebt habe, und wovon Sie ja auch zum Teil schon durch die Tante wissen, ist mir nichts als eine Vorstudie zu dem Endziel, das ich mir gesteckt habe. Das besondere Programm, das mir zur Erreichung dieses Endzieles vorschwebt, würden Sie heute noch nicht verstehen, darum spreche ich Ihnen nicht davon. Noch sind Sie zu sehr eingewickelt in anererbte und anerzogene Vorurteile, um zu begreifen, wohin ich steuere. Doch denke ich, wenn wir gute Freunde bleiben, werde ich Sie erlösen und befreien, wie ich mich selbst – freilich zum Teil erst – erlöst und befreit habe. Wollen Sie sich von mir befreien lassen, Lottchen?«
Lotte verstand zwar kein Wort von alledem, aber wie Gerhart Schmittlein es mit leuchtenden Augen sprach, klang es ihr alles so gross und erhaben, dass sie in seine ihr dargebotene Hand einschlug und freudig die geforderte Zusage gab.
Während er ihre Hand zwischen seinen plötzlich fieberheiss gewordenen Fingern festhielt, fuhr er fort:
»Auch ich bin noch lange nicht so frei, so hocherhaben über das Alltagsgetriebe, wie ich es zu sein erstrebe, wie es meine Vorbilder sind. Sie haben Ibsen, Nietzsche, Tolstoj, Schopenhauer nicht gelesen?«
Lotte schüttelte ängstlich den Kopf.
»Ich dachte es mir. Darum ist es, wie ich schon vorher betonte, schwer, ja unmöglich, Ihnen vorerst mein Programm zu entwickeln. Den Hauptparagraphen daraus wird Ihnen Ihr glücklicher, feinfühliger Instinkt vielleicht verständlich machen. Ibsen hat einmal das gewaltige Wort ausgesprochen: »Der stärkste Mann ist der, der allein steht«. Ich modle mir dies Wort als Lebensmotiv in ein anderes, geistesverwandtes um, das da lautet: Der stärkste Mann ist der, der frei ist, denn Freiheit ist Kraft. Diese absolute Freiheit, die der Kraft gleich ist, verlange ich für mich als Bürger in meiner Stellung zum Staat, als schaffender Künstler in meinem Beruf, als Mensch in der Liebe, und da, Lottchen, wäre ich denn auf dem Punkte angelangt, von dem aus Sie meine Gedichte[43] werden empfinden und beurteilen müssen: dem Standpunkte der freien Liebe.«
Lottchen sass da wie in der Hypnose. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Wie gebannt hielt sie unter seinen heissen Worten, seinen heisseren Blicken still. Sie wusste nicht mehr, wo sie war, kaum noch, wer da zu ihr sprach. Sie fühlte nur eine alles bezwingende Macht über sich einbrechen, gegen die keine Fiber in ihr sich aufzulehnen wagte. Und nun setzte er sich näher noch zu ihr und, ihre Hand in der seinen, begann er, aus dem Buch zu lesen, von Dingen, an die Lottes keusche Seele nie zu rühren gewagt hatte. Sie verstand seine Dichtungen kaum zur Hälfte, aber die sengende Glut, die aus diesen freien Liebesliedern strömte, berauschte sie wie Haschisch. Tief drang das Gift ihr ins Blut, um so tiefer, je ahnungsloser sie es einsog.
Tritte hinter ihnen schreckten sie aus ihrem Rausch. Gerhart Schmittlein schloss hastig das Buch, als der weissgekleidete Aufwärter nach ferneren Befehlen fragte.
Ein unwilliger Wink machte ihn wieder verschwinden. Dann wandte er sich zu Lotte um. Ihre Hände fest in den seinigen pressend, sagte er beinahe atemlos: »Nun Lottchen?«
»Es ist gewiss alles sehr, sehr schön, aber ich – ich fürchte mich davor.«
Er streichelte sanft ihre Hand. Etwas wie ein grosses Mitleid lag in seiner warmen Stimme.
»Arme kleine Maus. Da sind sie ja, die Vorurteile, die engen, von denen ich sprach. Aber wir werden sie schon über Bord werfen und frei werden, frei –«
Ihr bittender Blick verschloss ihm den Mund. Nach einer kleinen Pause sagte sie zögernd, denn sie hatte eigentlich das instinktive Gefühl, ihn damit zu kränken:
»Und haben Sie nur solche Gedichte gemacht, gar keine andern?«
Er war nicht gekränkt, aber er sah sie mit humoristischer Ironie von der Seite an.
»Doch, Fräulein Lottchen, als ich noch ein dummer Junge war und Liebe auf Triebe, Sonne auf Wonne reimte.«
Er warf mit einer kleinen verächtlichen Bewegung den Kopf zurück.
Lotte, sah traurig zu ihm auf.
Dann begann sie zögernd noch einmal:
»Es braucht ja nichts von Liebe und Triebe und Sonne und Wonne darin vorzukommen – aber ich dachte, ein Dichter wie Sie, Herr Schmittlein, – so ein einfaches, kleines Lied – so etwas, was man gleich begreift und versteht –«[44] Die Thränen schienen ihr förmlich vom Herzen in die Kehle aufzusteigen.
»Möchten Sie ein solches Lied haben, Lottchen?«
»O Gott, ja, Herr Schmittlein, wenn es nicht zu unbescheiden ist, darum zu bitten. Gleich nach Weihnachten ist Mutters Geburtstag. Mutter liegt so einsam in ihrem kalten Grab. Mir ist so bange, wenn ich daran denke. Ein gutes Wort möchte ich für sie haben, wie ich es fühle, aber nicht aussprechen kann. Sie sind immer so gut zu mir, Herr Schmittlein, Sie werden mich nicht auslachen, nein?«
Er streichelte sanft ihre Hand, die neben der seinen auf der Marmorplatte lag. In diesem Augenblick kam es ihm furchtbar brutal vor, dass er diesem sanften, keuschen, schüchternen Geschöpf seine wilden Lieder vorgelesen hatte.
»Liebes Fräulein Lottchen – ich Sie auslachen? Wie können Sie so etwas denken? Gewiss mache ich Ihnen das Gedicht auf Ihrer Mutter Grab – nur weinen Sie nicht, bitte weinen Sie nicht! Ich kann's nicht sehen, Lottchen, wenn Sie weinen.«
Und er beugte sich sanft auf ihre gesenkte Stirn nieder und drückte seine Lippen auf diese reine weisse Stirn, mit einem Kuss, von dem in seinen Liebesliedern nichts zu lesen gewesen war.
Lotte dankte Gott, dass Lena noch nicht zu Hause war, als sie, noch immer zitternd vor Erregung, eintraf. Ohne etwas zu geniessen, kleidete sie sich aus und legte sich zu Bett.
Als Lena um halb elf kam, wollte sie sich erst schlafend stellen, aber Lena beugte sich so zärtlich über sie und fragte so fürsorgend, ob sie auch nicht krank sei, dass Lottchen es nicht fertig bekam, der Schwester etwas vorzumachen.
Halb in den Kissen verborgen, damit Lena ihr heisses Gesicht nicht sehen sollte, gab sie zur Antwort, dass sie ein wenig Kopfweh habe, das sie schon verschlafen werde.
»Und ich hätte Dir eine so hübsche Neuigkeit zu erzählen, von der Du nun gewiss nichts hören magst«, schmollte Lena, indem sie das Oberkleid ablegte.
»Nein, nein, erzähle nur, wenn es etwas Hübsches ist, werde ich umso besser danach schlafen.«
Und sie streckte Lena eine fieberheisse Hand aus den Kissen entgegen.
Lena setzte sich auf Lottes Bettrand und begann ihr schweres dunkles Haar auszubürsten und in einen langen dicken Zopf zu flechten. Dabei kicherte sie leise vor sich hin.[45]
»Diesmal habe ich eine Einladung, Lotte, – Du bekommst einen Kuss, wenn Du rätst, bei wem!«
Lotte zerbrach sich den schmerzenden Kopf. Ausser Marie Weber wollte ihr niemand einfallen.
Lena schüttelte sich vor Lachen, dass die schmale Bettstatt krachte.
»Na, ich will Dir's sagen, aber Deinen Kuss bekommst Du nicht. Auf den Rücken kannst Du nicht mehr fallen, denn das hast Du vorsichtiger Weise schon vorher besorgt – also spitze die Ohren, das ist das einzige, was Dir noch zu thun übrig bleibt und höre: Ich bin zum ersten Feiertag bei Oberstleutnants eingeladen.«
Sie betonte jedes Wort einzeln und setzte einen dicken Gedankenstrich zwischen jede Silbe.
Lotte richtete sich nun doch in die Höhe und sah Lena ungläubig an.
»Geh doch, Du machst Dir einen Witz mit mir, Lena. Dafür bin ich heut nun gerade nicht aufgelegt.«
Lena packte die Schwester bei den Schultern.
»Aber nein, aber nein. Du kannst mir's schon glauben. Heut in der Pause kamen die beiden Fräulein von Strehsen ganz feierlich an – die Bemerkung von damals, weshalb all' ihre Brüder zum Militär müssten, wenn kein Geld dazu da sei, hat Fräulein Clementine, wie ich damals gleich vermutete, mir längst vergeben – und fragten, ob ich am ersten Feiertag abends ihnen das Vergnügen meines Besuches schenken wollte. Du siehst, Lotte, ich avanciere schneller als Du.«
Dabei riss sie die Schwester an sich und küsste sie übermütig auf den Mund.
Lotte seufzte, machte sich los und vergrub den heissen Kopf wieder in den Kissen, während Lena, das Ende ihres Zopfes zwischen den schimmernden Zähnen, lustig weitersprach.
»Es wird nur ein kleiner Kreis beisammen sein – sonst könnte ich ja auch, der Trauer wegen, nicht hingehen. Ein paar junge Mädchen, zwei der Brüder, ein Kadett und ein Leutnant, und ein paar Freunde des Leutnants, simple Zivilpersonen. Ihr Vater, so habe Elisabeth, die zweite Strehsen, ihr erzählt, sei zwar sonst gar nicht für die Geselligkeit, aber zu Weihnachten werde allemal eine Ausnahme gemacht. Na, was sagst Du nun, Lotte?«
Dabei liess Lena, die inzwischen ihre Nachttoilette beendet hatte, ihren Zopf wieder frei, zog die Strümpfe von den flinken kleinen Füssen und schlüpfte neben Lotte unter die Decke ihrer eigenen schmalen Bettstatt.[46]
»Wenn die in unserem Nest zu Hause das hören, die platzen vor Neid. Bei einem wirklichen adligen Oberstleutnant, mit Leutnants, Assessoren und sonst noch was.«
Lena zitterte förmlich vor Vergnügen.
»Du, sag' 'mal, Lotte, was zieh' ich blos an? Mein schwarzes wollenes so ohne ein bischen weiss sieht ganz abscheulich aus. Schwarz steht mir überhaupt scheusslich, Dir viel besser, weil Du helleres Haar und zartere Farben hast.
Meinst Du, ich könnte einen weissen Umlegekragen und einen schwarz und weiss karrierten Shlips dazu nehmen?«
»Aber Lena, Muttchen ist doch kaum ein Vierteljahr tot!«
»Freilich – aber – schliesslich – hier wo das Niemand so genau weiss – und dann, ich muss Dir sagen, die schwarzen Kleider machen am Ende auch nicht die wahre Trauer aus. Bei uns hört man so manches, was in schwarzen Trauerkleidern gesündigt wird.«
Lotte fühlte sich schwer getroffen. Was hatte sie selbst nicht heut auf ihr Gewissen geladen! Sie dachte an die schwüle Stunde in der Konditorei und an Herrn Schmittleins Kuss. Gewissensbisse peinigten sie. Gewiss, wie viel schlimmer war das alles, als ein weisser Kragen und ein karrierter Shlips!. Und während ihr wieder heisse Ströme durchs Blut jagten, als sie der vergangenen Stunden gedachte, sagte sie, ihren Kopf aufs neue vor Lena verbergend, kleinlaut:
»Eigentlich hast Du recht. Nimm ruhig einen weissen Kragen und einen karrierten Shlips. Und nun bitte, lösch' das Licht aus. Mein Kopf thut schrecklich weh.«
Lena war im Umsehen eingeschlafen, während Lotte noch stundenlang in fieberhafter Erregung dalag. Sie konnte die wilden, heissen Worte in Gerharts Liedern nicht vergessen, den seltsamen Ausdruck nicht, mit dem seine Augen dabei auf ihr geruht hatten. Würde sie das alles jemals ganz verstehen lernen? –
Die vierzehn Tage bis Weihnachten gingen wie im Fluge dahin. Beide Schwestern hatten alle Hände voll zu thun. Neben den Berufsarbeiten sollten noch Weihnachtsgeschenke für zu Haus und gegenseitige kleine Ueberraschungen angefertigt werden. Und dabei kam Lotte nicht von der Stelle. Die Glieder waren ihr schwer wie Blei, und wie zerschlagen schlich sie umher. Bei der Arbeit sanken ihr die Hände traumverloren in den Schoss. Mit fragendem, suchendem Ton murmelte sie dabei einzelne Stellen aus Gerhart Schmittleins Liebesliedern vor sich hin, unablässig darüber grübelnd, was er mit ihrer Erlösung und der freien Liebe gemeint habe.
Ihn selbst hatte sie seit jenem Abend nicht wiedergesehen.[47] Jeder Möglichkeit einer Begegnung ging sie sorgfältig aus dem Wege. Sie machte nur die notwendigsten Gänge und die zu Stunden, von denen sie wusste, dass er im Geschäft festgehalten war. Die Weihnachtsbesorgungen überliess sie Lena.
Trotzdem Lotte so träge und zerstreut gearbeitet hatte, war zwei Tage vor Weihnachten alles fertig. Die Hüte für ihre Kundschaft sowohl, als das Hauskäppchen für den Vater, ebenso die kleinen Aufmerksamkeiten für Lena und Frau Wohlgebrecht.
Lotte war gerade dabei, das Postpacket für zu Hause zu packen, als es draussen an der Flurthür klingelte. Sie fuhr zusammen und wurde kreidebleich.
Mein Gott, wenn er es wäre! Es war schon spät, fast neun Uhr, und sie war ganz allein.
Zögernd ging sie, um zu öffnen. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sie Frau Wohlgebrecht vor sich sah, trotzdem die kleine Frau ein grimmiges Gesicht machte und heftig auf Lotte einschalt.
»Was fällt Ihnen denn ein, Sie kleines Ungeheuer, sich gar nicht mehr bei uns sehen zu lassen? Was soll denn das bedeuten, hm?«
»Es gab so viel zu thun«, murmelte Lotte verlegen, ihren Gast ins Zimmer nötigend.
»Ach was, gute Nachbarschaft kann man deswegen doch halten. Da wird wohl noch was andres dahinter stecken. Kann mir's schon denken, der Junge hat sie weggegrault mit seinem modernen Firlefanz. Habe ihm auch schon meine Meinung gesagt. Nee, nee, Sie brauchen nicht zu widersprechen, Fräulein Lottchen. Glauben Sie, ich hätte es nicht gemerkt, dass die Geschichte neulich Ihnen nicht gefallen hat, wenn Sie mit Ihrem lieben Gesicht auch nicht so spöttisch dazu ausgesehen haben, wie Ihre Schwester Lena. Und wer weiss, vielleicht hat er Ihnen in irgend einer stillen Stunde auch noch seine Gedichte verzapft. Sehen Sie, Sie werden dunkelrot. Ich kenne die Verse zwar nicht, aber sie werden danach sein. Das Talent in Ehren, allemal, da reicht sobald keiner 'ran, – aber die moderne Puschel – puh!
Sie haben ganz recht, dass Sie uns aus dem Wege gehen. Na, ich werde schon dafür sorgen, dass er Sie ungeschoren lässt. Er soll seine moderne Kunst wo anders auskramen als vor Ihnen. Es giebt ja genug verdrehte Leute, die Gefallen daran finden, eben blos, weil's Mode ist und sozusagen in der Luft liegt.
Blos wir beide, wir sind nicht reif dafür. Na, ich werd's ja nun auch wohl nicht mehr werden, und Ihnen, Lottchen,[48] wünsch' ich es nicht einmal. Aber nun endlich zur Hauptsache. Sie kommen doch Heiligabend zu uns 'rum? Ihrer Schwester sag' ich's nicht, der hat's bei uns nicht gefallen. Nee, reden Sie nichts dagegen, Lottchen, das hat man ihr an der Nase angesehen. Die Wohlgebrecht ist ihr zu simpel, die will höher hinaus. Recht hat sie. Aber Lottchen, Sie hab' ich nun 'mal in mein Herz geschlossen, Sie würde ich ungern entbehren. Ganz einfache Berliner Weihnachten: Karpfen und Mohnpiehlen und 'ne nette Tanne und nur uns drei drum 'rum.«
Lotte hätte für ihr Leben gern zugesagt.
In Frau Wohlgebrechts Schutz fühlte sie sich mit Gerhart Schmittlein ganz sicher, und an dem kleinen, behaglichen, altmodischen Zimmer, das Lena so »spiessig« fand, hing sie schon wie an einer Art Heimat. Aber wie durfte sie ohne Lena?
Unmöglich konnte sie die Schwester am ersten Weihnachtsfest in der Fremde allein lassen.
In eben diesem Augenblick steckte Lena den lustigen Kopf mit dem kleinen schwarzen Pelzbarett durch die Thür.
»Nur näher Lena, es ist Frau Wohlgebrecht.«
»N' Abend, Fräulein.«
In gerechter Selbsterkenntnis ihres neulichen unliebenswürdigen Betragens, war Lena ausnahmsweise zuvorkommend gegen Lottes Besuch. Bei der Erwähnung der Einladung stimmte sie lebhaft dafür, dass Lotte ja annehmen möchte.
Sie könnten einander ja zeitig bescheeren und dann möge Lotte getrost zu Frau Wohlgebrecht herumgehen. Sie selbst habe für sie beide heut eine Aufforderung von Marie Weber bekommen, den Heiligabend mit ihr bei ihrer Tante zu verbringen. Da würde sie dann auf ein Stündchen allein hingehen. Und ihre Arme von hinten um Lottes Hals schlingend, fuhr Lena lustig fort:
»Beichte nur gleich, Lottchen, dass Du am ersten Feiertag Strohwitwe bist ..... Frau Wohlgebrecht wird sich Deiner gewiss mit Freuden annehmen.
»Ich« – fügte sie mit trocken humoristischer Herausforderung gegen Frau Wohlgebrecht gewandt, hinzu – »bin nämlich für den ersten Feiertag bei Oberstleutnants von Strehsen eingeladen.«
Lena war auf eine gereizte Antwort gefasst gewesen, aber Frau Wohlgebrecht that das gerade Gegenteil. Sie tätschelte Lena freundlich auf den Arm.
»Ei, das freut mich«, sagte sie. »Das ist was für Sie, Fräulein. Da wird's Ihnen besser gefallen als bei mir simplen Frau.«[49]
Lena war ehrlich beschämt und unterliess es, noch weiter mit der Strehsenschen Einladung zu protzen. Bei der ersten schicklichen Gelegenheit räumte sie das Feld.
Auch Frau Wohlgebrecht brach bald auf, nachdem sie Lotte eindringlich ans Herz gelegt hatte, ja nicht später als acht Uhr zu kommen. –
Am Heiligabend früh traf ein Kistchen von zu Haus bei den Schwestern ein. Zwei Briefe lagen obenauf. Der eine vom Vater, der bisher kaum mehr als ein paar flüchtige Postkarten an seine Kinder geschrieben hatte; der andere Brief war von Franz Krieger. Lotte legte beide bei Seite. Sie sollten gemeinsam unter dem Weihnachtsbaum gelesen werden.
Den Inhalt des Kistchens packte sie mit wehmütigen Empfindungen aus.
Welch ein Unterschied zwischen dem Vorjahr, da Mütterchen noch zwischen ihnen geweilt hatte, und heute. Und was alles lag zwischen jenem letzten Weihnachten und dem heut! Allein die letzten beiden Wochen seit dem Abend in der Konditorei erschienen ihr ein ganzes Leben voller Zweifel und Fragen zu enthalten.
Der Vater hatte selbstgeschüttelte Nüsse aus Karstens Garten, ausserdem für jede von ihnen einen kleinen, gut gemeinten, aber recht überflüssigen billigen Schmuckgegenstand gesandt.
Franz Krieger war ganz aufs praktische bedacht gewesen. Den Hauptinhalt der Kiste machte sein Geschenk, eine Fülle von Kolonialwaaren aus seinem Geschäft, aus, welche die Wirtschaftsausgaben in der That auf lange Zeit hinaus wesentlich erleichtern mussten.
Um halb drei Uhr kam Lena nach Haus. Dann wurde schnell gegessen und bei einbrechender Dunkelheit das kleine Bäumchen angezündet.
Als die Schwestern dann Hand in Hand in Lottes »Atelier« gingen, das heut als Weihnachtszimmer diente, wurde ihnen beiden doch bitter weh ums Herz und schluchzend sanken sie einander in die Arme.
Lena war, wie immer, zuerst getröstet. Sie betrachtete die Geschenke und machte eine kleine spöttische Bemerkung über Kriegers für ihren Geschmack allzu praktische Weihnachtsgabe. Dann griff sie nach seinem Brief, der an beide Schwestern gerichtet war.
Sie studierte lange daran herum und legte ihn dann scheinbar unbefriedigt bei Seite.
Zu Lotte sagte sie nur: »Frau Krieger kränkelt und Onkel Fritz in Anklam ist gestorben.« Da Lotte keine Anstalten[50] machte, gleich selbst zu lesen, nahm Lena den Brief noch einmal auf, und mit einer unwilligen Kopfbewegung begann sie die folgende Stelle vorzulesen:
»Je länger Ihr fort seid, desto mehr bedrückt es mich, dass ich Eurem Vater nicht viel entschiedener abgeredet habe, Euch ziehen zu lassen. Alle Zeitungen sind voll von dem Elend alleinstehender armer Mädchen, einer gewissen Art von Elend, von dem Ihr ja, Gott sei Dank, keine Ahnung habt. Die Statistik über Arbeitsangebot und Nachfrage beweist ausserdem immer aufs neue, dass der Zuzug der Arbeitsuchenden ausser allem Verhältnis zu der Möglichkeit steht, einem jeden Zugezogenen ausreichende Arbeit zu gewähren. Ich beunruhige mich sehr um Euch, auch die Mutter. Du, Lena, hast ja inzwischen Deine Anstellung erhalten und könntest am Ende, wenn Du Dich in einer Familie einlogiertest wie Deine Freundin Marie, ganz gut mit Deinen Tagegeldern auskommen. Mit Schaudern aber denke ich daran, wie sauer es Euch werden muss, einen Hausstand zu erhalten. Lotte wird bei der Arbeit, die sie dazu leisten muss, ihre zarte Gesundheit völlig ruinieren.
Vielleicht, Lotte, würdest Du Dich entschliessen, wieder nach Hause zu kommen. Du wirst Dir ja nun, nach einem Vierteljahr, ziemlich klar darüber sein, wie es sich mit der Kundschaft macht. Hier sollte Dir eine reichlich auskömmliche garantiert sein, wenn Du Dich entschlössest zurückzukommen. Was Deinen Vater betrifft, so wird natürlich kein Mensch von Dir verlangen, dass Du bei Karsten mit ihm wohnen sollst. Das ist auch gar nicht nötig, Du weisst, meine Mutter hat Platz genug in ihrer Wohnung und würde Dich gern bei sich aufnehmen. Ueberlegt Euch meinen Vorschlag.
Auch für Lena wäre es vielleicht besser, sie käme zurück –«
Lena warf noch einmal ebenso unwillig den Kopf zurück, wie sie es gethan, als sie die Stelle vorzulesen begonnen.
»Was sich Franz nur denkt! Zurückgehen wie ein paar dumme Göhren und sich von dem ganzen Nest auslachen lassen. Zu dumm!«
»Franz meint es gut!«
»Nun, so geh doch Du!«
Lotte schüttelte mit abweisender Miene und mit ins Leere starrenden Augen den Kopf.
»Nein – nie – nie!«
»Gott sei Dank, dass Du vernünftig bist. Ich hatte schon die grösste Angst, Du würdest darauf reinfallen. Berlin[51] wieder verlassen, welch ein Gedanke! Das schöne, wundervolle Berlin!
Ich werde Franz ordentlich den Standpunkt klar machen. Er thut ja gerade, als ob wir rein gar nichts wüssten und könnten und nur gerade hier sässen, um aufs Verhungern und Verkommen zu warten.«
Dann flog ein triumphierendes Lächeln über Lenas frisches Gesicht. »Wenn er erst von meinem Umgang mit Oberstleutnants hört, wird er wohl andere Saiten aufziehen.«
Dabei sprang sie auf und biss in ein grosses Stück des würzigen Weihnachtsgebäckes, das Franz Kriegers bekrittelter Sendung beigelegen hatte. Behaglich knabbernd erbat sie dann des Vaters Brief von Lotte. Der war ebenso sorglos und egoistisch, als Franz Kriegers besorgt und selbstlos geklungen hatte.
Er schrieb, dass es ihm bei Karsten dauernd vortrefflich ergehe. Bei Eintritt der rauhen Witterung habe ihn sein Beinstumpf zwar wieder geschmerzt und gezwickt, jetzt sei aber alles wieder gut. Karsten heize ordentlich ein und sein Stübchen sei so ruhig und mollig, wie er es das ganze Leben nicht gekannt, das Essen vortrefflich und Karsten sein Korn eine honorige Nummer.
Ihnen beiden ginge es ja, wie es scheine, auch vortrefflich. Ein grosses Weihnachtsgeschenk dürften sie nicht von ihm erwarten. Seine Pension reichte ja man gerade für sein Auskommen aus. Zu Weihnachten oder zu Neujahr würde sich der Klockower hoffentlich anständig erweisen und ihm den blauen Lappen wieder zukommen lassen. Wenn dann die Mädchen mal auf Besuch nach Haus kämen, würde er ihnen ein anständiges Geschenk machen.
Dass er die Mutter oder seine Töchter entbehre, davon schrieb er kein Wort.
Schweigsam legte Lena des Vaters Brief wieder auf den Weihnachtstisch zurück. Sie hatte es sich lange abgewöhnt, über seine Eigenheiten zu sprechen.
Von der Jerusalemer Kirche schlug es Acht.
»Jetzt musst Du rumgehen, Lotte, es ist die allerhöchste Zeit, ich will nun auch aufbrechen, ich habe so wie so noch einen weiten Weg bis zu Maries Tante.«
Sie löschten den Weihnachtsbaum aus. Dann machten sie sich schnell zurecht und gingen zusammen die Treppe hinunter und über den stillen Hof.
Vor der Thür trennten sich ihre Wege.
Lotte ging rechts die paar Häuser zu Frau Wohlgebrecht hinauf, Lena suchte die nächste Pferdebahnhaltestelle auf. – Frau Wohlgebrecht hatte die Thür schon in der Hand.[52]
»Endlich, endlich, Kindchen! Der Gerhart ist heute wie ein kleiner Junge, er kann den Aufbau nicht erwarten.
Na, viel kriegt er nicht. Immer dasselbe: drei Oberhemden und ein Vierteldutzend Strümpfe. Sauber und adrett muss der Mensch sich halten, selbst wenn er ein Genie ist.
Was soll denn das heissen, Herzchen. Für mich? Ein schöner Unsinn, auch noch was mitzubringen.«
Lotte murmelte etwas, von Dankbarkeit abtragen. Aber Frau Wohlgebrecht, die so etwas absolut nicht vertragen konnte, unterbrach sie eilfertig.
»Also, das soll der Gerhart haben, und das ich?«
Sie küsste Lotte auf die in letzter Zeit recht schmal gewordene blasse Wange.
Gerhart Schmittlein steckte den Kopf durch die Thür.
»Ja, ja, wir kommen schon! Was der Junge heut für 'ne Unruhe hat!«
Wenige Augenblicke später – Frau Wohlgebrecht hatte den beiden kaum Zeit zu einer Begrüssung gegönnt – standen sie unter dem Weihnachtsbaum, den Gerhart wunderhübsch und weihevoll mit weissen Lilien und goldbesternten Kerzen ausgeschmückt hatte.
Lotte fand auf ihrem Platz ein paar nützliche Gaben von Frau Wohlgebrecht, daneben ein Buch, aus dem ein weisser Briefumschlag hervorsah und ein paar frische Blumen von Gerhart.
Mein Gott, wie gut diese Menschen mit ihr waren! Nachdem man einander dankbar die Hände gedrückt, ging Frau Wohlgebrecht in die Küche, um nach den Karpfen zu sehen.
Einen Augenblick blieb es ganz still zwischen den beiden Zurückgebliebenen. Dann trat Gerhart auf Lotte zu, die mit niedergeschlagenen Augen vor ihrem Platz stand, seine Blumen in der Hand. Nur um etwas zu sagen, fragte er mit seiner leisen, warmen Stimme:
»Freuen Sie die Blumen ein bischen, Lottchen? – Das Buch wird Ihnen vielleicht heute noch nicht gefallen – ich muss Sie erst noch ein wenig dafür erziehen – und was darin steckt, das haben Sie sich ja ganz besonders bei mir bestellt. Das Gedicht auf das Grab Ihrer Mutter!«
Sie legte ihre Hand in seine schon lange ausgestreckte und hob den Blick mit sanfter, dankbarer Zärtlichkeit zu ihm auf.
»Wie gut Sie sind! Darf ich – ich möchte es am liebsten erst lesen, wenn ich ganz allein bin!«
Sie sah so hinreissend aus in ihrer hilflosen, dankbaren Hingabe, dass er sie am liebsten an seine Brust genommen und ihr blasses Madonnengesichtchen mit Küssen bedeckt hätte;[53] aber er bezwang sich. Er hatte es wohl gefühlt, wie schon die wilde Leidenschaft seiner Gedichte sie zurückgestossen. Sie musste es erst lernen, die Liebe zu begreifen, die sein Ideal war. So fuhr er ihr nur leicht und zärtlich über das schöne Haar.
»Lesen Sie die Verse, wann Sie wollen, Lottchen. Morgen sagen Sie mir dann, wie sie Ihnen gefallen haben.«
Lotte nickte stumm und machte langsam ihre Hand aus der seinen, heiss pulsierenden los. Sie fürchtete sich vor den glühenden Schauern, die sie das letzte Mal so nahe bei ihm durchhebt hatten.
»Weshalb haben Sie sich so lange nicht sehen lassen, Fräulein Lottchen? Waren Sie mir böse?«
»O nein, aber es gab viel zu thun, ich hatte zum Lesen keine Zeit – und auch nicht zum Kommen –«
»Und mich fragen Sie gar nicht, weshalb ich seit jenem Abend nicht nach Ihnen gesehen – Ihnen nicht einmal geschrieben habe? Haben Sie gar nicht daran gedacht?«
Lotte antwortete nicht. Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass sie zwischen Bangen und zweifelnden Fragen und heisser, uneingestandener Freude an nichts gedacht hatte als an ihn.
»Ich hatte auch zu thun, Fräulein Lottchen. Ich wollte Ihnen gern eine Freude bereiten – wissen Sie welche?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe ein paar Skizzen geschrieben, so im landläufigen Sinn, dran ist nicht viel, – und nun raten Sie einmal!«
Sie errötete und sah fragend zu ihm auf, der schon wieder dicht vor ihr stand.
»Ich habe die Skizzen verkauft, Lottchen, an eine grosse Zeitung und Geld dafür bekommen – eine ganze Menge Geld, und deshalb konnt' ich Ihnen heut eine Weihnachtsfreude bereiten und morgen –«
In diesem Augenblick trat Frau Wohlgebrecht ein, und mit ihr zog der würzige Duft der Weihnachtskarpfen in das Zimmer.
»Schnell, schnell, Kinder, es ist angerichtet.«
Sie gingen in das kleine Esszimmer nebenan. Gerhart hatte den Tisch mit Tannenzweigen geschmückt, die ihren Duft angenehm und echt weihnachtlich mit dem der Karpfen mischten.
In der Mitte des Tisches stand eine Champagnerflasche, rings herum drei Weingläser. Sektkelche gab es im Hause Wohlgebrecht nicht. –
Die gutherzige Wirtin strahlte, als sie Lottchens erstauntes Gesicht sah.[54]
»Na, was sagen sie nun, Herzchen? Alles der Junge.«
Und sie tätschelte den grossen Menschen zärtlich auf den Rücken wie ein kleines Kind.
»Er hat Ihnen wohl schon gebeichtet, Lottchen?«
Aber das ganze gute Geld musste nun auch gleich zum Fenster hinaus!
»Für Sie hat er ja denn auch noch eine grosse Ueberraschung vor! Darf ich Gerhart?«
»Weshalb nicht, Tantchen!«
»Für morgen hat er zwei Theaterbillette gekauft, zu einem neuen Stück im Deutschen Theater. Da will er mit Ihnen hingehen.«
»Mit mir?«
»Ja, Fräulein Lottchen, mit Ihnen, wenn Sie meine Einladung nicht verschmähen?«
»Und Ihre Frau Tante?«
Frau Wohlgebrecht lachte.
»Ich? Gott soll mich bewahren! Keine zehn Pferde kriegen mich in so 'n modernes Stück. Ich geh' nur ins Schauspielhaus oder ins Berliner auf 'n Abonnementsplatz und seh mir den ollen Schiller an oder 'mal die »Zärtlichen Verwandten«, oder so was. »Gehen Sie in Gottes Namen allein mit ihm. Für mich ist so was nichts.«
Lotte machte ein tötlich verlegenes Gesicht.
»Na, Sie werden sich doch nicht genieren, Kind? Wenn ich es erlaube, ist's auch in Ordnung und nichts dabei, und allzu etepetete muss man auch nicht sein, wenn man jung ist.«
Gerhart, der Lotte gegenüber sass, warf ihr einen flehenden Blick zu.
O Gott, nein, sie konnte nicht ablehnen. Sie durfte ihn nicht erzürnen, er hatte es wahrlich nicht um sie verdient.
So hob sie die Augen mutig zu ihm auf und sagte ernst und herzlich:
»Es ist nicht so wie Ihre Tante meint. Nur gegen mein armes Muttchen ist es nicht ganz recht gehandelt, wenn ich jetzt schon ins Theater gehe, aber dennoch, ich nehme es dankbar an.«
»Bravo«, rief Frau Wohlgebrecht, die dem »lieben Wurm« gern das Beste gönnte.
Gerhart sagte nichts. Er hob nur sein sektgefülltes Glas gegen sie auf und blickte sie mit strahlenden Augen an. Er versprach sich so unendlich viel von diesem Abend. Schwer hätte es ihn getroffen, wenn sie sich ernsthaft geweigert hätte.
Im Laufe des Abends erzählte er ihr von dem Stück, in das sie morgen zusammen gehen wollten. Zwar hatte er es[55] von der Bühne noch nicht gesehen, aber er kannte es längst vom Lesen.
Es war Hauptmanns »Versunkene Glocke«.
Als Lotte hörte, dass es ein tiefernstes Werk sei, was Herr Schmittlein ihr zeigen wollte, beruhigte sich ihr aufgeschrecktes Gewissen. Nein, damit würde sie an der toten Mutter kein Unrecht begehen. Auch von dem Dichter erzählte ihr Gerhart. Er sagte ihr, dass er ihn für den Genialsten unter den Modernen halte und dass es sein grösster Stolz sei, denselben Namen zu tragen wie er.
So eilten die Stunden wie im Fluge dahin. Es war elf Uhr, als Lotte, von Gerhart geleitet, nach Hause ging. Während des kurzen Weges wurde kaum noch ein Wort zwischen ihnen gewechselt. Hand in Hand, als ob es nicht anders sein könne, gingen sie schweigend durch die stille, milde, sternenhelle Nacht.
Lena schlief schon, aber Lotte konnte sich lange nicht entschliessen, ihr Lager aufzusuchen.
Sie zündete die Lampe an und setzte sich mit Gerharts Gedicht unter den Weihnachtsbaum. Nachdem sie es gelesen hatte, zog eine grosse, weihevolle Zärtlichkeit in ihr Herz. Lotte wusste nicht, galt sie der toten Mutter, galt sie ihm, der der Teuren so herzliche Worte ins Grab nachgesungen hatte. Inbrünstig drückte sie das Blatt an die Lippen. Nachts musste es unter ihrem Haupte ruhen. So war es ihr, als habe sie von beiden ein Stück Liebe bei sich, von der Mutter und dem Freund. –
Als sie am nächsten Abend neben Gerhart im Deutschen Theater sass, kam sie sich wie in einer anderen Welt vor.
Sie hatte sich ein Berliner Theater zwar viel schöner, eleganter und lichter vorgestellt, als dieses grosse, düstere, unschmucke Haus, aber die überwältigende Menge von Menschen, die es füllte, die eleganten Festtagstoiletten der Damen, besonders in den Logen, das geheimnisvolle Raunen und Rauschen und Tuscheln, das Gesumm und Gesurr, ehe der Vorhang sich hob, war ihr schon etwas so ungewohntes, dass es ihr völlig den Kopf benahm.
Gerhart hatte sich die für seine Verhältnisse ungeheuerliche Ausgabe gemacht, zwei Parquetplätze zu kaufen. So sassen sie mitten drinnen in dem bunten, lebhaften Getriebe, und Lotte kam sich in ihrem schlichten schwarzen Kleid unter all' den geputzten, feiertäglich angethanen Menschen wie ein Schatten, wie ein Nichts vor. Nur wenn sie zu Gerhart aufsah, der ernst und feierlich dasass wie in der Kirche, fühlte Lotte sich wieder gehoben.
War sie nicht an der Seite eines Dichters, als seine[56] Freundin, als seine Vertraute! Konnte dieser Dichter nicht einst ebenso gross und berühmt werden, wie der, dessen Werk sie nun hören und sehen sollte! Und war diese Gemeinschaft nicht ein weit herrlicherer Schmuck als das prächtigste Festtagsgewand!
Mit einem Blick grenzenloser Dankbarkeit blickte sie zu Gerhart auf. Tief und lange erwiderte er den Blick und still liess sie es geschehen, dass seine Hand liebkosend wieder und wieder über die ihre fuhr.
So, in weihevoller Stimmung sassen sie beide da, bis der Vorhang sich hob. Lotte lauschte vorgebeugten Hauptes.
Es kam ihr schwer an, diese eigentümliche Sprache zu verstehen, die ihrem Ohr oft wie ein gänzlich fremdes Idiom klang. Aufs äusserste strengte sie sich an, dem Dialog und der Entwicklung der Handlung zu folgen; sie wollte so über alles gern Gerharts Vertrauen rechtfertigen und eine Dichtung bewundern, die er so hoch stellte. Aber je mehr sie sich darein zu vertiefen suchte, je weiter die Handlung fortschritt, um so verwirrter und enttäuschter wurde sie.
Das einzige, was sich für ihr Verständnis klar heraushob, war das Verhältnis des Glockengiessers zu seiner Frau. Und das missbilligte sie aus tiefster Seele. Dass Heinrich sein braves Weib verlassen konnte, das sich so herzlich um ihn gebangt hatte, dass er seiner kleinen Kinder vergass, um dem fremden, schönen Rautendelein zu folgen, darin konnte sie nicht, wie Gerhart, eine grosse, befreiende That erblicken. Wenn so viel Sünde nötig war, um den Men schen zum echten Künstler zu machen, dann war ja das Talent weit mehr ein Fluch als ein Segen. O Gott, nein, sie konnte Gerharts Anschauungen über diesen Punkt ganz und gar nicht teilen.
Für Lotte war das Scheiden Heinrichs von seiner Frau keine Notwendigkeit, sie konnte in dem Zusammenleben des Glockengiessers mit Rautendelein nichts poetisch Hinreissendes erblicken. Ganz im Gegenteil, abschreckend, verdammenswert schien ihr das eine wie das andere, und wie ein Stich ging's ihr durchs Herz bei dem Gedanken, dass Gerhart Schmittleins freie Liebe am Ende auch nichts anderes sei als das, was sie heute vor sich sah. Sie hasste das schöne Rautendelein mit all seinen Künsten und Wundern für das, was es an den armen Glockengiessersleuten verschuldet hatte.
Auch für den schwermütigen Humor des Nickelmann, für den faunischen des Waldschrat zeigte Lotte nicht das geringste Verständnis.[57]
Von allen Personen des Stückes liess sie allein den Pfarrer, Frau Magda und die unschuldigen Kindlein gelten.
Gerhart war in Verzweiflung. Ausserordentliches hatte er sich von dem Eindruck des Werkes auf ihr empfängliches Gemüt erwartet. Und nun musste er einsehen, dass er in seiner Hast, sie zu dem zu machen, was ihm einzig ersehnenswert dünkte, nur vorschnell und übereilt gehandelt hatte. Der Wunsch war diesmal der Vater eines gänzlich verfehlten Gedankens gewesen. Nicht sie, ihn traf die Schuld. Mehr als ungerecht, knabenhaft kindisch war es von ihm gewesen, von Lotte heute schon ein Verständnis für eine solche Dichtung zu erwarten.
Bei der Ungeduld, die ihn marterte, Lotte ganz für sich zu gewinnen, war es doppelt hart, sich das eingestehen zu müssen. Alles, alles erwartete er von ihr.
Mit Seele und Leib sollte sie sein werden, seine Muse, sein Geschöpf!
Beinahe vom ersten Augenblick an, da er sie gesehen, hatte er das Gefühl gehabt, dass es ohne dieses Mädchen jemals weder Erfolg noch Glück für ihn geben könne.
Je länger sich dieses Zusammenschmelzen verzögerte, je brennender wurde sein Verlangen danach. Wie lange sollte er noch warten? Von Kind an war er leidenschaftlicher Natur gewesen. Was er begehrte, musste er besitzen. Besass er aber erst einmal, so war es zumeist mit der Lust am Besitz auch schon vorbei gewesen. Oft schon hatte er begehrt, oft schon hatte der Ueberdruss am Erreichten ihn gepackt, aber so sehnsüchtig, so mit allen Fibern hatte er noch nie nach etwas verlangt, wie danach, die friedlich schlummernde Seele, die schlafenden Sinne dieses keuschen, reinen, zärtlichen Geschöpfs zu wecken.
Dass er Lottes Herz längst besass, wusste er. Aber nach dieser altmodischen, madonnenhaften Liebe fragte er nicht. Er, der Verkünder der freien Leidenschaft, der moderne Rebell gegen alles Bestehende, wollte das Weib und seine Liebe so, gerade so, wie sein Programm es erforderte.
Wie eine mächtig auflodernde Flamme wollte er des Weibes Liebe haben. Glut und Verheerung sollte sie bringen. Mit loderndem Wonnebrand den Geliebten umschliessen zu kurzem überseligem Rausch. Und wie ein Phönix aus der Asche dieses Glutenbrandes wollte er dann selbst zu höchster Meisterschaft erstehen. So und nicht anders wollte er lieben und geliebt sein.
Als sie nach dem Schluss der Vorstellung durch die Strassen gingen, brannte das alles wieder in Gerhart auf. Mit ungeduldigem Zorn presste er ihre Hand zwischen seinen[58] Fingern. Er war nahe daran brutal zu werden, aber ihre zärtliche Sanftmut entwaffnete ihn.
»Ich weiss, Sie zürnen mir. Haben Sie nur noch ein wenig Geduld! Vielleicht lerne ich noch alles was Sie wünschen. Bitte, Herr Schmittlein, zürnen Sie mir nicht. Ich kann's nicht ertragen, wenn Sie böse auf mich sind.«
Und dabei hob sie das feine, zärtliche Gesichtchen mit den warmen, unschuldigen Augen zu ihm auf wie ein Kind, das der Mutter Verzeihung erfleht.
Er beugte sich zu ihr nieder und küsste sie auf den Mund, ganz kurz und sanft, um sie nicht noch mehr einzuschüchtern. Dann aber presste er, von Leidenschaft übermannt, ihre beiden Hände zwischen die seinen und stöhnte:
»Versprich mir, dass Du mich begreifen willst, oder ich gehe zu Grunde. Durch Dich will ich werden, was ich werden kann. Du darfst mich nicht im Stich lassen, es wäre Sünde, Verbrechen. Schwöre mir, dass Du es nicht willst!«
»O Gott, ja – ja was Sie wollen, ich will es thun!«
»Du schwörst es?«
»Ja.«
Und sie an sich pressend rief er:
»Ich werde Dich an diesen Schwur erinnern. Bald, bald!«
Während Lotte und Gerhart Schmittlein so in schwermütigem seelischen Ringen den Feiertagsabend verbrachten, war Lena seit den letzten, für beide Schwestern überaus trüben Jahren, zum erstenmal wieder ganz in ihrem Element.
Strehsens wohnten in Charlottenburg, nahe dem hinteren Eingang zur Flora. Schon der weite Weg mit der elektrischen Bahn machte Lena, wie alles Neue, das sich ihr bot, unbeschreibliches Vergnügen. Die festtäglich gekleideten Fahrgäste, die eleganten Fuhrwerke, die an ihr vorüberrollten, die langen Züge von Spaziergängern, die zu beiden Seiten der Chaussee sich ergingen, zu beobachten, war ein förmliches Fest für sie. Das Beste an dem langen Weg blieb aber, dass er Zeit gab, sich auszumalen, wie es bei Strehsens zugehen würde.
Sie sah sich schon die Steinstufen zu der eleganten Villa, von der Clementine und Elisabeth so häufig sprachen – in Charlottenburg konnte man sich den Luxus erlauben, nicht in einer Mietskaserne zu wohnen – hinaufsteigen, sie sah die Salons sich öffnen, sie atmete schon den aristokratischen Duft dieses vornehmen Kreises.[59]
Als sie dann endlich vor der sogenannten Villa, einem schmutziggrauen, zweistöckigen Hause in der Wilmersdorfer Strasse stand, fiel es Lena nicht einmal auf, wie vollständig dies Haus hinter der Schilderung der Schwestern und ihren eigenen Erwartungen zurückblieb, so ganz war sie von der Aussicht kommender Freuden eingenommen.
Die meisten Gäste waren schon in den zwei engen, mit altmodischen, verschossenen Möbeln und allerhand billigem Zierrat vollgestopften Zimmern versammelt, als Lena eintrat.
Einen Augenblick lang war sie von dem Bewusstsein, zum erstenmal in eine Berliner Gesellschaft zu treten, so benommen, dass sie verlegen auf der Schwelle stehen blieb. Als sie aber fühlte, dass ihr das Blut heiss in das Gesicht schoss, trat sie rasch entschlossen auf die ihr entgegeneilenden Schwestern zu.
Nein, sie wollte hier nicht als verlegenes, ungeschicktes Landgänschen auftreten und danach behandelt werden, um keinen Preis!
Nach kurzer Begrüssung nahmen Clementine und Elisabeth die junge Kollegin bei der Hand, um sie der Mutter zuzuführen.
Die Frau Oberstleutnant, eine grosse, hagere Gestalt mit scharfen Zügen, stand in der Mitte des Zimmers, als die drei Mädchen an sie herantraten. Mit herabgezogenen Mundwinkeln lächelte sie Lena missvergnügt an. Sie hatte nicht viel Zutrauen zu dieser Freundschaft aus der Provinz. Als Lena aber eine durchaus korrekte Verbeugung machte und geläufig ein paar verbindliche Redensarten vorbrachte, war die Frau Oberstleutnant sofort entwaffnet. So viel gesellschaftliche Routine hatte sie dieser kleinen Bürgerlichen nicht zugetraut.
Wahrhaftig, wenn man näher zusah, hatte dies hübsch gewachsene Mädchen mit dem frischen Teint, den blühenden Farben und dem prächtigen schwarzen Haar bedeutend mehr Chic und Eleganz als ihre eigenen hageren, blassblonden Töchter. Aus dem misstrauisch verzogenen Lächeln wurde eine wahrhaft freundliche Begrüssung. Die Frau Oberstleutnant, die noch immer viel auf die Dehors ihres heruntergekommenen Hauses hielt, war viel zu klug, um nicht auf den ersten Blick zu sehen, dass eine Persönlichkeit wie die Lenas, der abgestandenen Geselligkeit ihres Hauses nur nützen konnte.
Sie hatte längst einzusehen gelernt, dass man in Berlin dergleichen auffrischende bürgerliche Elemente mit in den Kauf nehmen musste, wollte man auch nur einigermassen Oberwasser behalten.[60]
Es hatte Mühe gekostet die Kinder, die bei ihr im Hause lebten oder doch am meisten um sie waren, mit dieser Einsicht zu befreunden. Die Mädchen, durch die tägliche Berührung mit den unterschiedlichsten Elementen weitsichtiger[61] gemacht, waren eher dahinter gekommen, dass die Mutter recht hatte. Bei ihrem Lieblingssohn Kurt, dem Leutnant, hatte es grösserer Anstrengungen bedurft, um den Beweis zu führen. Schliesslich, vor einigen Monaten etwa, hatte er dann aber einen gewaltigen salto mortale gemacht. Die meisten übrigen Bekanntschaften abschüttelnd, hatte er sich mit einer in Berlin sehr bekannten Persönlichkeit verbrüdert, mit dem jungen Bornstein, Chef eines der angesehensten Bankhäuser und nebenbei Gross-Grundbesitzer in der Nähe von Berlin.
Arm in Arm mit Max Bornstein betrat Kurt von Strehsen auch jetzt wieder das Zimmer. Er eilte mit dem Freunde ohne Umstände geradewegs auf die Mutter und die sie noch immer umstehenden drei Mädchen zu. Ohne sich des längeren mit einer weitschweifigen Begrüssung seiner Familie einzulassen, zu der er selbst Bornstein kaum Zeit liess, bat er, den Freund und sich der jungen Fremden vorzustellen.
Zeit zur Unterhaltung gaben Clementine und Elisabeth indes den jungen Leuten nicht mehr. Lena musste weiter, um endlich mit dem Papa bekannt zu werden.
Durch eine, mit verblassten grünen Portieren verhangene Thür zogen die Schwestern Lena in ein halbdunkles Berliner Zimmer, in dem an der einen Längswand ein kaltes Büffet aufgestellt war.
Der Herr Oberstleutnant sass an dem einzigen ziemlich breiten Fenster und stiess vernehmlich einen unwilligen Laut aus, als die Thür sich öffnete. Er trug ein schlechtsitzendes Civil und hatte die Kreuzzeitung vor sich auf den Knien, die er jetzt mit einem hörbaren Aufschlagen der Hand neben sich auf das Fensterbrett legte.
Clementine und Elisabeth liessen sich von der menschenfeindlichen Stimmung des Vaters, an die sie wohl gewöhnt sein mochten, indes nicht im geringsten einschüchtern.
Sie stellten ihm Lena, die er mit erzwungener Höflichkeit begrüsste, umständlich vor, richteten dann noch eine Unzahl möglichst überflüssiger Fragen an ihn, welche den alten Herrn vollends zur Verzweiflung brachten, und machten mit der wie auf glühenden Kohlen stehenden Lena erst Kehrt, als die Missstimmung des alten Herrn ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Lena, der die Situation immer fataler geworden war, machte den Mädchen Vorwürfe, den alten Herrn um ihretwillen gestört zu haben. Die etwas burschikose Elisabeth lachte darüber laut auf.
»Was sein muss, muss sein in einem guten Hause. Uebrigens[62] können Sie sich trösten, Fräulein Weiss. Papa ist immer so. Geselligkeit ist ihm verhasst. Für ihn existiert nichts als die Kreuzzeitung und die Rangliste.
Als sie das zweite Gesellschaftszimmer wieder erreicht hatten, traten Kurt und Max Bornstein den Damen ungeduldig entgegen. Die jungen Herren hatten es beide sehr eilig, ihre vermeintlichen Unterhaltungsrechte an Fräulein Weiss geltend zu machen, da sie vorher schnöde zu kurz gekommen waren.
Leutnant Kurt, als der Sohn des Hauses, nahm die Priorität für sich in Anspruch. Als besonderen Beweis seiner Wertschätzung führte er das junge Mädchen in den beiden Zimmern umher und zeigte ihr die Familiengalerie der Strehsens an den grellfarbigen, geschmacklos tapezierten Wänden. Zuletzt führte er Lena vor die Haupt-Sehenswürdigkeit des Hauses, den eingerahmten Brief des Prinzen Friedrich Leopold, der seiner Zeit das Patengeschenk des hohen Herrn für Kurts jüngeren Bruder begleitet hatte.
»Fritz Leopold«, so erklärte Kurt dabei, »steht jetzt in Graudenz und mopst sich in der langweiligen Garnison. Kann's ihm nicht verdenken«, fügte der Leutnant mit einem bewundernden, anzüglichen Blick in Lenas lebhafte dunkle Augen hinzu. »Werden in Graudenz schwerlich so viel reizende junge Damen zu finden sein wie in Berlin.«
Lena lachte über das wohlfeile Kompliment, während Bornstein, der den beiden auf Schritt und Tritt gefolgt war, dem Leutnant einen finstern Blick zuwarf, der ungefähr zu bedeuten schien: »Was fällt dem dummen Jungen ein, hier schon wieder Süssholz zu raspeln?«
Sehr zu rechter Zeit erschien jetzt die Frau Oberstleutnant und rief ihren Sohn ab. Er sollte die Punschbowle ansetzen. Man wollte bald speisen, um nachher noch Gesellschaftsspiele vornehmen zu können.
Bornstein zog bei dieser Ankündigung ein spöttisches Gesicht, und nur die Gewissheit, den Leutnant für den Augenblick los zu sein und die allerliebste kleine Telephonistin auf ein Weilchen für sich zu haben, liess ihn von einer ironischen Bemerkung abstehen.
Zunächst versicherte er sich Lenas Tischnachbarschaft mit einem Eifer, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt für ihn gegeben hätte. Dann zogen sie sich in einen Winkel in der Nähe des bei Seite geschobenen Tannenbaumes zurück.
Bornstein machte Lena auf ihre Bitte aus der Entfernung mit dem übrigen Teil der Gesellschaft bekannt. Er zeigte ihr den jüngsten Sohn des Hauses, einen langen[63] Lichterfelder Kadetten, der heimlich Süssigkeiten knabberte und in tötliche Verlegenheit geriet, wenn ihn jemand ansprach. Da war ferner eine Tante, eine unverheiratete Schwester der Hausfrau, die mit ihren Falkenaugen jedes Pärchen neidisch verfolgte.
Augenblicklich beobachtete sie ihre Nichte Elisabeth, die sich mit dem sehr spät erschienenen Assessor von Reibenstädt so laut über die Frauenfrage ereiferte, dass man die Schlagworte bis in den engen Winkel neben dem Weihnachtsbaum vernahm. Die letzte, Lena noch unbekannte Person war ein junges, sehr blasses, überaus einfach gekleidetes Mädchen, eine entfernte Verwandte des Oberstleutnants; wie Bornstein erklärte, das Aschenbrödel des Hauses Strehsen. Dann kam der unermüdliche Erzähler von den Gästen des Hauses auf die Gastgeber selbst zu sprechen. In halblautem, ironisierendem Flüsterton erzählte er Lena von den einzelnen Mitgliedern der Familie, in die er durch Kurt eingeführt worden war. Der Freund selbst wurde dabei am wenigsten geschont. Ein guter Kerl sei er, ja, aber ein schrecklicher Windhund, vor dem sie auf der Hut sein müsse.
Lena lachte über diese Warnung, wie über die meisten ungemein drollig hervorgebrachten Bemerkungen Bornsteins. Der aber nahm den Fall ganz ernst und erzählte ihr von haarsträubenden Dingen, die Kurt bei jungen Mädchen angerichtet habe.
»Und sind Sie so viel tugendhafter als Ihr Freund, Herr Bornstein?« fiel Lena ihm neckend ins Wort.
Er schüttelte sehr energisch den Kopf mit dem nicht allzu vollen, ins rötliche spielenden Haar.
»Mir gefällt nicht so leicht ein Mädchen«, sagte er bedeutungsvoll, Lena mit einem langen Blick ansehend, »wenn mir aber mal eins gefällt –«
»Zu Tisch, zu Tisch!« rief jetzt der scharfe Diskant Clementines.
Lena nahm, ohne sich nur im geringsten merken zu lassen, wie sehr diese Bevorzugung ihr schmeichelte, Bornsteins Arm und liess sich in das Esszimmer geleiten, aus dem der Oberstleutnant jetzt verschwunden war. Wie Elisabeth ihr zuflüsterte, hatte er sich mit der Rangliste in sein Schlafzimmer geflüchtet.
Bornstein führte Lena zu einem kleinen Tischchen, an dem das blasse Mädchen mit dem Kadetten sass. Da kaum für vier Personen Platz war, hatte Bornstein Kurt hier nicht zu fürchten. Uebrigens sass er bereits am andern Ende des Zimmers zwischen seiner Schwester Elisabeth und dem[64] Assessor. Es schien beinahe, als ob er auf höheren Befehl seiner Mutter zur Beobachtung auf diesen ausgesetzten Posten kommandiert worden sei.
Lena amüsierte sich köstlich über die Beflissenheit, mit der Herr Bornstein sie bediente. Häringssalat, Punschbowle, kalter Aufschnitt, alles kam nur so herangeflogen, kaum dass sie einen Wunsch geäussert hatte. Es war das reine Märchen vom Tischleindeckdich, das sie da erlebte. Wenn Lotte das gesehen hätte, oder lieber noch Franz Krieger, der sich einbildete, dass man gar keine Rolle in Berlin spielte, dass man höchst überflüssig, ja eigentlich nur zum Verhungern da sei, Lena hätte etwas darum gegeben.
Nachdem Bornstein sich selbst versorgt hatte, setzte er sich dicht neben Lena, mit grosser Geschicklichkeit einen verhältnismässig breiten Raum zwischen ihnen und den beiden andern schaffend. Er fragte sie nach dem und jenem, ihre Heimat und ihre Häuslichkeit betreffend. Als das Mädchen bei diesem Thema bald ziemlich einsilbig wurde, nahm er selbst das Amt des Erzählers wieder auf. Er sprach ihr von seinem Gut, einige Meilen südwestlich von Berlin gelegen, von dem grossen, schön eingerichteten Herrenhaus, das die Leute das »Schloss« nannten, dem prachtvollen Garten mit seinen Obst- und Blumenzüchtereien, die beinahe eine Berühmtheit in der Gegend seien, von seiner Jagd in den umliegenden Forsten, zu der er Kurt im Herbst viel draussen gehabt hatte.
»Sobald wir wieder gute Jahreszeit haben, müssen Sie mir einmal die Freude Ihres Besuches schenken.«
Als Lena ihn verwundert ansah, fügte er rasch hinzu: »Mit den Strehsens natürlich, die mir ihren Besuch schon lange zugesagt haben.«
Lena nickte in ihrer kurzen Art.
»Wenn's Urlaub giebt und Strehsens mich mitnehmen wollen, mit Vergnügen.«
Max Bornstein hatte zwar niemals daran gedacht, die Strehsens in corpore nach Dahlow einzuladen, aber um den Preis, der reizenden Kleinen mit seinem Besitz zu imponieren, konnte man am Ende, wenn's so weit war, in den sauren Apfel beissen.
Einstweilen aber hatte es bis zum Frühjahr noch gute Weile. Wer weiss, wie er bis dahin mit Lena stand und ob ihr dann selbst noch an der Gesellschaft der Strehsens gelegen sein würde. Für alle Fälle wollte er Kurt gleich nach Tisch ausdrücklich verpflichten, ihn möglichst oft mit Fräulein Weiss zusammenzubringen. Zum Dank und zur Anspornung würde er ihm einen neuen Kredit in Aussicht stellen.[65]
Nach dem Essen wurden die im Programm vorgesehenen, von Bornstein ironisch belächelten Gesellschafts- und Pfänderspiele gespielt, bei denen Kleinigkeiten vom Weihnachtsbaum ausgelost wurden. Um elf Uhr brach die Gesellschaft auf, damit die Berliner noch gute Fahrgelegenheit fanden.
Bornstein, der während der öden Spielunterhaltung, an der er sich nicht beteiligte, wenig Gelegenheit mehr gefunden hatte, mit Lena zu sprechen, trat kurz vor dem Aufbruch an sie heran und bat um das Vergnügen, sie nach Haus begleiten zu dürfen. Lena sah mit verlegenem Bedauern zu ihm auf.
»Herr Leutnant Kurt hat sich mir schon angeboten – aber wenn Sie trotzdem« – Bornstein machte kurz Kehrt. Nein, er mochte nicht teilen. Ueberdies hatte er ganz genug für heut von den Faseleien des Leutnants.
Lotte lieh während der folgenden Tage Lenas enthusiastischen Schilderungen über den Strehsenschen Gesellschaftsabend nur ein zerstreutes Ohr. Ihre Gedanken weilten unablässig bei ihrem letzten Zusammensein mit Gerhart, und wie ein schwerer, drückender Alb lag der feierliche Schwur, den er von ihr gefordert hatte, auf ihrer Seele.
Wenn sie wirklich einmal aus diesen Träumereien erwachte, war es nur, um mit erschreckten Augen in die Wirklichkeit zu starren.
Sie hatte gleich nach dem Fest die beschämende und beängstigende Entdeckung gemacht, dass, wenn sie den letzten Notgroschen nicht angreifen wollte, es unmöglich sein würde, am ersten Januar die Miete zu zahlen. So also stand es um ihr Fortkommen in Berlin.
Zunächst raffte sich Lotte wieder auf, und alles Uebrige in den Hintergrund drängend, sah sie der Gefahr klar ins Auge. Sie rechnete und überdachte, wo zu sparen und einzuschränken sei. Sie trieb alle kleinen Aussenstände eifrig ein, aber trotz des gewaltigen moralischen Aufschwungs, den sie sich gab, kam sie um keinen Schritt weiter.
Immer näher rückte der Zahlungstermin, und noch immer war die Miete nicht vollständig beisammen.
Lena, auf deren Tagegelder Lotte sich fest verlassen hatte, liess sie vollkommen im Stich. Alles, was sie zu erwarten gehabt, hatte sie sich von einer Kollegin vorschiessen lassen und bereits für allerlei Putz und Tand verausgabt, den sie für den Weihnachtsfeiertag sowohl, als auch für eine mit den Strehsens vereinbarte Sylvesterfeier unentbehrlich hielt.
So zärtlich Lotte an Lena hing, so sehr sie die jüngere Schwester bewunderte sie konnte sich nicht verhehlen, dass Lena unerhört leichtsinnig gehandelt hatte.[66]
Aber das Herz, die Schwester anzuklagen, ihr Vorwürfe zu machen, hatte sie doch nicht. Lena war fröhlich, glücklich und gesund, während sie selbst alle Tage matter und willenloser wurde. Mochte Lena wenigstens das Leben geniessen, sie mit ihrer grüblerischen Schwerblütigkeit würde doch niemals dazu im Stande sein.
Eine Zeit lang dachte Lotte darüber nach, ob sie mit Gerhart über ihre Verlegenheit sprechen sollte. Aber immer wieder verwarf sie diesen Gedanken. Sie wollte ihn nicht herabziehen in die Mühsale ihres kleinbürgerlichen Daseins. Er würde auch wenig Sinn dafür haben, und helfen konnte er ihr nicht, ohne den Beistand der Tante. Das aber wollte Lotte um keinen Preis. Die prächtige alte Dame hatte ihr schon so viel herzliche Gutthaten erwiesen, es widerstand ihr durchaus, sie direkt um eine Hilfeleistung zu bitten. Ausserdem schämte sich Lotte gerade vor Frau Wohlgebrecht ihrer Verlegenheit. Was sollte die thätige, tüchtige Frau, die so viel auf Lotte hielt, davon denken, dass sie gleich, nach dem ersten Quartal schon, ihren Verpflichtungen aus eigener Kraft nicht mehr nachkommen konnte! Es blieb nur ein einziger Ausweg, und so schwer es Lotte ankam, sie musste ihn gehen und sich blutenden Herzens entschliessen, den kargen Rest ihres kleinen Vermögens anzugreifen. Wenn es so weiter ging, was sollte daraus werden? Zum ersten Male sehnte Lotte Franz Krieger herbei. Er, mit seinem ruhig erwägenden Blick hätte ihr sicher sagen können, wie und wo sie gefehlt, wo sie anzusetzen habe, um wieder Ordnung und Gedeihen in ihre Verhältnisse zu bringen. Aber er war nicht da! Von dem Vater würde sie niemals Rat zu erwarten haben, und die Mutter, die treueste Freundin, war nicht mehr! Sie war allein, ganz allein! –
An Lena gingen Lottes Kämpfe spurlos vorüber.
Sie hatte nur noch Sinn für ihre dienstfreien Stunden, die sie zumeist mit den Strehsens verbrachte, und die Sylvesterfeier, zu der Max Bornstein sie alle in ein vornehmes Weinhaus Unter den Linden eingeladen hatte.
Mit dieser Feier hatte es seine ganz besondere Bewandtnis. Bornstein, der im allgemeinen kein sonderlicher Freund von Familienverkehr war, hatte längst alle Einladungen abgeschlagen, die ihm, wie alljährlich, zu Dutzenden zugegangen waren. Längst auch hatte er sich vorgenommen, mit Kurt Strehsen den Sylvesterball des Balletkorps zu besuchen. Nachdem er aber Lena Weiss kennen gelernt hatte, gab er dieses Vorhaben auf und machte dem Leutnant den Vorschlag, den letzten Abend des Jahres en famille zu verbringen.[67] Das heisst, was Bornstein so en famille nannte. Er lud das Strehsensche Quartett, Mutter, Töchter und Kurt – der Oberstleutnant wurde selbstverständlich übergangen – ein, am Sylvesterabend seine Gäste zu sein, unter der Bedingung, dass Fräulein Clementine und Elisabeth ihre Kollegin Lena aufforderten, an der Feier teilzunehmen. Auf andere Gäste wurde verzichtet. Man wollte ganz unter sich sein.
Lena, die sich während der vergangenen Festwoche schon mehrere Rügen seitens der Aufsichtsdamen zugezogen hatte, war am einunddreissigsten während der Dienststunden derartig zerstreut, dass es nur ihren gutmütigen Nachbarinnen zu danken war, wenn sie, ohne unliebsames Aufsehen zu erregen, durch ihre Arbeitszeit kam.
Endlich schlug die Stunde der Erlösung. Rasch, ohne auch nur auf die Strehsens zu warten, stürzte sie davon.
Lenas Staat, der Lotte so viel heisse Thränen, so viele qualvolle Stunden gekostet hatte, war schon zurechtgelegt, so dass sie nur hineinzuschlüpfen brauchte. Lena war überglücklich. Das weisse Oberhemd, das kurze, fest anschliessende schwarze Jäckchen darüber sassen wie angegossen. Nun fehlte nur noch der schwarz und weiss karrierte Shlips, und fertig war sie. Es war auch höchste Zeit, denn während Lena die Schleifenenden vor dem schmalen Spiegelchen festknüpfte, wurde draussen die Flurklingel schon gezogen.
Max Bornstein hatte um die Erlaubnis gebeten, sie um neun Uhr abholen zu dürfen.
Lotte öffnete dem eleganten, jungen, hypermodern gekleideten Mann etwas verlegen die Thür und bat ihn, inzwischen in ihrem »Atelier« Platz zu nehmen, die Schwester würde gleich kommen.
Bornstein verbeugte sich tiefer, als er sich je vor Lena verbeugt hatte, und stammelte einige unzusammenhängende Worte, während er dem schlanken blassen Mädchen in ihr Arbeitszimmer folgte. Er hatte etwas ganz anderes von der gemeinsamen Häuslichkeit einer kleinen Putzmacherin und einer Telephonistin erwartet, so eine Art Bohème, in der man es nach keiner Richtung hin sonderlich genau zu nehmen brauchte. Förmlich betroffen war er, alles anders zu finden wie er gedacht. Hier konnte er sich nicht so ohne weiteres im Negligée geben, – wenigstens vor den Augen dieses beinahe vornehmen, stillen Mädchens nicht – wie er es sonst bei dergleichen kleinen Scherzen gewohnt war. Eigentlich fatal! Bornstein liebte es nicht, besondere Umstände machen zu müssen. Wenn er das vorher gewusst hätte,[68] würde er, einstweilen wenigstens, einen Besuch in dieser geordneten, gut bürgerlichen Häuslichkeit vermieden haben.
Endlich kam Lena. Als sie in ihrem neuen, feschen Kostüm in die schmale Thüröffnung trat, ein Lächeln auf dem frischen, rosigen Gesicht, da verschwanden Bornsteins Beklommenheit, sein Unmut im Augenblick wieder.
Wahrhaftig, das Mädel war so reizend, dass man sich schlimmsten Falles schon ein paar Unbequemlichkeiten um seinetwillen aufhalsen konnte.
Die beiden hielten sich nicht lange mit Abschiednehmen auf. Ihr schwarzes Jacket und das Pelzbarett hielt Lena schon in der Hand. Bornstein half ihr galant hinein, und dann, nachdem Lena Lotte flüchtig auf die Wange geküsst und Bornstein sich steif vor ihr verbeugt hatte, eilten sie durch die Küche die Treppe hinunter. Vom Hofe her hörte Lotte ihr fröhliches, etwas lautes Lachen.
Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Diese Freundschaft Lenas wollte ihr nicht so recht gefallen, insbesondere nicht, seit sie Herrn Bornstein nun selbst gesehen hatte. Freilich, er war ein intimer Bekannter von Strehsens, folglich nach Lottes kurzsichtiger Logik ein jedes Vertrauens werter Mann. Auch hatten die Strehsens Lena ja völlig in ihren Schutz genommen, sie gehörte seit Weihnachten beinahe wie zur Familie, also trugen sie auch die Verantwortung für Lena. Trotzdem würde Lotte unter anderen Verhältnissen Lena nicht so ohne weiteres den Kavalierdiensten des Herrn Bornstein überlassen haben. Aber jetzt – nach dem, was zwischen ihr und Gerhart vorgekommen war, hatte sie auch nur das Recht zu einem Vorwurf, einem Tadel?
Ein kleiner Trost war es ihr, dass Franz Krieger, an den sie jetzt fortwährend denken musste, oft genug zu Haus gesagt hatte: »Die Lena wird schon durchkommen, die weiss sich zu helfen. Die lässt sich so leicht kein X für ein U machen.« Und dann hatte er hinzugefügt: »Aber Du, Lottchen! Was soll aus Dir werden?« Der gute, brave Mensch! Lotte seufzte auf. Er würde es sich zu Herzen nehmen, er ganz gewiss, wenn er gewusst hätte, wie tief sie jetzt schon in Sorgen steckte. Aber es musste durchgekämpft werden, es musste!
Sie nahm ihre kleinen Geschäftsbücher vor und fing an zu rechnen und zu überlegen, wie sie es im nächsten Jahre praktischer und nutzbringender einrichten könnte. Auch das Haushaltungsbuch schlug sie auf. Es half nichts, so schwer es auch war, sie mussten noch einfacher leben, sich noch[69] mehr abgehen lassen. Sie mussten leben, wie wirklich arme Leute!
Den Kopf in die Hand gestützt, sass sie und rechnete. Sie hatte viel Zeit, die ganze lange Sylvesternacht durch.
Gerhart hatte die Jahreswende mit ihr allein verleben wollen. Sie hatte sich geweigert, mit blutendem Herzen, aber sie hatte es doch fertig bekommen. Seit sie ihm jenen Schwur geleistet, fürchtete sie sich instinktiv vor dem Alleinsein mit ihm. Sie hatte ihm andere Vorschläge gemacht, aber er hatte nur sie, sie allein gewollt. Als sie unerbittlich blieb, war er in heftigem Zorn davongegangen. Wie sie von Frau Wohlgebrecht zufällig gehört, würde er Sylvester in einer freien literarischen Vereinigung feiern.
Während Lotte sich das Hirn zermarterte, was sie an Groschen und Pfennigen sich absparen könne, ging es in dem, von den Restaurationsräumen etwas abseits gelegenen Zimmer, in das Bornstein seine Gäste geladen hatte, hoch her.
Lena war die übermütigste von allen.
Sie genoss, völlig harmlos, aber in vollen, durstigen Zügen, was sich ihr bot, Stunden leichtlebigen Genusses, wie sie sie nie zu träumen gewagt. Alles entzückte und berauschte sie. Das rot ausgeschlagene, luxuriös ausgestattete Zimmer, die in Kristall und Silber blitzende Tafel, die kostbaren frischen Blumensträusse, die vor dem Gedeck jeder Dame lagen, das ausgezeichnete Souper, die köstlichen Weine, von denen sie freilich nur zu nippen wagte. Ihr ganzes Leben lang hätte sie so dasitzen mögen, selbst plaudern und dem Geplauder zuhören, den feinen Duft, aus Blumen und exquisiten Speisen gemischt, einatmen und den bethörenden Schmeicheleien zuhören, die ihr Nachbar ihr von Zeit zu Zeit ins Ohr flüsterte. Diese Schmeicheleien ernst zu nehmen, oder gar sich durch sie zu einem wärmeren Gefühl hinreissen zu lassen, daran dachte Lena nicht. Nur lustig wollte sie sein, geniessen und auskosten, was ihr so freigebig geboten ward.
Clementine und Elisabeth machten sich heute weidlich über ihre Kollegin lustig. So recht kleinbürgerliche Provinz, das Vergnügen an einem solchen Abend derartig zur Schau zu tragen!
Sie hatten zwar alle drei, Mutter und Töchter, den ganzen Tag auf das Bornstein'sche Souper hin gehungert, aber um nichts in der Welt hätten sie sich merken lassen, wie gut es ihnen schmeckte, wie behaglich es ihnen nach der häuslichen Misere in dieser luxuriösen Umgebung zu Mute war.
Die hagere Frau Oberstleutnant, die heute spitzer und[70] verkümmerter aussah denn je, nahm Lenas und Bornsteins Benehmen ernster als ihre Töchter. Sie hatte sich zwar niemals eingebildet, dass Bornstein Absichten auf Clementine oder Elisabeth habe, aber die so grob zur Schau getragene Verehrung des Bankiers für die kleine Telephonistin, der diese, in ihren Augen wenigstens, mehr als koketten Vorschub leistete, verletzte und empörte sie doch. Ausserdem drohte dieser Fall all ihre ausgeklügelt freisinnigen, gesellschaftlichen Anschauungen jäh über den Haufen zu werfen. Das Benehmen der beiden war einfach skandalös bürgerlich. So inkorrekt hätte sich ein Mann von Adel, ein Mädchen der Aristokratie nie betragen. Was aber konnte man schliesslich erwarten von einem jungen Menschen, dessen Grossvater noch hinter dem Ladentisch eines Materialwaarengeschäfts gestanden hatte, und einem Mädchen von Gott weiss welcher Abkunft, aus Gott weiss welchem märkischen oder mecklenburgischen Nest, dessen Name als Geburts- oder Sterbestätte niemals im Gothaer vermerkt gewesen war, noch mutmasslich jemals darin vermerkt sein würde!
Schliesslich aber beschloss die Frau Oberstleutnant doch gute Miene zum bösen Spiel zu machen, schon um Kurts willen, der es in keinem Fall mit Bornstein verderben durfte. Sie mochte gar nicht an die Misere denken, die wieder über sie hereinbrechen würde, wenn Bornstein eines Tages Kurt den Kredit, den er ihm so freigebig gewährte, wieder entziehen würde.
Erst lange nach Anbruch des neuen Jahres wurde die Tafelrunde in dem roten Zimmer aufgehoben.
Kurt, der unbesonnener Weise in Uniform erschienen war, hatte sich nicht mit Unrecht geweigert, in der ersten Stunde nach Mitternacht die Damen durch die Friedrichstadt zu begleiten. Rempeleien mit Zivilisten waren seine Sache nicht. Er war im Grunde viel zu aristokratisch bequem, um nicht gern jedem Anlass zu Unannehmlichkeiten oder Streit aus dem Wege zu gehen – nicht nur in der Sylvesternacht.
An der Leipziger- und Friedrichstrassen-Ecke trennte man sich. Kurt bestieg mit seinen Damen den letzten Pferdebahnwagen nach dem Westen, Bornstein begleitete Lena nach Hause.
Bornstein hatte eigentlich von diesem Heimweg in Anbetracht der animierten Stimmung, in der sie sich beide befanden, mehr erwartet.
Trotzdem man, wie auf stillschweigendes Uebereinkommen, den Weg lang genug ausdehnte, gelang es Bornstein[71] nicht, mit Lena über das Mass des Herkömmlichen hinauszukommen.
So übermütig sie sich auch den ganzen Abend mit ihm gezeigt hatte, sobald sie allein mit ihm war, zog sie, sich selbst vielleicht unbewusst, eine Grenze, über die selbst ein Bornstein sich nicht hinauswagte.
Verwünscht, wie viel von der Dame in diesen beiden Mädchen steckte! Na, nur nicht gleich den Mut verloren. Was nicht war, konnte ja am Ende werden.
Als er zum so und sovielten Male vor der Zimmerstrasse Kehrt machen wollte, erklärte Lena sehr entschieden, totmüde zu sein und nach Haus zu wollen. Erst als er ganz ehrlich kummervoll noch um ein paar Minuten bat, da er morgen auf mehrere Tage von Berlin fort müsse, liess sie sich erweichen und schlenderte noch ein Weilchen neben ihm her.
»Wo müssen Sie denn hin, Herr Bornstein?« fragte sie schon halb verschlafen.
»Nach Dahlow, liebes Fräulein Lena. Ach, ich wünschte, Sie kämen mit! Es wird zum Sterben langweilig werden. Denken Sie nur, in dem grossen Haus ganz allein mit dem Inspektor! Nichts wie rechnen und wieder rechnen und bogenlange Berichte entgegennehmen und Belege einsehen und revidieren – Brr. – Wenn die Jagd nicht wäre, möchte man geradezu verrückt werden!«
Lena war bei der Erwähnung von Dahlow wieder munter geworden. Von ihrer Kindheit her, damals als der Vater noch Inspektor auf Gross-Klockow gewesen, hatte sie eine heimliche Liebe für grossen Grundbesitz, natürlich nur, wenn es darauf wie auf einem echten Herrensitz zuging. Für ihr Leben gern hätte sie Dahlow einmal gesehen; aber sie durfte Bornstein das nicht merken lassen, sonst hätte er sie gleich beim Wort genommen, und es ging doch unmöglich an, dass sie zu ihm nach Dahlow kam.
So fragte Lena hauptsächlich nach dem, was ihr das Unverfänglichste erschien und was sie doch wieder am meisten interessierte, nach seiner Blumen- und Obstzucht, von der er ihr am Weihnachtsabend bei Strehsens schon einmal flüchtig erzählt hatte. Bornstein, der selbst ein grosser Blumenfreund war und dem überdies daran lag, ihr Dahlow so verlockend wie möglich zu schildern, machte wahrhaft märchenhafte Beschreibungen von seinen Treibhäusern und Mistbeeten.
Mehlmann, sein Obergärtner, war eine Spezialität für seltene Arten von Blumen und Früchten. Er hatte auf der letzten grossen Blumen- und Obst-Ausstellung in Treptow[72] eine der höchsten Auszeichnungen bekommen. Lenas noch kurz zuvor so verschlafene Augen wurden gross und grösser.
Blumen, und seltene dazu, waren ihre Passion. »Ich bringe Ihnen einen Strauss Orchideen mit, Fräulein Lena, wenn Sie ein bischen nett mit mir sind – aber das Beste wäre schon, Sie kämen selbst heraus.«
Bornstein sah das Mädchen mit bittender Frage an, aber sie schien ihn durchaus nicht zu verstehen oder verstehen zu wollen. So fügte er, wie vor acht Tagen, nur um etliches verstärkt hinzu: »Mit Strehsens natürlich.«
»Aber ich bekomme keinen Urlaub!«
»Na, noch besser. Diese albernen Postonkels. Das fehlte gerade! Dann schwänzen Sie eben 'mal.«
»Darauf steht augenblickliche Entlassung.«
»Mein Gott, wie kann man sich in solchen Drill begeben, wenn man ein so fesches Mädel ist wie Sie, Lena. Warum sind Sie nicht auch Putzmacherin wie Ihre Schwester? Da könnten Sie den ganzen Tag thun und lassen was Sie wollten.«
Lena seufzte ganz heimlich auf. So wie Herr Bornstein jetzt sprach, hatte sie schon die ganze letzte Woche über gedacht. Der regelmässige Dienst fing an ihr schrecklich langweilig und drückend zu werden. Aber sie wollte ihrem neuen Freunde nicht Recht geben und behauptete, sich in diesem »Drill«, wie er sagte, riesig wohl zu fühlen. Sie war doch etwas – königliche Beamtin. –
»Auch was rechts«, brummte er.
So unter Scherzen und Streiten kamen sie endlich vor Lenas Hausthür an.
»Nun aber wirklich Gute Nacht!«
Er hätte ihr für sein Leben gern einen Kuss gegeben, aber sie sah ihn so merkwürdig verwundert an, als er sich zu ihr herabbeugte, dass er es vorzog, sich mit dem schmalen, rosigen Streifen, zwischen Handschuh und Jacketärmel zu begnügen.
Lena wurde puterrot, aber sie freute sich doch.
»Und wann darf ich Ihnen die Orchideen bringen?«
Einen Augenblick lang sah sie ihn zögernd und schwankend an. Dann sagte sie rasch entschlossen ohne Ziererei und Koketterie: »Sonntag Abend bei uns. Von sieben ab bin ich dienstfrei.«
Bornstein war es nicht ganz zufrieden. Er fürchtete die stille Schwester mit ihrem ruhigen, vornehmen Ernst, aber dennoch sagte er freudig zu. Am Ende war es immer besser als nichts. –
[73]
Die gute Frau Wohlgebrecht hatte wieder einmal einen kräftigen Zorn auf Lotte.
Nach einem steifen Neujahrsbesuche hatte das Kind sich nicht mehr sehen lassen.
Irgend etwas war da wieder nicht in Ordnung. Wenn die alte Wohlgebrecht auch die Bildung nicht gepachtet hatte, ihre gesunden Augen hatte sie doch im Kopf und ein X für ein U liess sie sich noch lange nicht machen.
Zunächst nahm sie ihren Gerhart ins Gebet, der auch nicht gerade in rosiger Laune herumlief und mehr Zeit in seinen modernen Klubs und Vereinigungen verbrachte, als ihr lieb war.
Viel war ja nicht aus ihm herauszubekommen. Er machte dunkle Andeutungen über die Beschränktheit der Weiber, über verrottete, unmoderne Vorurteile, über erbärmliche Rücksichten auf Brauch und Herkommen, die einem Seele und Sinne zernagten, was er aber eigentlich damit meinte, und ob sich etwas, alles, oder gar nichts von seinen dunkeln Reden auf Lottchen Weiss bezog, daraus konnte Frau Wohlgebrecht absolut nicht klug werden.
Nicht viel anders erging es ihr bei Lotte selbst, als sie an einem eisig kalten Abend um die Mitte Januar zu ihr herumkam.
Der Name Gerhart schien ihr die Lippen eher zu schliessen als zu öffnen, und doch hatte Frau Wohlgebrecht ihren Kopf darauf gesetzt, dem armen Kinde, das sie so blass und traurig fand wie nie zuvor, zu helfen. Sie versuchte es hier, sie versuchte es da, bis sie endlich auf die rechte Spur gekommen schien.
»Na und Herzchen, wie stehts denn mit dem Jahresabschluss und dem Geschäft?« Da hielt Lotte sich nicht länger, und in Thränen ausbrechend legte sie eine umfassende Beichte ab.
Frau Wohlgebrecht hörte dem langen Bericht stillschweigend zu. Das war so recht etwas für sie, trösten und helfen können. Denn getröstet musste das liebe Geschöpf werden, und geholfen werden musste ihm erst recht, das stand fest in dem goldenen Herzen der alten Frau.
Während Lotte sprach, unterbrach Frau Wohlgebrecht sie mit keinem Wort. Nur ab und zu klopfte sie dem Mädchen zärtlich auf die Schulter oder streichelte Lottes nervös verschränkte Hände, um ihre Teilnahme kund zu thun.
Erst als Lotte die heftigsten Anklagen gegen sich selbst erhob, ergriff Frau Wohlgebrecht das Wort und protestierte ganz entrüstet.
»Was reden Sie nur da, Kindchen? Glauben Sie etwa,[74] es ginge Andern nicht so? Wenn zwei so arme, unerfahrene Dinger wie Sie und Ihre Schwester in Berlin auf anständige Weise glatt durchkommen, so ist das eine Ausnahme, aber eine grosse, sag' ich Ihnen. Was denken Sie denn, was hier alles herumläuft und Arbeit sucht? Eins schnappt sie dem andern vor der Nase weg. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das ist einmal nicht anders. Aber wer A gesagt hat, muss auch B sagen können. Nu, man Kopf hoch und am rechten Ende angefasst, damit die Verlegenheiten aufhören.«
Frau Wohlgebrecht sah sich in dem netten behaglichen Raum um.
»Wie lange haben Sie hier Kontrakt, Kindchen?«
»Bis Oktober übers Jahr.«
»Hm, ja – na das kann sich später finden.
Erst wollen wir 'mal sehen, ob sich nicht mehr verdienen lässt, ehe wir an die äuserste Grenze der Sparsamkeit gehen. Sagen Sie 'mal, wie ist denn das mit Ihrer Schwester? Die kriegt doch, so viel ich weiss, ihre 2 Mark 25 Tagegelder. Die muss doch ordentlich zuschiessen?«
Lotte war in tötlicher Verlegenheit. Um nichts in der Welt hätte sie gerade Frau Wohlgebrecht, die schon so wenig von Lena hielt, die Wahrheit gesagt. Sie stotterte etwas von grossen Ausgaben, die Lena gehabt, und dass das alles in diesem Monat anders sein würde. Und um Frau Wohlgebrecht gar nicht erst zu Gedanken oder Wort kommen zu lassen, fügte sie rasch hinzu:
»Ich glaube, es ist besser, ich gebe das selbständige Arbeiten ganz auf und sehe mich nach einer Stelle in einem Modewarengeschäft um. Ein grosses Gehalt wird man mir freilich nicht geben«, fügte sie bitter hinzu, »denn für Berliner Geschmack verstehe ich, wie es scheint, nicht genug, aber es ist doch immer was sicheres.«
Dabei warf Lotte einen so sterbenstraurigen Blick auf ihren Arbeitsschrank und ihre behagliche kleine Umgebung, als gelte es heute schon, auf Nimmerwiedersehen davon Abschied zu nehmen.
Frau Wohlgebrecht hatte den Blick aufgefangen und verstanden. Das Herz that ihr ordentlich weh dabei. Wenn man dem Kinde doch nur dies bischen armseliges Glück erhalten könnte, die ruhige Arbeit in den eigenen vier Wänden!
Frau Wohlgebrecht wusste im Voraus, dass die stille Lotte sich in einem Berliner Geschäft totunglücklich fühlen würde.
»Na, nur nichts übereilen, Lottchen. Nur keine überstürzten Entschlüsse fassen, das hat noch allemal gereut.«[75]
Frau Wohlgebrecht stand auf.
»Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, Kind. Ich will das alles überlegen. Was haben wir heute? Mittwoch. Schön. Kommen Sie Sonnabend Abend nach Geschäftsschluss zu mir herum. Bis dahin denke ich, werde ich einen Rat für Sie wissen.« Sie küsste Lotte auf die Stirn und ohne ihren Dank abzuwarten, war sie auch schon davongegangen. –
Als Lotte am Sonnabend Abend um die verabredete Zeit zu Frau Wohlgebrecht kam, trat Gerhart ihr mit einem seltsamen Gemisch von Freude und Bestürzung entgegen.
»Denken Sie nur, Lottchen, die Tante – nein, es ist kein Unglück geschehen – wie Du gleich blass wirst – so kommen Sie doch herein, Lottchen – bitte –!«
Sie folgte ihm zögernd in das kleine gemütliche Zimmer mit dem schwarzen Rosshaarsopha. Auf dem runden Mahagonitisch brannte die Lampe und davor lagen Gerharts Schreibereien, gerade so wie sie es zum erstenmal gesehen, als sie zaghaft und fremd den halbdunklen Laden betreten hatte.
»Was ist denn mit Frau Wohlgebrecht?«
»Die Tante ist heut Nachmittag telegraphisch nach Westpreussen gerufen worden, Sie wissen ja, Lottchen, zu der Nichte, der jungen Frau, zu der sie im Frühjahr hinwollte. Da ist ein Malheur passiert, ein bischen was schief gegangen. Du brauchst nicht so entsetzte Augen zu machen, Lotte, das kommt öfter vor.
Tante wird nun wohl für lange Zeit fortbleiben. Ich führe das Geschäft einstweilen allein. Aber willst Du Dich denn nicht endlich setzen, Lotte? Ich glaube wahrhaftig, Du fürchtest Dich schon wieder vor mir. Du kannst ganz ruhig sein – seit dem Weihnachtsabend im Deutschen Theater –«
Er sprach nicht weiter, doch in dem, was er gesprochen, hatte eine so unendliche Bitterkeit gelegen, dass Lotte die Thränen in die Augen schossen.
Sie nahm sich zusammen und setzte sich auf den Stuhl, den er ihr hingeschoben hatte, um ihm zu zeigen, dass sie ihm vertraute.
Er nahm ihr den Schulterkragen ab und das schwarze Hütchen.
»Minna ist draussen. Sie kann uns einen Thee machen, wenn Du willst.«
Lotte schüttelte den Kopf.
»Ich habe schon Abendbrot gegessen. Hat Frau Wohlgebrecht Ihnen denn gar keinen Auftrag für mich gegeben?«[76]
Er setzte sich zu ihr.
»Einen ganzen Band voll. Gross Folio, so dick. Wir haben in diesen Tagen über alles gesprochen und sind uns über alles einig geworden. Wirklich, Lottchen, Sie können sich einbilden, nicht ich, sondern die Tante spräche jetzt mit Ihnen.«
Ohne dass sie es wollte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
Gerhart griff nach ihrer Hand.
»So müsstest Du immer aussehen!«
Dann setzte er sich absichtlich ein wenig entfernt von ihr in die Sophaecke und zog eine ganz geschäftliche Miene auf.
»Also Lottchen, die Tante und ich sind zu dem Entschluss gekommen, Ihnen zu raten, einstweilen, wenigstens bis Ostern, die Verhältnisse zu lassen, wie sie sind. –«
»Ja aber –«
»Zu besseren Einnahmen müssen Sie es natürlich bringen. Die Tante hat Ihnen da –« er schob ihr einen mit Namen und Adressen beschriebenen Zettel über den Tisch zu – »Familien aufgeschrieben, von denen Sie zweifellos, wenn auch nicht gleich, so doch nach dem Frühjahr zu, Aufträge bekommen werden. Tante so wie ich sind der Ansicht, dass, da Sie Wohnung und Einrichtung einmal haben, nun doch noch ein Weilchen aushalten sollten –«
Sie sprach kein Wort und sah nur mit grossen traurigen Augen zu ihm hinüber.
»In einem Geschäft –« Jetzt trafen sich ihre Blicke. Gerhart sprang auf.
»In einem Geschäft, Lottchen, siehst Du, da könnte ich Dich nicht sehen! Mit andern gewöhnlichen Elementen, ein stupides Publikum bedienen, – es würde mich wahnsinnig machen. Dich dort zu wissen. Versprich mir, dass Du es nicht thun willst, versprich es mir!«
»Wie gern, Gerhart – ich fürchte mich ja selbst so sehr davor – aber wenn – wenn es nun nicht anders geht?«
Er war vor ihr stehen geblieben und sah sie mit heissen Augen an.
»Es wird gehen, Lottchen, es muss gehen. Du hilfst mir – ich helfe Dir. Hör' einmal zu. Da liegt eine neue Arbeit. Wenn Du ein bischen gut mit mir bist, wenn ich Dich nur ab und zu sehen darf – so wie heut! – nicht anders, Lottchen, ich verlange ja gar nicht mehr von Dir, siehst Du, dann wird mir die Arbeit gelingen, das fühle ich, das weiss ich, und wird mir viel Geld bringen – das teilen[77] wir dann, denn was mein ist, ist auch Dein, und Du, Du hast ja auch einzig das Verdienst daran, wenn es gelingt.«
Er war vor ihr niedergekniet und hatte den Kopf in ihren Schoss gelegt. Sie bebte am ganzen Leibe.
»Mein Kind, mein liebes Kleines, nimm doch Vernunft an. Wenn Du mich auch nicht ganz verstehst, das wirst Du doch begreifen, dass Du mir nötig bist, wie nichts in der Welt, und ich Dir auch, glaube mir's, Lotte, ich Dir auch, und dass wir, wie alle Menschen, ein Recht auf Glück haben!«
Er hatte sich aufgerichtet und strich ihr sanft über das heisse Gesicht.
»Was ich Dir mit der »Versunkenen Glocke« sagen wollte, hast Du nicht begriffen. Du verstehst es noch nicht, dass es höchste Seligkeit für einen Künstler ist, Brust an Brust, Seele an Seele mit einem geliebten Weibe sich auszuleben, so lange oder so kurz Liebe und Glück und Schaffenskraft währen, selbst wenn es danach in den Abgrund geht, in das Nichts. Das kannst Du heut noch nicht fassen, mein Kleines, nein?«
Lotte schüttelte kaum merklich den Kopf und sah mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit zu ihm auf.
»Aber dass jeder Mensch ein Recht auf Glück hat und dass er ein Narr ist, wenn er sich dieses Glückes nicht teilhaftig macht aus Gründen elend dummer Vorurteile, das wirst Du doch begreifen?«
»Ja, das begreif' ich, Gerhart, ich sehne mich ja auch nach Glück, o so sehr, so sehr. Du glaubst nicht, wie ich leide.«
Zum erstenmal kam es über ihre Lippen, das trauliche Du, sie wusste es nicht einmal, so natürlich war es ihr. Nun, da auch die alte Frau nicht mehr für sie da war, hatte sie nichts mehr als ihn, Gerhart! Und wie sie so zu ihm aufblickte, kam er ihr plötzlich um Jahre gereift und gealtert vor, während sie sich hilflos fühlte, wie ein Kind. Und in einer plötzlichen Aufwallung von beinahe kindlicher Zärtlichkeit neigte sie sich zu ihm und legte die Arme um seinen Hals und seufzte an seiner Brust all' ihren Kummer, all' ihre schweren Sorgen aus.
Er hielt sie sanft in den Armen, und so rasch und heiss sein Blut auch ging, er rührte sich nicht.
Als sie ruhiger geworden war, küsste er sie auf die Stirn.
»Komm nun, ich will Dich nach Haus bringen, Lottchen. Es wird alles gut werden. Nur versprich mir, nichts ohne mich zu thun. –«
[78]
Max Bornstein war länger in Dahlow festgehalten worden, als er vorausgesehen hatte. Freilich war die Jagd mehr als die Geschäfte an diesem Aufschub Schuld gewesen. So kam es, dass am Sonntag Abend der Orchideenstrauss für Lena, statt durch ihn selbst, durch einen Expressboten in der Zimmerstrasse abgegeben werden musste.
Lena machte zunächst ein verdriessliches Gesicht. Sie war schon so verwöhnt durch Bornsteins Aufmerksamkeiten, fühlte sich so ganz Herrin der Situation, dass sein Fernbleiben sie schwer verdross. Es kränkte ihre Eitelkeit, und dann war es wirklich kein Vergnügen, mit der trübseligen Lotte, die kaum von ihrem Buch aufsah, den ganzen Sonntag Abend allein zu Haus zu sitzen. Wo aber sollte sie hin? Mit Marie Weber war sie seit der Freundschaft mit Strehsens ganz auseinander. Die Jugendfreundin hatte einmal über Clementine und Elisabeth abfällige Aeusserungen gemacht, ja sich sogar soweit verstiegen, Lena ihre Beziehungen zu Herrn Bornstein vorzuwerfen. Seitdem war sie mit Marie Weber fertig gewesen. Sie war und blieb eben eine Pute vom Lande, mit der es nicht lohnte, sich weiter abzugeben.
Um zu Strehsens hinauszufahren, war es zu spät geworden. Wenn Bornstein schon nicht selbst kam, so hätte er den Strauss mit der Absage wenigstens früher schicken können! Zu dumm, den ganzen freien Sonntag Abend hier in den langweiligen vier Wänden sitzen zu sollen! Schliesslich kam sie auf den Gedanken, Lotte aufzufordern, mit ihr zu Frau Wohlgebrecht zu gehen.
Die Frau war das letzte Mal ja ganz nett zu ihr gewesen und wer weiss, ob sich mit dem bleichen Dichterjüngling nicht doch am Ende was anstellen liess! Pour passer le temps war er am Ende gut genug.
Als Lena Lotte diesen Vorschlag machte, lehnte diese gegen ihre Gewohnheit sehr schroff ab.
»Frau Wohlgebrecht ist verreist«, sagte sie kurz.
Sie wollte um nichts in der Welt mit Lena in ein Gespräch über ihre besten Freunde geraten.
»So komm, lass uns in ein Restaurant gehen, es ist sterbenslangweilig, hier allein zu sitzen, besonders wenn Du den ganzen Abend nichts thust als lesen!«
Lotte schob das Buch bei Seite und sah Lena ernsthaft an.
»Wir haben kein Geld, Lena, um in ein Restaurant zu gehen. Ich habe Dir bis jetzt nichts davon gesagt, um Dir Deine frohe Laune nicht zu verderben, aber einmal muss es doch sein – wir müssen uns sehr, sehr einschränken, liebe Lena. Ich bin am Ersten in grosse Verlegenheit geraten[79] – ich habe unsern letzten Notgroschen angreifen müssen –« Sie legte die Hand auf Lenas Arm.
»Du darfst mir nicht böse sein, Lena, aber nicht wahr, – in diesem Monat wirst Du von Deinen Tagegeldern so viel als möglich für den Haushalt sparen? Ich selbst werde mir sicherlich die erdenklichste Mühe geben, mehr zu verdienen und viel, viel weniger zu gebrauchen.«
Lena zog ihre brummigste Miene auf. Auch das noch! Statt eines fidelen Abends mit Bornstein eine Predigt von Lotte. Noch mehr einschränken sollten sie sich und das bischen, was sie verdiente, auch noch für den Haushalt hergeben? – brrr!
Nur um etwas zu sagen und der Sache rasch ein Ende zu machen, gab sie ein hastiges, oberflächliches Versprechen.
Mein Gott, Lotte that ihr ja auch leid, aber das war doch ein grässliches Leben!
Dann drehte sie den kostbaren Strauss, den sie noch immer in der Hand hielt, hin und her. Mit einem halb belustigten, halb ironischen Lächeln sah sie auf die wundervollen Blüten.
»Was der wohl wert ist, Lotte? Zehnmal könnten wir uns dafür mindestens satt essen und noch dazu in einem feinen Restaurant.«
Sie dehnte und reckte sich nach hinten zu über die Stuhllehne hinüber.
»Was das für eine Misere ist, jeden Groschen zehnmal herumdrehen zu müssen – ich glaube wirklich, Lotte, Du bist zu penibel, man ist doch nur einmal jung und hat doch auch sein Recht auf Glück.«
Lotte blieb die Antwort in der Kehle stecken, als sie jetzt von Lena denselben Ausdruck hörte, den Gerhart gestern gebraucht hatte. Es musste doch etwas daran sein, an diesem Recht auf Glück. Sie wollte es ja auch jedem andern gern zugestehen, nur sich selbst nicht, wenn es nur auf den verworrenen Wegen zu erreichen war, die Gerhart sie ahnen liess.
Da Lotte nicht antwortete, fuhr Lena fort: »Weisst Du, Lotte, ich hätte eigentlich Lust umzusatteln –«
Lotte sah die Schwester ganz entgeistert an.
»Was denn, jetzt, nachdem Du die Anstellung endlich hast? Um Gottes willen nur das nicht. Deine feste Anstellung ist das Einzige was uns rettet.«
»Pah! Wenn ich mich nun verbessern kann? Das ewige an den Dienst angeknüppelt sein, gefällt mir nicht mehr. Bei dem kleinsten Versehen sich 'runterputzen lassen müssen[80] wie ein dummes Schulmädchen, das passt mir nicht! Und dann ist noch eins. Regelmässige Einnahmen sind ja ganz gut, aber mich kann so was auf die Dauer nicht reizen und befriedigen. Ob ich am Apparat gut oder schlecht arbeite, ist, so lange man mich überhaupt behält, für meine Einnahmen ganz egal. Ich muss meine bestimmten Jahre absitzen, ohne mich verbessern zu können. In jeder andern selbständigen Branche ist mir doch wenigstens die Möglichkeit gegeben, mehr zu verdienen, sobald ich mehr und besser arbeite. –«
»Ja, aber Lena, denk' doch blos an mich!«
Lena lächelte gutmütig, aber doch ein wenig überlegen.
»Nimm mir's nicht übel, Lotte, Du bist ja eine zehntausendmal bessere Seele als ich, aber ich bin dafür aus anderem Holz geschnitten. Wenn's gilt, wenn ich meinen ganzen Willen einsetzen kann für eine Sache, die mich freut, kann ich auch was leisten. Und ich wüsste schon eine, die mich freuen würde! Sieh 'mal –« und sie hielt Lotte den Orchideenstrauss, der zwischen den Schwestern auf dem Tisch gelegen hatte, entgegen – »dabei ist mir der Gedanke gekommen – an ein Blumengeschäft nämlich. – Horrend teuer sind die frischen Blumen in Berlin – wenn man da irgend was fände, woher man billig beziehen könnte, ohne selbst draussen einen Garten anlegen zu müssen – vielleicht aus Klockow durch Vater oder Franz Krieger – könnte man ein grosses Geschäft machen. Und Geld haben will ich, viel Geld und bald! Hier in Berlin ist ein Leben ohne Geld unerträglich. Mit Geld müsste es das Paradies sein!«
Lena sprang lebhaft auf, strich sich die schwarzen widerspenstigen Haare von den Schläfen, dann lief sie mit grossen Schritten in dem kleinen Zimmer hin und her.
Mit beredten Worten entwickelte sie Lotte ein Bild des Lebens, das sie führen würde, wenn sie so oder so zu Geld käme. Es war in diesem Bilde nichts von dem zu sehen, was Lotte erträumt hatte, als sie zuerst nach Berlin gekommen war, ganz im Anfang, als sie noch gehofft hatte, es zu einem blühenden Geschäft zu bringen. Vater und Schwester spielten in Lenas Plänen keine Rolle.
Auch kein zukünftiger Gatte, mit dem sie ohne Ansehen von Geld und Gut würde leben und glücklich sein können, weil sie selbst genug erwarb, um mit ihm zu teilen.
Immer mehr und mehr redete Lena sich in ein Zukunftsbild hinein, das wohl erst kürzlich durch den Verkehr mit Bornstein so bestimmte Gestalt angenommen haben musste.
Gesellschaften, glänzende Diners und Soupers, elegante Toiletten, Reisen und was sonst noch alles zu dem Luxus der[81] oberen Zehntausend gehört, schilderte sie Lotte in glühenden Farben. Sie sprach sich in einen förmlichen Rausch, aus dem sie mit glühenden Backen und glänzenden Augen erst wieder zu sich kam, als Lotte ein paar dünne Scheiben Schlackwurst und ein paar Stücke trockenen Schwarzbrots auftrug. Essbutter hatte Lotte seit dem Ersten gestrichen.
Lena sah empört auf den kargen Imbiss.
»Ist denn von Franz Kriegers Weihnachtssendung nichts mehr da?« fragte sie vorwurfsvoll.
»Doch Lena, aber wir müssen sparsam damit umgehen. Für Essen und Trinken darf ich in diesem Monat nur das Allernotwendigste noch ausgeben.«
Lena zuckte die Achseln. Dann, nachdem sie das Brot mit der dünnen Schlackwurstscheibe ein paar Mal hin- und hergedreht hatte, entschloss sie sich kurz und biss mit ihren prachtvollen Zähnen kräftig hinein.
Auf den Berliner Telephonämtern ging es an einem Tage um die Mitte Februar zur Börsenzeit heiss her. Eine neue, über Nacht hereingebrochene politische Konstellation liess plötzlich alle Werte schwanken. Eine lange nicht dagewesene allgemeine Baisse trat ein, und das Telephon hatte stundenlang nichts Anderes zu thun, als unwillkommene Botschaften, zweifelnde Fragen und noch zweifelndere Antworten hin und her zu befördern.
Auch auf dem Amt, auf dem Lena arbeitete, herrschte fieberhafte Thätigkeit.
Sämtliche Beamtinnen waren mit Eifer und Hingebung auf ihrem Posten und liessen sich Mühe und Anstrengung nicht verdriessen.
Sie wussten ja, dass es heute keiner ihrer Berliner Kolleginnen anders ging und dass dies Arbeitstempo naturgemäss nicht lange andauern konnte. Nach Börsenschluss musste es ruhiger werden.
Selbst Lena, die während der letzten Tage immer lässiger in ihrer Arbeit geworden war, nahm sich heute zusammen. Es war beinahe, als ob sie wisse, dass man sie seitens der Aufsichtsbeamten heute besonders scharf aufs Korn genommen habe.
Gegen Mittag liess der fieberhafte Betrieb nach. Es war eine verhältnismässige Stille eingetreten. Eine besänftigende Ruhe nach dem Sturm. An einem der mit grünem Tuch bezogenen Tische, an denen die Aufsichtsdamen sich zeitweise zu schriftlichen Arbeiten niederlassen, trat der oberste Aufsichtsbeamte heran.[82]
Er beugte sich ein wenig zu einer älteren Dame mit schlichtem grauem Scheitel nieder und sagte halblaut: »Nun Fräulein Löffler, wie steht es mit Fräulein Weiss?«
Das ältliche Fräulein zuckte mit den Schultern und machte ein betrübtes Gesicht.
»Immer dieselbe Geschichte, Herr Strömer. Unaufmerksam und flüchtig. Augenblicklich nimmt sie sich ja zusammen. Schade um das nette, begabte Mädchen. Ich fürchte, wir werden sie zum Ersten entlassen müssen.«
»Wenn es nur nicht Knall und Fall sein muss! Mir scheint, wir kommen nicht darum, so leid es mir thäte. Das Betragen des Mädchens ausser dem Dienst –«
»Ist da auch etwas vorgefallen?« fragte Fräulein Löffler ganz bestürzt.
Der Beamte rieb sich mit dem Zeigefinger ein paar Mal über den stark geröteten Nasenrücken, ehe er antwortete.
»Hm, Fräulein, ja, das ist so eine Sache. So 'ne hübsche junge Person. Man kann es ihr ja im Grunde nicht verdenken. 'N bischen Plaisir will der Mensch auch haben. Soll sich da so was angebandelt haben mit einem jungen Bankier. – Na und das darf doch nu 'mal nicht sein!«
»Wissen Sie das bestimmt, Herr Strömer? Vielleicht ist es nichts als eine der vielen Klatschereien, die die Mädchen untereinander aushecken.«
»Das dachte ich anfangs auch.« Und Herr Strömer rieb immer stärker auf seinem Nasenrücken herum. »Aber leider ist es nicht so. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Fräulein Löffler, wie leid es mir thut. Es ist wirklich was dran an der Geschichte. Das heisst – Sie müssen nicht gleich das Schlimmste denken.«
Fräulein Löffler wandte sich schamhaft ab.
»Wie man in Berlin sagt – »sie geht mit ihm«. Er trifft sie an irgend einer Ecke abends, wenn sie vom Dienst kommt, dann gehen sie in ein Restaurant oder, wenn's mit der Zeit so passt, ins Theater. Da ist ja nun an und für sich am Ende nichts weiter dran, tausende von Mädchen machen es so und bleiben dabei ganz anständig – aber als Königliche Beamtin, da geht das doch nicht, da geht das doch nicht!«
Herr Strömer stiess das Letztere förmlich jammernd heraus. Er war in seinem Privatleben niemals das Urbild der Tugend gewesen und dabei doch ein tüchtiger Beamter geblieben. Es wurmte ihn, dass man hier so streng mit den armen jungen Dingern ins Gericht ging.
Das Fräulein war aufgestanden, um einen neuen Rundgang zu beginnen.[83]
Sie dachte zwar weit strenger über den Fall als Herr Strömer, aber sie wollte Lena ebenso ungern plötzlich preisgeben.
»Reden Sie doch dem Mädchen 'mal ordentlich ins Gewissen, Herr Strömer, eh' man's an die grosse Glocke hängen muss. Sie kann ja, wenn sie will. Sehen Sie nur, –« und sie zeigte auf den nicht allzu entfernten Schrank, an dem Lena eifrig arbeitete – »wie sie heut auf dem Posten ist.«
»Schade, schade«, brummte Herr Strömer und schritt, eifrig und nachdenklich an seiner roten Nase herumreibend, in sein Bureau zurück.
Nach Schluss ihrer Dienststunden liess er Fräulein Weiss zu sich kommen.
Lena war sich vollkommen klar darüber, was ihrer wartete. Sie kannte das Reglement und wusste, dass auf schlechtes Betragen, auch ausser dem Dienst, sofortige Entlassung stand. Sie hatte sich zwar nichts weiter zu Schulden kommen lassen, als dass sie sich ein paar Mal mit Bornstein köstlich amüsiert und sich an guten Dingen gründlich satt gegessen hatte, aber sie wusste auch genau, dass das genügte, um sie ihrer Anstellung sofort verlustig gehen zu lassen.
Mit vollem Bewusstsein dessen, was sie aufs Spiel setzte, hatte sie sich mit Bornstein vergnügt. Sie musste nun die Folgen tragen, allerdings früher, als sie erwartet und auch gewünscht hatte. Gern wäre sie geblieben, bis ihre Pläne mit dem Blumengeschäft weiter gediehen waren, bis sie wenigstens mit Bornstein sich darüber beraten hatte. Vor allem um Lottes willen, die der Verlust ihrer Stellung doppelt schwer treffen würde, so lange ein Ersatz dafür nur in der Luft schwebte.
Herr Strömer hatte Lena eine ganze Weile in das hübsche Gesicht gesehen, bevor er zu sprechen begann. Das Mädchen sah ganz und gar nicht wie eine Schuldige aus.
Aber dennoch – und er murmelte mit heftigem Nasenreiben wieder sein monoton tragisches: »Schade! Schade!«
»Leider« – er räusperte sich – »leider, Fräulein, muss ich Ihnen sagen, dass man – hm – auf dem Amt nicht zufrieden mit Ihnen ist. Sie haben in letzter Zeit oft nachlässig gearbeitet – aber hm – schade – das ist nicht die Hauptsache – das heisst, ich meine der Hauptgrund, aus dem ich Sie kommen liess. Nämlich, Fräulein« – Herr Strömer sah Lena mit einer künstlich sittenstrengen Miene an – »Ihr Betragen ausser dem Dienst – Sie sollen – Sie haben – mit einem hiesigen bekannten Bankier – Was haben Sie dazu zu sagen, Fräulein?«[84]
Lena zuckte die Achseln.
»Nichts, Herr Strömer – es wird wohl so sein!«
»So, hm, ja! Sie gestehen es also zu? Schade! Schade!«
»Ich gestehe zu, dass der bekannte Bankier, wir können ihn ja auch der Einfachheit halber gleich beim Namen nennen, also dass Herr Bornstein mich mehrmals abends nach dem Dienst erwartet hat und mit mir in ein Restaurant oder ein Theater gegangen ist.«
»So – und –?«
»Was und?«
»Na, ich meine, Fräulein Weiss, was denken Sie sich dabei?«
»Gar nichts.«
»Sie verstehen mich nicht. – Ich meine, sind Sie die Verlobte des Herrn – hat er Ihnen ein Heiratsversprechen gegeben –?«
Lena lachte hell heraus.
»Das glauben Sie doch selber nicht, dass es Herrn Bornstein einfallen würde, ein bettelarmes, halbgebildetes Mädchen zu heiraten. –«
»So – und das sagen Sie so ganz kaltblütig? Sie wissen, der Herr wird Sie nicht heiraten und trotzdem gehen Sie allein mit ihm aus und lassen sich vor aller Welt mit ihm sehen?«
Herr Strömer ereiferte sich förmlich.
Lena zuckte hochmütig die Achseln.
»Eine Anstandsdame habe ich nicht zur Verfügung – und ob es anständiger ist, mich mit Herrn Bornstein heimlich, irgendwo im Verborgenen zu treffen –«
Strömer, dessen Interesse an dem Mädchen immer wärmer wurde, unterbrach sie eilig.
»Um Gottes willen, fangen Sie so etwas nicht an! Halten Sie sich brav, Fräulein Weiss – um Ihrer selbst willen. Amüsement ist am Ende noch keine Sünde, wenn man jung ist – aber darüber – nicht wahr, Fräulein Weiss – darüber werden Sie nicht gehen!«
Lena sah ihren Vorgesetzten sehr erstaunt an. Sie wusste einen Augenblick gar nicht, wo er hinaus wollte. Dann schien ihr dunkel aufzudämmern, was er meinte.
Sie wurde ein wenig rot und schüttelte dann sehr energisch den Kopf. Antworten that sie nicht, aber Herr Strömer verlangte es auch nicht. Er hatte sie auch so verstanden.
Nach einer kleinen verlegenen Pause sagte Lena:
»Also dann bin ich wohl aus dem Dienst entlassen?«[85]
Herr Strömer bearbeitete seinen Nasenrücken mit Furor und sagte kleinlaut:
»Eigentlich ja – aber hm – wenn Sie versprechen, sich die kommenden vierzehn Tage zusammenzunehmen, möchte ich Sie bis zum ersten März behalten. Eine so plötzliche Entlassung könnte Ihnen sehr schaden, Fräulein Weiss, und dazu beitragen, dass Ihre Zukunft vielleicht gänzlich ruiniert wird –«
Lena unterbrach ihn.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Strömer – sehr. Wir sind sehr arm, und meine Schwester würde über das Ausbleiben der Tagegelder in diesem Monat schon sehr unglücklich sein. Zum 1. April würde ich übrigens selbst um meine Entlassung gebeten haben.«
»So, so. Haben Sie etwas anderes vor?«
»Ja – ich will ein Geschäft etablieren!«
»Darf man fragen – –?«
»Nein, das ist noch Geheimnis!«
Herr Strömer lächelte. Dann stand er auf zum Zeichen, dass Lena entlassen sei.
»Also ich darf morgen wiederkommen? Nochmals vielen, vielen Dank.«
Lena nahm sich während der zwei folgenden Wochen in und ausser dem Dienst sehr energisch zusammen. Sie arbeitete so tüchtig, wie in der ersten Zeit, so dass Herr Strömer täglich mehr als zehnmal sein melancholisches »Schade, Schade« wiederholen konnte.
Mit Bornstein kam sie in dieser Zeit kein einziges Mal zusammen. In vierzehn Tagen war sie frei, dann konnte sie machen was sie wollte.
Da Lenas Herz bei der ganzen Sache sehr wenig beteiligt war, dünkte ihr die Trennung wohl langweilig, wurde ihr aber, von der Gemütsseite aus betrachtet, nicht im geringsten schwer.
Bornstein hingegen wurde viel tiefer davon betroffen. Je öfter er mit Lena zusammenkam, je verliebter wurde er in das lustige frische Ding mit dem hellen Verstande, der in seinen Augen die fehlende Bildung reichlich ersetzte. Ihre Zurückhaltung machte ihm den Verkehr mit ihr nur noch reizvoller. Er war übersättigt von alledem, was ihm um seines Reichtums willen jahrelang mühelos in den Schoss gefallen war. Dass Lena eine ausgemachte kleine Egoistin war, störte ihn durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Ihre im Grunde harmlose Genusssucht befriedigen zu können, freute ihn. Ihm selbst war schon als Kind gelehrt worden, dass ohne einen gesunden Egoismus heut niemand mehr durch[86] die Welt komme. Und sein Lehrmeister war kein grauer Theoretiker, sondern ein tüchtiger Praktiker gewesen, jener Grossvater, der selbst noch hinter dem Ladentisch gestanden und den Grund zu dem bedeutenden Wohlstande der Familie gelegt hatte.
Lotte erfuhr vorerst kein Wort von Lenas Kündigung. Wozu das arme Ding, das sich das ganze Leben mit Nahrungssorgen verdarb, vor der Zeit ängstigen? Sie würde das alles noch früh genug erfahren.
Der ungeduldig ersehnte März kam endlich heran. Lena war frei.
Draussen schien die Sonne so warm und hell, als wäre man schon mitten darinnen im lebenspendenden Frühling gewesen.
Lena stiess die Fenster ihrer engen Schlafkammer auf und steckte den Kopf weit hinaus in den Sonnenschein und die warme Luft.
Alles was sie sonst bekrittelt hatte, gefiel ihr heut. Der Hof mit dem noch kahlen Nussbaum, auf dem die Spatzen lustig zwitscherten, die schmalen Seitenflügel mit ihren vielen Fenstern, die heute an dem ersten schönen Tage des Jahres alle weit geöffnet standen, die lustig im Morgenwind flatternden Gardinen, die sie wie wehende Fahnen grüssten.
Lena zog sich gleich fix und fertig an, obwohl sie nichts zu thun und den ganzen köstlichen Tag zur freien Verfügung vor sich hatte.
Als Lena zum Frühstück kam, das Lotte schon längst für sie bereit gestellt hatte, fand sie neben ihrer Tasse einen Brief von Bornstein.
Sie liess sich Zeit mit dem Oeffnen. Erst nachdem sie mit Lotte geplaudert und ihr Frühstück beendigt hatte, nahm sie eine Nadel aus dem vollen Haarknoten und schnitt den Umschlag damit auf. Bornstein schrieb:
»Liebste Lena, Dir und mir allerbesten Glückwunsch zur wiedergewonnenen Freiheit! Wenn es Dir recht ist, wollen wir diesen ersten März feierlich begehen. Hoffentlich ist der Himmel uns gnädig –«
Lena lachte und blickte über Lottes über die Arbeit gesenkten Kopf hinweg in den Sonnenschein.
»Wenn es nicht gerade in Strömen giesst – in diesem Fall erhältst Du bis zehn andere Nachricht – wollen wir uns Punkt elf Bahnhof Friedrichstrasse unter der Uhr treffen. Fürchte nicht, dass ich Dich nach Dahlow entführen will, so gern ich es thäte. Dein Eigensinn – pardon Kleine – Deine Willensstärke ist ja leider! unbesiegbar. Wir wollen nach Wannsee oder Potsdam fahren, was Dir lieber ist, ein[87] gutes Diner einnehmen, wogegen Du doch vermutlich nichts haben wirst, gegen Abend zurückkommen und in ein Theater gehen. Ich schlage Dir Central-Theater vor, Thomas soll in der neuen Posse zum Brüllen komisch sein. – Danach – na, das magst Du bestimmen.
Also auf Wiedersehen Punkt elf unter der Uhr. B.«
Nachdem sie gelesen, fragte sie Lottchen, was es wohl an der Zeit sei.
»Neun vorbei«, gab sie, die schon seit dem frühesten über der Arbeit sass, mit einem ganz kleinen Vorwurf zurück.
Lena stand auf und küsste sie. Die Schwester that ihr in diesem Augenblick unbeschreiblich leid. Nun würde sie wieder den ganzen schönen Tag lang hier sitzen und sticheln um elenden Hungerlohn, während sie draussen in vollen Zügen das himmlische Leben geniessen würde.
Auch ein wenig Gewissensbisse hatte sie. War es nicht eigentlich ihre Pflicht, Lotte endlich zu sagen, dass sie ausser Stellung sei, es ihr zu sagen, ehe sie für den ganzen Tag das Haus verliess?
Nachdenklich blickte Lena ein paar Augenblicke in den Sonnenschein hinaus. Draussen im Nussbaum zwitscherten noch immer die Spatzen und aus den offenen Nachbarfenstern tönte ein lustiges Lied.
Nein heute nicht – morgen – morgen bestimmt. Heute wollte sie einmal einen rechten, echten Feiertag haben, durch keine Sorgen, keine Vorwürfe getrübt.
Es drängte sie aber doch, Lotte durch irgend etwas ihre mitleidige Zuneigung zu beweisen. Sie legte die Arme von rückwärts um den Hals der Schwester.
»Du Lotte, kann ich Dir nicht ein bischen helfen? Ich brauche erst um halb elf fort.«
Lotte sah mit einem herzlichen Blick zu Lena auf.
»Ich danke Dir, liebe Lena – aber es ist wirklich nichts zu thun. Mit dem Mittagbrot hat es noch lange Zeit, und eingeholt ist schon alles.«
Nun fiel Lena ein, dass sie der Schwester doch wenigstens sagen musste, dass sie heut nicht zu Tisch kommen würde.
Nicht gerade fliessend kam das Bekenntnis heraus. Aber Lotte schien über diese Nachricht nicht sonderlich beunruhigt zu sein. Entweder sie war wie gewöhnlich mit ihren Gedanken wieder weit ab, oder sie glaubte, dass Lena bei Strehsens essen würde, wie dies schon öfter vorgekommen war.
Ohne von der Arbeit aufzublicken, sagte sie gleichmütig nichts als: »Bist Du zum Abend zurück?«[88]
Und als Lena jetzt selbst etwas von Strehsens murmelte und meinte, es könne Mitternacht werden und sie möge nur ja nicht auf sie warten, schwieg Lotte ganz.
Sie würde auch geschwiegen haben, wenn sie die Wahrheit gekannt hätte. Ihr eigenes Gewissen war so schwer belastet, dass sie sich innerlich gar nicht berechtigt fühlte, Lena Vorhaltungen zu machen.
Lena, der man im Grunde keinen besonderen Hang zur Pünktlichkeit nachrühmen konnte, war heute auf die Minute zur Stelle.
Gleich nach ihr kam Bornstein, ein paar prachtvolle Maréchal-Niel-Rosen in der Hand.
Das war eine Wiedersehensfreude! Selbst Lena, die nicht das geringste Talent für Zärtlichkeiten hatte, wurde ganz warm. Wenn sie sich nicht gerade mitten im Getümmel der Friedrichstrasse begegnet wären, hätte Bornstein heut aus Lenas übermütiger Freude heraus vielleicht seinen ersten Kuss bekommen.
Sie bestiegen ein schon halb besetztes Coupé zweiter Klasse und fuhren nach kurzer Debatte bis nach Potsdam hinaus.
Lena war anfangs mehr für Wannsee gewesen, das ihre Kolleginnen ihr stets in den blühendsten Farben geschildert hatten, aber Bornsteins feierliche Versicherung, dass man um diese Jahreszeit in Potsdam jedenfalls besser essen und trinken würde, hatte schliesslich den Ausschlag gegeben.
Es war ein völlig sommerwarmer Tag, dieser erste März. Ein reiner wolkenloser Himmel blaute über den kahlen Feldern, den Kiefernwaldungen und langgestreckten Ortschaften, durch die sie dahin fuhren.
Lena war in den fünf Monaten, in denen sie in Berlin war, noch nicht über Charlottenburg hinausgekommen, und auch das hatte sie nur von der Berliner Seite aus besucht. So machte ihr schon die Eisenbahnfahrt einen Riesenspass. Die Sport-Etablissements auf dem Kurfürstendamm, Charlottenburg von einer Seite, von der sie es noch gar nicht kannte, das auf dem Amt so viel besprochene Halensee, der Grunewald mit seinen prächtigen Seen, die heut im Sonnenschein, umstanden von ihrem immergrünen Kiefernkranz, einen fast hochsommerlichen Eindruck machten, alles entzückte sie.
Grosse Pläne schmiedete sie während der Fahrt für den Sommer. Jede Woche mindestens einen Ausflug in den Grunewald und die Potsdamer Gegend, und Sonntags! Ach, Sonntags erst! Sonntags würde sie dann frei sein, ganz frei, vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht.[89]
Bornstein hatte seine streitbare Miene aufgesetzt. Mit dem Grunewald solle sie ihn nur gefälligst in Ruhe lassen. Das sei alles nichts gegen Dahlow. Sie würde ja sehen, wenn sie sich endlich entschlösse.
Lena sah ihren Begleiter einen Augenblick lang halb nachdenklich, halb schelmisch von der Seite an. Dann sagte sie zögernder als es sonst ihre sicher zugreifende Art war:
»Ueber Dahlow möchte ich bei Tisch was mit Ihnen bereden, Herr Bornstein –«
Bornstein zwinkerte vergnügt zu ihr hinüber, und sagte nichts weiter, als »hm, hm«. Bei sich dachte er:
»Na, hoffentlich wird die kleine Krabbe endlich 'mal Vernunft annehmen!«
Auf dem Bahnhof in Potsdam liessen sie sich einen kleinen Imbiss geben, dann wurden in einem Fiaker die Stadt und die königlichen Gärten, so weit sie für Fuhrwerk zugänglich waren, durchfahren.
Sanssouci, auf das Lena sehr gespannt war, wollte Bornstein ihr absolut nicht zeigen, damit wollten sie warten, bis es wirklich Frühjahr war und der Flieder blühte.
Lena verzog den Mund, aber sie fügte sich. Bornstein war ein zu liebenswürdiger Kavalier und meinte es zu gut mit ihr, als dass sie einer solchen Kleinigkeit wegen hätte ihren Kopf aufsetzen sollen.
Bei ihrer Vorliebe für grosse Wasserflächen, die ihr auch den Wunsch, Wannsee aufzusuchen, so besonders rege gemacht hatte, wurde sie bei dem Ausblick, der sich ihr auf der Glienicker Brücke bot, für das versagte Sanssouci vollauf entschädigt. Nein, wie das schön war! Und wie viel man von diesem herrlichen Punkt aus übersah! Da lag ja auch Babelsberg, wo der alte Kaiser Wilhelm gewohnt hatte. Tief grün leuchtete die breite Rasenfläche bis zur Schlossrampe hinauf.
Lena erinnerte sich des alten Kaisers noch ganz gut von einem Kaisermanöver in der Nähe von Gross-Klockow her. Der Vater hatte sie und Lotte auf einem alten Jagdwagen des Barons mit in das Manövergelände genommen, und ein glücklicher Zufall hatte sie ganz nahe zu der Stelle gebracht, wo der alte Kaiser mit seinem Stabe hielt.
Sie erzählte Bornstein die kleine Episode; dabei gingen ihre strahlenden Augen lebhaft über das schöne Landschaftsbild hin und her, das von der Sonne goldhell beschienen vor ihnen lag.
Bornstein musste ihr alles erklären.
Schloss Glienicke – Babelsberg gegenüber – das früher Prinz Karl, der Bruder des Kaisers, bewohnt hatte. In[90] schräger Richtung davon, auf dem anderen Havelufer, Sakrow. Vor ihnen, wenn sie den Weg am Ufer links hinunter verfolgten, die kaiserliche Matrosenstation; drüben, wiederum weiter nach links, von der Havel aus landeinwärts, die Türme des Pfingstberges.
Lena hätte am liebsten all diese Punkte noch heute besucht, aber Bornstein trieb zu Tisch. Als er sie daran erinnerte, dass es Essenszeit sei, verspürte auch sie starken Appetit. So schlenderten sie Arm in Arm zu dem offenen Wagen zurück, der diesseits der Glienicker Brücke nächst der Haltestelle der Pferdebahn auf sie wartete.
Sie beschlossen, irgendwo im Freien zu speisen und lobten diesen Märztag, der ihnen mit seinem Sonnenschein die Stunden zu echten Festtagsstunden machte.
Der Kutscher fuhr sie zu einem Restaurant, in dem man, wie er versicherte, sehr fein, und auch im Freien speisen könne. Er würde so noblen Herrschaften doch ganz gewiss nur das Beste empfehlen.
Im Freien sassen sie zwar, aber das Diner war nicht das, was Max Bornstein für Lena gewünscht hätte. Ihre heitere Laune liessen die beiden sich aber dadurch nicht stören. Es wäre auch schwer gewesen, heute in Lenas Gesellschaft nicht heiter zu sein.
Allerliebst sah sie aus in ihrer weissen Wollblouse und dem kurzen schwarzen Rock, dem kecken schwarzweissen Hütchen und den chiken Stiefeletten. Dabei hatte sie eine Art zu plaudern und zu lachen, die Bornstein vollends den Kopf verdrehte. Das war so die Freundin, wie er sie sich immer gewünscht, aber trotz seines tollen Lebens noch niemals gefunden hatte, halb Dame, halb Grisette. Donnerwetter, mit der würde er es sein ganzes Leben lang aushalten, Was besseres wünschte er sich gar nicht. Fast niemals launisch und immer fidel, mehr pikant als schön, nie langweilig, und gesund vom Scheitel bis zur Sohle, gesund auch in ihren schlechten Eigenschaften, in ihrem Egoismus und ihrem Eigensinn.
Wahrhaftig, Bornstein hätte in dieser Stunde nicht übel Lust gehabt, Lena um ihre Hand zu bitten.
Es ging niemand Andern etwas an, wen er heiratete, und für seine Lebensanschauung wäre sie die beste Frau der Welt gewesen. Auf Bildung pfiff er. Er wusste am besten, dass es mit seiner eigenen auch nicht weit her war.
Und um ihn direkt zu blamieren, dazu war der kleine Racker viel zu klug.
Na aber, es brauchte ja nicht gleich heute zu sein. Ein bischen überlegen konnte man ja die Sache noch. So ganz[91] ohne Bedenken war sie am Ende doch nicht. Dabei fiel ihm ein, dass Lena über Dahlow hatte mit ihm sprechen wollen. Donnerwetter, das hätte er beinahe vergessen! Noch besser, eine Konjunktur zu verschlafen, auf die man so lange gewartet hatte! –
Indem er sein Sektglas gegen sie aufhob, sagte er schmeichelnd:
»Na, Kätzchen, Du wolltest mich doch bei Tisch was fragen, Dahlow betreffend. Hast Du Dir das schon wieder anders überlegt?«
Lena schüttelte lebhaft mit dem Kopf. Dann sagte sie unvermittelt:
»Kommt Ihr Gärtner manchmal nach Berlin, Herr Bornstein?«
»Willst Du wieder Blumen haben, Mieze? Dann komm nur und hol' sie Dir selbst.«
»Darum handelt es sich nicht –« und Lena steckte, wie Bornstein es nannte, ihre Geschäftsmiene auf.
»Es handelt sich um etwas sehr Ernstes. Ich habe nämlich einen grossen Plan vor, Herr Bornstein –«
»Um Himmelswillen, Lena, Du willst Dich doch nicht schon wieder in eine Stellung begeben? Ich danke Gott, dass Du endlich frei bist!«
»In eine Stellung nicht, – aber arbeiten muss ich doch, wovon soll ich denn leben?«
Er wollte ihr sagen, dass sie nur den Mund aufzuthun brauche, um nie wieder im Leben eine Hand zu rühren, aber weiss der Himmel, wie es kam, er hatte nicht recht den Mut dazu. Dieses kleine Frauenzimmer hielt ihn noch immer in Schach. Aergerlich über sich selbst, sagte er gereizt:
»Na also, was ist es denn?«
»Etwas, wozu ich Ihren Rat und Ihre Hilfe gebrauche, Herr Bornstein!«
»Wenn Du was von mir willst, könntest Du doch wenigstens Max und Du zu mir sagen«, stiess er brummend heraus.
»Ich mag das nicht. Es hat auch gar keinen Sinn. Wir sind doch bis jetzt auch so ganz gut fertig geworden.«
»Na also«, brummte er zum zweiten Mal.
»Ich möchte gern ein Blumengeschäft etablieren, Herr Bornstein, aber ich habe nichts dazu als kolossale Lust –«
»Hm, ein bischen wenig.«
Obgleich ihm diese Idee gar nicht übel passte, – er hatte längst daran gedacht, ihr ein nettes kleines Geschäft zu kaufen – wollte er sie doch ein bischen zappeln lassen.[92] Vielleicht konnte dieser Plan ihr zur Falle werden, in der sie sich endlich verfing.
Lena war einigermassen erstaunt, Bornstein so wenig entgegenkommend zu finden. Er las ihr doch sonst jeden Wunsch von den Augen ab, und gar auf einen ausgesprochenen einzugehen, hatte er noch niemals auch nur einen Augenblick gezögert.
»Da möchte ich mir vor allen Dingen Rat bei Ihrem Gärtner holen.«
Er hatte es auf der Zunge, ihr zum so und sovielten Male zu sagen: »Fahr doch nach Dahlow, wenn Du was willst.« Aber er bezwang sich und gab das Versprechen, ihr den Gärtner hereinzuschicken.
Sie war ganz glücklich bei dem Gedanken. Unwillkürlich musste er über sie lachen.
Frauen bleiben doch stets kurzsichtige Kindsköpfe, selbst die gescheitesten.
»Nun, und was ist mit dem Rat meines Gärtners gross erreicht? Sei doch nicht so dumm, Mieze, und thue Deinen Mund auf. Du weisst ja, ich geb' Dir das Geld gern, wenn Du Dich durchaus etablieren willst. Blumen sind noch längst nicht das schlechteste.«
Und nun fing er auf einmal an, selbst für den Plan Feuer zu fangen, immer mit dem Hintergedanken freilich, dass Lena von Dahlow würde ihre Ware beziehen müssen, und dass es sich dann von selbst ergeben würde, dass sie öfter hinauskam.
Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und fing an, mit seinem kostbar getriebenen silbernen Stift Zahlen zu notieren. Dann hielt er ihr einen langen Vortrag, wie alles gemacht werden müsse. Gleich in den nächsten Tagen wollten sie einen netten Laden in der Potsdamer Gegend mieten. Schon zum ersten April natürlich. Auch Mehlmann, sein Obergärtner, sollte allerbaldigst hereinkommen, um Rat zu geben, was sie für Personal brauchen würde und so weiter. Sie selbst würde während dieser vier Wochen wohl oder übel in ein grosses Blumengeschäft hineingucken müssen, um doch wenigstens etwas von der Branche zu verstehen.
Lena war überglücklich und mit Bornsteins sämtlichen Vorschlägen dankbarlichst einverstanden. Nur über die Vorstreckung und Verzinsung des Kapitals konnten sie nicht einig werden.
Was Bornstein ihr da vorrechnete, sah trotz ihrer mangelnden Erfahrung beinahe wie ein Geschenk aus. Und das wollte Lena nicht. Um keinen Preis. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis widerstrebte ihrer Erziehung und ihren[93] Anschauungen, vor alledem aber auch ihrem ungestümen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie wollte in dieser Sache ihr eigener Herr sein, sich unter keiner Bedingung Bornstein gegenüber zu etwas verpflichten. Instinktiv scheute sie den ersten Schritt. Er sollte keine anderen Rechte über sie gewinnen, als die eines freien, heiteren Verkehrs. Was darüber ging, das war vom Uebel.
So viel hatte ihr kluger Kopf in den wenigen Monaten in Berlin schon gelernt.
So beschäftigt waren die beiden mit ihren Plänen, dass sie stundenlang in dem Restaurant sitzen blieben. Nach Tisch waren sie in ein behagliches Zimmer übergesiedelt, in dem sie ihren Kaffee tranken. Bornstein liess sich Absynth dazu geben. Dann zeichneten und rechneten sie weiter an ihren Wohnungs- und Ladenplänen, engagierten Personal und arrangierten Schaufenster, bis es für das Theater viel zu spät geworden war.
Lena war nicht sonderlich betrübt darüber. Sie ging schon ganz in ihren neuen Ideen auf.
Zwischen acht und neun kamen sie in Berlin an. Sie bummelten noch ein bischen Unter den Linden herum und blieben wohl über eine halbe Stunde an dem Blumenfenster von Schmidt stehen.
Plötzlich kam Bornstein ein guter Gedanke.
»Weisst Du was, Mieze? Ich melde Dich gleich morgen hier als Volontärin an. Der Chef kennt mich und verdient genug an mir, um mir diesen kleinen Gefallen thun zu können.«
Lena war natürlich vollkommen einverstanden.
Dann gingen sie in einen der modernen Bierpaläste in der Friedrichstrasse. In den Weinstuben, die sie im Grunde vorzogen, pflegte Bornstein mehr Bekannte zu finden als ihm bequem war.
Beim Abendbrot bat Lena, falls er morgen nach der Zimmerstrasse hinauf kommen sollte, Lotte noch nichts von all' diesen neuen Plänen zu erzählen. Die Arme sei so nervös und überarbeitet, dass sie in allem Neuen nur ein neues Schrecknis, einen neuen, drohenden Schicksalsschlag sähe. Jedenfalls müsse sie ihr erst beibringen, dass sie ihre Stellung als Telephonistin endgültig aufgegeben habe.
Bornstein fand das sehr rücksichtsvoll von Lena gedacht, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit. Er sprach es auch aus und freute sich, als sie ihm die Antwort gab:
»Wenn man selbst glücklich ist, möchte man andern doch wenigstens ihre schwierige Lage einigermassen leicht machen.«[94]
Er streichelte statt jeder Erwiderung die neben der seinen auf dem Tisch liegende Hand Lenas mit zärtlichem Respekt.
Dann sagte er ihr, dass er morgen überhaupt nicht nach der Zimmerstrasse kommen würde. Er wolle bei Schmidt sein Heil versuchen und dann nach Dahlow hinausfahren, um alles Notwendige mit Mehlmann zu besprechen.
»Uebermorgen kann er dann hereinkommen und uns einen passenden Laden draussen im Westen suchen helfen.« –
Der nächstfolgende Tag liess sich noch wärmer an als der vorhergegangene.
Gegen Mittag wurde es förmlich schwül, und Lena, die von einem kurzen Gang von ihrer Schneiderin nach Hause kam, meinte lachend, dass heut sicherlich noch ein Wunder geschehen und ein Gewitter aufziehen würde. Falb habe jedenfalls wieder einen kritischen Tag prophezeit.
Lotte arbeitete an neuen Schulhüten für die drei Mädchen der Lehrerfrau. Sie war so ziemlich die einzige Kundin, die ihr von Frau Wohlgebrechts Empfehlungen übrig geblieben war. Da ihr aber Lena gestern ihre Tagegelder vom Februar mit einem ganz geringen Abzug eingehändigt hatte, sah Lotte die Dinge ausnahmsweise nicht ganz so schwarz wie gewöhnlich an. Heut Abend würde sie mit Gerhart zusammenkommen. Dann wollte sie sich noch einmal mit ihm besprechen, ob man die Dinge bis zum Sommer so weiter laufen lassen könne, oder ob sie versuchen solle, den Wirt zu bitten, sie aus dem Kontrakt zu entlassen.
Trug Lena ferner so regelmässig wie im Februar zum Hausstande bei, so würde es, angesichts einer auch nur kleinen Kundschaft für Frühjahrs- und Sommerhüte, bei der grössten Sparsamkeit wohl angehen, die Wirtschaft noch ein Weilchen aufrecht zu erhalten.
Als Lena heut so bald von ihrem kurzen Gang zurückkam, war Lotte sehr erfreut. Die grosse Einsamkeit lastete jetzt doppelt schwer auf ihr. Einigermassen staunte sie freilich, als sie hörte, dass Lena wiederum den ganzen Tag über frei sei, ebenso wie gestern. Das würde doch nichts Uebles zu bedeuten haben?
Lena redete der Schwester einstweilen alle Bedenken aus. Sie wollte erst kurz vor dem Schlafengehen beichten. Lotte den ganzen Tag über mit einem vorwurfsvollen, verweinten Gesicht umhergehen zu sehen, das konnte sie nicht ertragen.
Eigentlich wunderte sie sich selbst darüber, dass Lotte noch nicht hinter die Wahrheit gekommen war. Es war nur dadurch erklärlich, dass Lena die Schwester nur unvollständig[95] in das Dienstreglement eingeweiht hatte, und Lotte seit Weihnachten so verträumt war, dass sie Lenas Kommen und Gehen kaum mehr beobachtet hatte.
Sie speisten schlecht und recht, aber ganz heiter bei offenen Fenstern, und da das von Lena angekündigte Frühlingsgewitter noch keine Anstalten machte heraufzukommen, machten sie nachmittags einen Spaziergang miteinander. Abends setzte Lotte das Abendbrot um eine Stunde früher als sonst auf, zum grossen Unbehagen Lenas, denn nun musste sie endlich sprechen, besonders da Lotte, wie sie ihr sagte, gleich nach dem Abendessen noch einen Gang vorhatte. –
Heut, wo die Schwestern so vertraut mit einander waren, wie seit lange nicht, würde Lotte, wenn Lena danach gefragt hätte, ihr sicherlich die beabsichtigte Zusammenkunft mit Gerhart Schmittlein nicht verheimlicht haben. Aber Lena fragte nicht, sondern druckste, während sie widerwillig an ihrem Wurstbrot herumkaute, daran herum, wie sie Lotte die peinliche Angelegenheit am schnellsten beibringen könne.
Lotte gab endlich ganz arglos selbst die Handhabe dazu, indem sie sagte:
»Wann hast Du morgen Dienst, Lena? Doch wahrscheinlich sehr früh nach diesen zwei freien Tagen?«
Jetzt oder nie, dachte Lena und platzte mit einem:
»Gar nicht – ich bin entlassen« heraus.
Lotte starrte sie erst mit grossen Augen, die vor zorniger Erregung ganz dunkel waren, an. Dann brach sie wie gefällt zusammen, und laut schluchzend fiel sie mit dem Kopf vornüber auf den Tisch.
Lena sprang hinzu, aber Lotte wehrte sie heftig ab. »Lass, lass, nun ist alles aus – das ist das Letzte«, wimmerte sie.
Und einen solchen Zorn hatte das sanfte, zärtliche Geschöpf in diesem Augenblick auf die Schwester, die ihr so kaltblütig den Verlust der letzten wirtschaftlichen Grundlage ankündigte, dass sie so, wie sie da war, aus dem Zimmer hinaus und über den Hof ins Freie lief, um sich zu dem einzigen Halt, den sie nun noch besass, zu Gerhart Schmittlein zu flüchten.
Als sie auf die Strasse kam, fielen die ersten Regentropfen auf ihr wirres Haar. Ein schwüler, schwerer Wind schlug ihr in das heisse Gesicht, und von fern her grollte der erste Donner.
Lotte lief mehr, als sie ging an den wenigen Häusern vorüber bis zur der kleinen Leihbibliothek.
Dichter fiel der Regen, und die leichte weisse Hausblouse, die sie trug, war schon fast völlig durchnässt, als[96] sie die niedere Ladenthür aufstiess, dass die Glocke laut und schrill anschlug.
In demselben Augenblick zuckte der erste fahlblaue Blitz durch das offene Fenster.
Gerhart war allein im Laden, als Lotte so plötzlich eintrat. Die Hand über die Augen gelegt, hatte er in Gedanken verloren dagesessen. Jetzt sprang er auf und streckte ihr die Hände über den Ladentisch entgegen. Auf den ersten Blick sah er, dass irgend etwas Besonderes mit ihr vorgegangen sein müsse.
»Geh hinein Lotte, die Lampe brennt schon. Ich lasse den Laden sofort schliessen. Minna mag das besorgen.«
In wenigen Minuten war er bei ihr.
Sie sass zusammengekauert in dem hochbeinigen Lehnstuhl der Tante und hielt das Gesicht in den Händen vergraben. Er kniete neben ihr nieder wie das letzte Mal, als sie am Tage der Abreise von Frau Wohlgebrecht bei ihm gewesen war, und ihre Hände küssend, die ihr eiskalt im Schoss lagen, bat er zärtlich:
»Lotte, liebes Kleines, was ist denn geschehen?«
Stockend und schluchzend erzählte sie ihm alles. Sie hatte kein Geheimnis mehr vor ihm. Dass Lena ihre Stellung verloren, dass sie nun nicht wüsste, wovon sie leben sollten, und zuletzt leise, sich über ihn beugend, flüsterte sie ihm ins Ohr, was sie sich bisher selbst nicht eingestanden, die dunkle Angst um Lena und Bornstein.
Er tröstete sie so gut er konnte.
Er strich ihr das feuchte wirre Haar aus der Stirn und küsste sie, sich übermächtig beherrschend, sanft auf den Mund.
»Lass nur, mein Kleines, ich arbeite schon für Dich mit – wenn Du nur manchmal bei mir bist.«
»Und Lena?«
»Lass doch Lena, die ist aus anderem Holz geschnitzt, die wird schon durchs Leben kommen. Die klammert sich an ihr Recht auf Glück. Glaube mir, die ist nicht so zaghaft wie Du.«
Lotte war aufgesprungen und ans Fenster getreten. Erst ein plötzlicher greller Blitzstrahl und gleich darauf ein heftiger Donnerschlag scheuchten sie zu Gerhart zurück. Er stand mitten im Zimmer und sah mit einem ihr rätselhaften Ausdruck zu ihr hin.
O, mein Gott, wenn sie ihn doch nur ganz verstanden hätte! Wenn sie ihm hätte ganz vertrauen können, ihm, dem einzigen, der sie wirklich lieb hatte auf der Welt, das letzte Herz, das sie besass![97]
Warum hatte sie niemand, der ihr sagte, was Recht und Unrecht war in dieser Wirrnis ahnungsschwerer Gedanken und Gefühle? Wenn die Mutter gelebt hätte, dass sie sie hätte fragen können: »Darf ich ihn lieben, wie er geliebt sein will, darf ich ihm vertrauen?« Aber die Mutter gab keine Antwort mehr auf ihre verzweifelten Fragen, sie war verstummt auf ewig.
Niemand konnte ihr raten als ihr eigenes Herz, und das schlug ihm in brennender Zärtlichkeit entgegen.
Er sah es ihr an, was in ihr vorging, aber er rührte sich nicht. Mit heissen, hungrigen Augen folgte er jeder ihrer Bewegungen. Erst als sie nun einen Schritt auf ihn zu machte, öffnete er weit und sehnsüchtig die Arme. Kampfesmüde stürzte sie an seine Brust, und während er sie heiss und immer heisser umschlang und ihr Hals und Antlitz mit glühenden Küssen bedeckte, stammelte sie halb besinnungslos: »Ich liebe Dich, ich liebe Dich – thu' mit mir, was Du willst.«
Mit geschlossenen Augen lag sie in seinen Armen. Und die Wellen seiner lang zurückgedrängten Leidenschaft brachen über ihr zusammen, und in dem lodernden Wonnebrand, den er geträumt hatte, hielt er die Geliebte umschlungen zu überseligem Rausch.
Draussen aber tobte der Sturm, prasselte der Regen gegen die niederen Fenster, krachte der Donner, und die grellblauen Blitze des Frühlingsgewitters erhellten die Liebesnacht der endlich Ueberwundenen.
– – – – – – – – – – – – – –
Draussen in der Natur hatte sich ein jäher Umschlag vollzogen. Auf die warmen Vorfrühlingstage war wieder Winterkälte gefolgt, und in dem Blumengeschäft von Schmidt, in dem Lena seit ein paar Tagen als Volontärin arbeitete, mussten alle die Vorsichtsmassregeln zur Erhaltung und Verpackung kostbarer Pflanzen wieder angewendet werden, die sonst nur der Höhepunkt des Winters vorzuschreiben pflegt.
Der Einblick, der ihr in das Geschäft gewährt wurde, machte Lena grosse Freude. Zuversichtlich war sie davon überzeugt, dass sie es in dieser Branche zu etwas bringen würde. Selbständig zu sein, frei disponieren zu dürfen, ihrer Vorliebe für alles Schöne, Dekorative die Zügel schiessen lassen zu können, dünkte ihr sichere Gewähr für Erfolg. Bei den kleinen Diensten, die man von ihr verlangte, zeigte sie in der That eine bedeutende Geschicklichkeit, ja mehr als das, ein ausgesprochenes Talent. Die schwere Kunst des Bindens ging ihr bald so geläufig von der Hand, als ob sie sie ihr Lebenlang geübt habe, und in geschmackvollen Zusammenstellungen[98] von Blumenarrangements übertraf sie bald die meisten der seit Jahren angestellten jungen Damen.
Dem Chef des Berliner Hauses Schmidt war es sehr angenehm, seinem langjährigen Kunden schon nach vierzehn Tagen eine ungewöhnlich befriedigende Auskunft über seinen Schützling geben zu können.
»Fräulein Weiss ist förmlich prädestiniert für unsere Kunst«, versicherte er zu wiederholten Malen und fügte hinzu, dass er glücklich sein würde, wenn er eine solche Kraft für sich selbst gewinnen könnte. »Ein wahrer Segen, dass die junge Dame sich draussen im Westen etablieren will. Die Konkurrenz würde uns sonst bange machen können.«
Bornstein klopfte dem verbindlichen Herrn mit protegierender Geste auf die Schulter. Er nahm die Bewunderung auf, wie sie gemeint war, als ein liebenswürdiges Kompliment, aber er konnte es seiner Eitelkeit nicht versagen zu erwidern, dass das Haus Weiss jedem Wettbewerb mit dem Hause Schmidt aus alter Freundschaft aus dem Wege gehen werde.
Gleich in den ersten Tagen des März war in dor Potsdamerstrasse zwischen Kurfürsten- und Bülowstrasse, unter Mehlmanns Oberaufsicht ein hübscher Laden mit einem sehr geräumigen Schaufenster und einer behaglichen kleinen Wohnung gemietet worden.
Mehlmann engagierte auch das notwendige Personal und hatte sich anheischig gemacht, am ersten April morgens ein fix und fertig ausgestattetes Geschäftslokal zu übergeben. In dem Schaufenster sollten nur Dahlower Produkte prangen. Bornstein und Lena gaben ihre Zustimmung.
Die Massregeln des Alten mussten respektiert werden, wenn man's nicht mit ihm verderben wollte, und Lena war viel zu klug, um nicht zu wissen, wie nötig sie Mehlmanns Gefälligkeiten noch haben würde. Darum schluckte sie auch den Wunsch herunter, die Blumenarrangements für das Schaufenster selbst zu machen. Um sich aber als zukünftige Prinzipalin nicht ganz hintenan setzen zu lassen, mahnte sie den Alten nachdrücklich bei der bitteren Kälte, die noch immer herrschte, recht vorsichtig bei dem Transport zu sein.
Sie war stolz, bei dieser Gelegenheit ihre, bei Schmidt jüngst erlernte Weisheit an den Mann bringen zu können.
Der Alte murmelte etwas von langem Winter, der ihr bei ihrer Unerfahrenheit teuer zu stehen kommen werde, versprach aber im übrigen alles bestens zu besorgen. –
[99]
In Frau Wohlgebrechts kleinem Stübchen neben der Leihbibliothek war von den hartnäckigen Winterlaunen, die so manchem zu schaffen machten, nicht viel zu spüren. Der ganze Raum schien wie von Sonnenschein und Rosen durchstrahlt und durchduftet zu sein.
Auf dem schwarzen Rosshaarsofa sass Gerhart und schrieb mit heissen Wangen und flammenden Augen ein Frühlingsdrama, das er schon lange knospend in der Brust getragen, und das nur Lottes Küsse bedurft hatte, um zur Blüte aufzuspringen. Seine ganze Zukunft, so schien es ihm, hing an diesem Stück. Dieser eine Wurf sollte ihn unter die Ersten reihen, und dazu war Lottes Liebe, ihre völlige Hingabe ihm nötig gewesen.
So wie er sie jetzt besass, war sie ihm Weib, Modell und Muse zugleich. Er bedurfte ihrer steten Nähe, um schaffen zu können. Sobald ihm ein Gedanke, eine Form versagte, riss er sie an sich und berauschte sich an seinen eignen heissen Liebkosungen aufs neue für sein Werk.
Lotte hatte sich anfangs geweigert, den ganzen Tag über bei Gerhart zu sein. Nachdem er ihr aber mit Bitten und Flehen und tausend Liebesbeweisen klar gemacht hatte, dass er nur dann etwas zu leisten im Stande sei, wenn sie an seiner Seite bliebe, seiner Sehnsucht jeden Augenblick erreichbar, nachdem er ihr versichert, dass jedes andere Mädchen, nachdem es sich dem Geliebten in freier Liebe hingegeben, noch zu ganz anderem sich verstehen, ganz zu ihm halten, unter einem Dach mit ihm leben würde, hatte sie endlich nachgegeben.
Und sie kam und blieb über alles gern. Lena, die ganz in einem neuen Leben aufging, war ihr fremd und fremder geworden, und was sollte sie allein in ihren vier öden toten Wänden, vor denen ihr graute, seit sie das warme Leben in Gerharts Armen, an Gerharts Herzen kennen gelernt hatte. Heimlich gestand sie sich's, dass sie ihm dankbar sein müsse, dass er nicht auf einem völligen Zusammenleben bestand, denn im tiefsten Innern ihres Herzens fühlte sie, dass sie schwach genug gewesen wäre, es ihm nicht zu weigern.
Was hatte sie auch zu verlieren? Auf wen Rücksicht zu nehmen? Fremd, wie sie nach Berlin gekommen war, war sie geblieben. Niemand ausser Gerhart hatte je nach ihr gefragt. Lena ging ihre eigenen Wege, der Vater kümmerte sich nicht um sie, die einzige, die ihr Gewissen schlagen machte, war die tote Mutter. Und doch, wenn sie aus seligen Gefilden zu ihr niedersehen konnte, abgeklärt und rein, keinen irdischen Vorurteilen mehr unterworfen, gönnte sie ihrem Kinde vielleicht das warme zärtliche Plätzchen[100] am Herzen des geliebten Mannes. Und noch eins gab es für Lotte, das ihr in zaghaften Stunden Mut einflösste. Sie war keine grosse Menschenkennerin, aber so viel sagte sie sich doch: Gerhart war jung, war wandlungsfähig. Der Traum von der freien Liebe, in der allein er heute Heil und Seligkeit sah, würde vorübergehen. Und wenn sie dann beide so viel erworben hatten, dass sie einen Hausstand gründen konnten, würde er sie heiraten und niemanden würde sie mehr zu fürchten und zu scheuen haben.
Selten waren die Stunden, in denen sie so klügelnd sich selber Mut machen musste. Nach der langen Zeit herber Not und zehrender Sorge, unausgesetzten Widerstandes gegen Gerharts Liebeswerben, liess Lotte sich jetzt willenlos dahintragen von den sanft einlullenden Wellen ersten zärtlichen Liebesglücks.
Am ersten April verliess Lena die Wohnung in der Zimmerstrasse, um in die behaglichen Zimmer neben ihrem Geschäftslokal überzusiedeln. Ihren Anteil an der Miete hatte sie Lotte bis auf weiteres bezahlt. Bornstein, der in der letzten Zeit öfter nach der Zimmerstrasse gekommen war, hatte zwar den Vorschlag gemacht, Lotte möge im Guten versuchen, aus dem Kontrakt zu kommen, für sie allein würde ja eine Stube und Küche anderswo am Ende genügen. Gerhart aber, der übrigens absichtlich noch niemals mit Bornstein zusammengetroffen war, wollte davon nichts hören. Lotte sollte in seiner unmittelbaren Nähe bleiben und nicht durch lästige Wohnungsveränderungen aus ihrem Frieden herausgerissen werden. Es würden sich schon Mittel und Wege finden, das nötige Geld aufzubringen.
Einstweilen hatte er freilich Anstalten gemacht, das gerade Gegenteil zu erreichen. Er hatte an Frau Wohlgebrecht geschrieben, dass er zum ersten Oktober aus ihrem Geschäft ausscheiden müsse. Er könne es nicht länger verantworten, seine Zeit und seine Kräfte derartig zu zersplittern. Er würde bis dahin soweit sein, nicht nur auskömmlich, sondern glänzend von seiner Feder leben zu können.
Ursprünglich hatte er der Tante gleichzeitig eine Andeutung über seine und Lottes Beziehungen machen wollen, da er wusste, wie lieb die alte Frau das Mädchen hatte. Dann aber war er davon zurückgekommen. In ihrer bürgerlichen Beschränktheit würde Frau Wohlgebrecht zweifellos gleich von heiraten sprechen, und auf seine Erwiderung, dass die Verhältnisse das nicht gestatteten, in ihrer grenzenlosen Güte und Familienliebe jede denkbare Unterstützung anbieten.
Seine Ablehnung hätte ihn dann leicht undankbar erscheinen lassen können, und das wollte Gerhart der Tante[101] gegenüber nicht sein. Es würde ihr schon wehe genug thun, dass er die Stellung bei ihr aufgeben wollte.
Wirklich lautete auch Frau Wohlgebrechts Brief ganz verzweifelt. Musste Gerhart sie wirklich verlassen? Genügte es nicht, eine bescheidene Hilfskraft zu engagieren, um ihn zu entlasten? Sie selbst könne vorerst gar nicht daran denken, nach Berlin zurückzukehren. Das arme kleine Frauchen sei noch immer so schwach und hinfällig, dass sie sorgsamster Pflege bedürfe. Dazu der Mann und die grosse Wirtschaft, die doch auch nicht ganz vernachlässigt werden dürften. Es sei schon ein Kreuz um das Siechtum. Von ihr und allem, was auf ihren Schultern läge, wolle sie aber gar nicht einmal sprechen, sondern nur von ihm! Er möge es wohl bedenken: Die bescheidene Stellung bei ihr sei doch immer eine Art Auskommen; was wolle er denn anfangen, wenn es wieder nichts würde mit dem Verdienst durch die Feder? Zuletzt kam dann noch die Frage nach Lotte, die in keinem von Frau Wohlgebrechts Briefen fehlte. Das Kind hatte so lange nicht geschrieben, es ging ihm doch leidlich wohl? Seit Ende Februar hatte sie nichts von ihr gehört und jetzt waren sie schon im Mai, von dem man freilich hier oben, so nahe der russischen Grenze, noch nicht viel verspüre.
Gerhart hatte den Brief zusammengefaltet und in seine Brusttasche gesteckt. Er wollte ihn morgen Lotte zeigen. Heut Abend würden sie sich, zum erstenmal seit sie einander angehörten, nicht mehr sehen. Gerhart wollte um sieben an der Sitzung einer freien literarischen Vereinigung teilnehmen, der ein geselliges Beisammensein in einem Gartenlokal folgen sollte. Lotte hatte sich standhaft geweigert ihn zu begleiten. Mit ihm allein gab es keine Skrupel mehr für sie. Aber eine Gesellschaft mit ihm besuchen, sich dort, der Sitte dieser Kreise folgend, als seine Freundin einführen lassen, das brachte sie nicht zu Wege.
Gerhart war anfangs sehr verstimmt über diese Entscheidung gewesen. Er hatte Lotte mit Vorwürfen überhäuft dafür, dass sie noch immer an Vorurteile sich klammere, die er nun endlich überwunden wähnte; aber gerade dies scheue, keusche Zurückweichen vor der Oeffentlichkeit hatte ihn dann wieder entzückt und gewonnen. Dies Kleinod für sich allein zu besitzen, war es am Ende schon wert, thörichten Vorurteilen nachzugeben. Wer weiss, ob in dieser Gemeinde, in der alles der freien Liebe huldigte, nicht am Ende auch andere Augen sich auf Lottes unvergleichlich knospende Anmut gerichtet hätten? Und statt erneuter Vorwürfe, die sie erwartet hatte, hatte er sie so leidenschaftlich an seine[102] Brust gepresst, als ob es schon jetzt gälte, sie einem andern zu entwinden.
Lotte hatte den Abend dazu benutzt, um zu Lena herauszugehen. Erst einmal hatte sie der Schwester einen flüchtigen Besuch gemacht und weder von ihrem Geschäft noch von den angrenzenden Wohnräumen einen Eindruck empfangen.
Nun war sie völlig überrascht von dem, was sie zu sehen bekam. Wahrlich, trotz manchen Grolls, den sie gegen Lena auf dem Herzen hatte, ihr Platz war wirklich in Berlin, sie war zur Grossstädterin geboren.
Schon das Schaufenster mit seinen geschickt angebrachten elektrischen Flammen, die durch das Arrangement der Blumenauslagen zu förmlich malerischen Effekten gesteigert wurden, machte auf Lotte einen ausserordentlichen Eindruck. Darüber das Schild, das in grossen, weithin leuchtenden Buchstaben den Namen Lena Weiss trug. Welch eine Fülle von Erinnerungen rief dies Schild an jene Stunden in ihr wach, in der sie selbst, das Herz und den Kopf übervoll von Hoffnungen und Plänen, zuerst vor das eigene bescheidene Porzellanplättchen, das ihren Namen trug, getreten war. Was war von all den Hoffnungen und Entwürfen übrig geblieben, die sie damals beseelt hatten?
Nichts als die Erkenntnis, dass sie nicht dazu geschaffen sei, mitzukämpfen in dem heissen Kampf ums Dasein. Dass sie kein moderner Mensch, keine zielbewusste Kraftnatur sei, die ihr Leben auf eigene Hand zurecht zu zimmern weiss, keine Persönlichkeit wie die Grossstadt sie braucht und zum Dank dafür auf ihre starken Schultern nimmt. Nichts war sie, als eines jener vielen armen Mädchen, zu nichts geschaffen als zu lieben und geliebt zu werden, sich hinzugeben, hinzuopfern vielleicht für ihre Liebe. – Und seltsam, was ihr bisher als das höchste Glück, als die Ausfüllung ihres ganzen jetzigen und zukünftigen Daseins erschienen war, ihr Liebesleben mit Gerhart, kam ihr, der Position Lenas gegenüber, auf einmal nur wie eine flüchtige Episode vor, die ein Windhauch verwehen konnte. Der Boden schien ihr plötzlich unter den Füssen zu schwanken. Alles was sie gefestigt und abgeschlossen geglaubt, war ihr ins Wanken geraten, und zum erstenmal wieder seit langen Zeiten schlugen ihr jene erbarmungslosen Worte ans Ohr, die sie so ahnungsvoll durchschauert hatten:
»Ja, jede Grossstadt ist ein Zwinger,
Der rot von Blut und Thränen dampft!
Drum hütet Euch, ihr armen Dinger,[103]
Denn diese Welt hat schmutz'ge Finger,
Weh, wem sie sie ins Herzfleisch krampft!«
Ihre Lippen hatten es, ohne dass sie selbst es wusste, vor sich hin geflüstert, während sie vor dem glänzend erleuchteten Schaufenster ihrer Schwester stand. Wie war diese seltsame Stimmung nur so plötzlich über sie gekommen? Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Was war das nur mit ihr? Wie im Fieber bebend stand sie da. So konnte sie unmöglich bei Lena eintreten.
Langsam fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, wie Gerhart es ihr zu thun pflegte, wenn sie erregt war. Dann, ohne zu beachten, wie viel dreiste Blicke ihr folgten, schritt sie ein paar Mal vor dem Hause auf und nieder. So, nun war sie wieder die alte, nun konnte sie Lena begrüssen.
Vorn in dem geräumigen Ladenraum hantierte ein junges Mädchen in einer hellen Blouse mit stark eingeschnürter Taille. Sie spritzte die gebundenen Sträusse und die losen in malerischer Unordnung umherliegenden abgeschnittenen Blumen an. Ein süsser, betäubender Duft von Veilchen, Maiblumen, Rosen und Tuberosen schlug Lotte entgegen. Als sie das Mädchen nach ihrer Schwester fragte, zeigte dieses mit der Hand nach rückwärts, wo in einem mit Palmen fast verstellten Raum Stimmen laut wurden.
»Fräulein sind da drinne«, sagte sie in unverfälschtem berlinerisch, und ohne sich weiter um die Eingetretene zu kümmern, setzte sie ihre Spritze wieder in Bewegung.
Lotte suchte sich den Weg zwischen den Palmen hindurch bis in das anstossende Gemach.
Halb erschreckt, halb verwundert, prallte sie einen Augenblick vor dem Anblick zurück, der sich ihr so unerwartet bot.
In einem kleinen, ganz in türkischem Geschmack eingerichteten Raum sass auf einem niederen Polster Lena, eine Cigarette zwischen den Lippen, ihr gegenüber lehnte ein junger Offizier mit beiden Armen auf einem kostbar eingelegten Tisch, und während er blaue Ringe in die Luft blies, erzählte er Lena eine, allem Anschein nach überaus lustige Geschichte. Lottes unerwarteter Eintritt schien die beiden nicht im geringsten zu genieren.
Lena sprang auf und umarmte ihre Schwester, und während sie den Arm noch um Lottes Taille geschlungen hielt, stellte sie ihr den Offizier als Leutnant von Strehsen, Clotildes und Elisabeths Bruder vor.
»Die freilich nichts mehr von mir wissen wollen«, fügte sie lachend hinzu. »Der Herr Leutnant hat mir eben die Kriegserklärung seiner Familie überbracht.«[104]
»Unfreiwillig, gnädiges Fräulein, gänzlich unfreiwillig«, fiel Kurt näselnd ein.
»Wie Sie sehen, lege ich's Ihnen nicht zur Last«, sagte Lena, ihm die Hand reichend, die er nach Lottes Ansicht unnötig lange in der seinen behielt. »Aber Herr Bornstein wird böse sein, sehr böse sogar, darauf können Sie sich gefasst machen.«
Kurt machte ein verblüfftes Gesicht. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Das konnte eklig werden!
»Auf mich auch? Meinen Sie, Fräulein Lena?«[105]
Lena verstand ihn sofort. Der arme Junge sass schon wieder 'mal in der Klemme und brauchte Bornsteins offene Hand.
»Na lassen Sie gut sein, Herr Leutnant. Ich werde das schon machen. Schliesslich, was können Sie dafür, wenn Ihre Mutter und Ihre Schwester so be –«
»Sprechen Sie es ruhig aus, so beschränkt sind.«
Lena lachte.
»Ja, das wollt' ich wirklich sagen. Ob man ein Telephon bedient oder Blumen verkauft, bleibt sich doch wahrhaftig gleich –«
Da weder Lotte noch Kurt antwortete, fuhr sie fort:
»Na ja, ich sehe ja ein, dass ich das alles einstweilen von Herrn Bornstein annehme, mag ihnen nicht passend erscheinen – aber schliesslich sind sie doch nicht meine Richter – und dann in einem Jahr wird das alles schon anders aussehen. Ich denke doch selbst nicht daran, mich Herrn Bornstein so sehr zu verpflichten.«
Dabei sah sie, schon wieder heiter, den Leutnant schelmisch von der Seite an, als ob sie sagen wollte: machst Du's denn besser? Und hast nicht 'mal Aussicht, Dich Deiner Verpflichtungen zu entledigen? Und das wissen sie ganz gut und geben doch ihren Segen dazu!
Aber sie sprach es nicht aus. Der gute Junge that ihr leid. Dass Strehsens den Unsinn begangen hatten, ohne einen Groschen Vermögen alle ihre Söhne Offiziere werden zu lassen, sollte ihm nicht zur Last gelegt werden.
Sie gönnte es ihm gern, dass Bornstein ihn über Wasser hielt.
Sie streckte dem Leutnant die Hand entgegen.
»Also, Herr Leutnant, auf Wiedersehen. Bornstein können Sie heut nicht mehr erwarten. Der ist in Karlshorst und speist dann im Klub. Bitte, sagen Sie Ihrer Frau Mutter und Ihren Schwestern, dass ich trotz ihrer Verachtung und ihres Zorns einstweilen noch recht vergnügt am Leben sei.«
Kurt nahm nun endlich, und zwar recht widerwillig seine Mütze. Das war eine Verabschiedung sans phrase. Er wusste nicht recht, ob er sie seiner Botschaft oder der Gegenwart der kleinen Schwester zu verdanken hatte. Jedenfalls war er für den Augenblick entlassen. Bei seiner Verehrung für Lena ein fataler Moment, der ihm indess noch Stimmung liess zu bemerken, dass Lenas Schwester gleichfalls ein »reizender kleiner Käfer« sei, beinahe noch hübsche als seine gute Freundin, die Extelephonistin.
Und die »Gigerlkönigin« pfeifend schritt der Leutnant durch den Laden in dem erhebenden Bewusstsein, dass Berlin[106] doch »ein jöttliches Pflaster« und Kurt von Strehsen einer seiner beneidenswertesten Treter sei.
Nachdem der Leutnant gegangen war, sah Lotte sich in dem kostbar eingerichteten Raum um, dann, immer ohne ein Wort zu sprechen, blickte sie lange auf ihre Schwester.
Lena wurde dies Schweigen endlich unbehaglich.
»Was siehst Du mich denn so merkwürdig an, Lotte? Ach so –« und sie blickte an sich herunter auf das chike helle Frühjahrskleid, das sie trug – »Du wunderst Dich, dass ich die Trauer abgelegt habe? Bornstein mochte das nicht. Er sagt, Trauerkleider, das macht einen schlechten Eindruck in einem jungen Geschäft, noch dazu in einem Blumengeschäft, wo alles bunt und heiter sein soll!«
»Und Du thust alles, was Herr Bornstein wünscht?«
Lena lachte laut auf.
»Das fehlte noch! Aber hier im Geschäft, weisst Du, muss ich mich schon ein bischen nach ihm richten, weil er mir doch alles Geld dafür vorgestreckt hat!«
Lotte sah ihre Schwester nachdenklich an.
»Freilich da hat er viel für Dich gethan, und ich meine immer, wenn jemand so viel für einen thut –« und sie sah missbilligend auf den Platz, auf dem der Leutnant zuvor in breiter Behaglichkeit gesessen hatte.
Lena verstand sie sofort.
»Nein, Lotte, Du bist zu komisch. Ich glaube wirklich, Du bildest Dir ein, Bornstein und ich wären Liebesleute und er hätte ein Recht auf mich.« Sie knipste den Nagel des Daumens und des dritten Fingers zusammen.
»Noch nicht so viel ist zwischen uns. Gute Freunde sind wir, weiter nichts. Schön dumm wäre ich, wenn ich mich auf was Anderes einliesse. Heiraten thut er mich ja doch nicht – und was hab' ich nachher?«
Lotte war totenblass geworden. Wie die Posaunen des jüngsten Gerichts tönten ihr Lenas leicht und fröhlich hingeworfene Worte im Ohr.
»Heiraten thut er mich ja doch nicht – und was hab' ich nachher?«
»Herrgott, Lotte, was ist denn mit Dir? Du siehst ja kreideweiss aus!«
Lena nahm die Halbohnmächtige erschreckt in den Arm.
»Fräulein, Fräulein – schnell holen Sie den Portwein vom Büffet. Meiner Schwester ist nicht gut.«
Halbtot, mit geschlossenen Augen lag Lotte in Lenas Arm. Erst nachdem sie ein paar Tropfen von dem schweren Wein getrunken hatte, kam wieder Leben in ihr blasses Gesicht und ihre eiskalten Hände.[107]
Lena streichelte sie und überredete sie gutmütig, nach vorn mit ihr in den Laden zu gehen.
»Die Luft ist nicht gut hier in dem kleinen türkischen Loch«, sagte sie, sich zum Scherz zwingend, denn Lottes Zustand flösste ihr ernsthafte Besorgnis ein. »Komm, wir gehen in den Laden. Die Thür nach der Strasse ist auf, da bekommst Du frische Luft. Du setzt Dich in ein Eckchen und ich thue derweil meine Arbeit.«
Lotte folgte ihr mechanisch. Nach und nach wurde ihr wirklich besser, Lenas muntere Thätigkeit brachte sie auf andere Gedanken. Wie sie die Schwester so heiter hantieren sah, musste sie daran denken, wie recht der Vater und Franz Krieger gehabt, dass sie für ein Mädchen wie Lena keine Gefahr darin sahen, in Berlin einen Beruf zu suchen.
Lena hatte wirklich das frische »Zugreifsche«, auf das der Vater seine Hoffnung für sie gesetzt hatte.
Wie Lotte so nach Haus zurückdachte, fiel ihr gleichzeitig ein, wie lange sie nichts von der Heimat gehört und wie viel länger noch sie selbst nicht geschrieben hatte. Ein letzter, gutherzig fürsorglicher Brief von Franz Krieger lag noch immer unbeantwortet zwischen ihren Geschäftsbüchern. Mein Gott, wenn er wüsste! Er, der sie noch immer lieb zu haben schien, der sich noch immer um sie sorgte! Nein, sie konnte ihm jetzt nicht schreiben, gerade ihm nicht. Um nichts in der Welt! - –
Gerharts Frühlingsdrama machte ungeheure Fortschritte. Er arbeitete mit einem Schwung, als ob ihm Flügel gewachsen wären. Eine merkwürdige, fast krankhafte Ausdauer war über den unstäten Menschen gekommen, der sich sonst von jeder Stimmung, von jeder Laune hatte treiben lassen. Seine ganze Seele war bei dieser Arbeit, in der er ein Stück ureignen Wesens niederlegte. Sein ganzes heisses Liebesleben mit Lotte strömte er in dieser Dichtung aus, und wenn ihm einmal die Kraft versagte, griff er zu seiner alten Praxis und berauschte sich immer aufs neue an der Glut seiner eigenen Leidenschaft.
Wenn Lotte dann, was ihr noch immer geschah, scheu von ihm zurückwich, rief er seine Muse, seine Göttin in ihr an. Mit tausend Eiden schwur er ihr immer aufs neue, dass ihre Liebe ihm für seine Arbeit so notwendig sei, wie dem Verschmachtenden ein Tropfen Wasser zum Leben.
Er nannte sie seine Laura, seine Friederike, und immer wieder besiegt, sank das schwache zärtliche Geschöpf in seine sehnsüchtig ausgestreckten Arme.
Seit jenem Abend bei Lena hatte Lotte sich's vorgesetzt, mit Gerhart über ihre Zukunft zu sprechen. Ehrlich und[108] aufrichtig wollte sie ihm sagen, dass sie, trotz all ihrer Liebe zu ihm, nicht über das hinfort käme, was er »eingefleischte bürgerliche Vorurteile« nannte. Dass sie die freie Liebe für einen sündigen Rausch halte, dem ein Ende gesetzt werden müsse. Dass sie sich trennen wollten, bis die Mittel zur Heirat gefunden seien. Aber sie kam nicht dazu. So weit hatte sie in seinem Umgang doch schon einen freieren Blick gewonnen, dass sie einsah, seine Arbeit konnte nur von einer wilden freien Leidenschaft getragen, gedeihen. Er konnte sich jetzt nicht von ihr trennen, wollte er seine Arbeit nicht aufs Spiel setzen, noch weniger aber konnte er gerade jetzt seiner Ansicht nach »spiessbürgerliche Entschlüsse« fassen.
Und ihn um selbstsüchtiger Gründe willen um das Glück des Schaffens, um die Hoffnung auf Erfolg bringen, das brachte Lotte nicht über ihr gutes, nachgiebiges Herz. –
In einem freien literarischen Verein, der grosse Hoffnungen auf Gerhart setzte, hatte er kürzlich die beiden ersten vollendeten Akte seines Werkes gelesen. Lotte war nicht dabei gewesen, aber sie hatte nicht nur von Gerhart gehört, dass das Frühlingsdrama, selbst in dieser noch unfertigen Gestalt einen Sturm des Entzückens erregt hatte. Der annwesende Direktor einer freien Bühne hatte Gerhart die Aufführung im Herbst zugesichert, ja man hatte einen Vorschuss aufgebracht, um sich das Stück zu sichern und Gerhart Schmittlein die Arbeitszeit zu erleichtern.
Dieser Erfolg hatte Gerhart, wenn das möglich war, einen noch erhöhten Schwung für seine Arbeit gegeben. Im Juni hoffte er fertig zu sein. Dann wollten sie ein paar Ferientage irgendwo in der Nähe verbringen. Auch Lotte würde es nötig haben. Gerhart fiel es, trotzdem er ganz in seiner Arbeit lebte, doch auf, dass sie in der letzten Zeit nicht zum besten aussah. Aber wenn er sie fragte, wich sie ihm aus. Sie wusste selbst nicht, was ihr fehlte.
An einem schwülen Junitage wurde das Frühlingsdrama vollendet. Am Abend las Gerhart es Lotte in einem Zuge vor.
So sehr ihr die erste Hälfte gefallen hatte, so tief es sie gerührt hatte, unzählige feine Züge aus ihrem und Gerharts Liebesleben förmlich portraitähnlich darin wieder zu finden, so wenig befriedigte sie der zweite Teil. Die ungeklärt bleibenden Verhältnisse ängstigten sie, und Gerharts Antwort, als sie ihn nach dem Warum fragte, bedrückte sie mehr, als dass sie sie beruhigt hätte. Wenn so, wie er meinte, das wirkliche Leben aussah, wenn so, unausgeglichen und verworren, es verklang, was hatte sie dann zu erwarten? Und doch war es ihr von Tag zu Tag gewisser geworden, dass[109] eine Klärung eintreten müsse. Etwas, das sie seit kurzem mit geheimnisvoll süssem Schauer ganz erfüllte, drängte übermächtig dazu. Noch hatte sie keine Gewissheit, aber ihr ganzes Wesen schien ihr selbst wie von einem heiligen Wunder durchsetzt zu sein. In der ersten ruhigen Stunde wollte sie's Gerhart vertrauen, dann musste ja Klarheit werden. An die Möglichkeit, dass dieser fanatische Wirklichkeitsdichter hinter sein eigenes Leben, hinter das ihre und vielleicht das eines Dritten ein Fragezeichen, eine unlösbare Ziffer setzen könnte, um sich selbst treu zu bleiben, dachte sie nicht. So weit hatte ihre gesunde Natur sich von seiner krankhaften noch nicht verwirren lassen.
Am nächsten Morgen fuhren sie nach Friedrichshagen hinaus. Der Tag war warm, aber nicht so schwül, als der vergangene, die Luft rein und etwas bewegt. Die Fahrt wurde ziemlich schweigsam zurückgelegt.
Gerhart war abgespannt von der fieberhaften Thätigkeit der letzten Wochen. Jetzt, nach der Vollendung seines Werkes, trat der natürliche Rückschlag ein. Auch beherrschte ihn eine leichte Verstimmung gegen Lotte, ihrer Auffassung der letzten Akte wegen. Wenn er es auch nicht allzu schwer nahm – ein ernsthaftes Urteil konnte er ja am Ende nicht von ihr verlangen – so hatte es ihn doch peinlich berührt, dass der Schluss des Frühlingsdramas eine so geringe Wirkung auf sie ausgeübt hatte.
Lotte machte keinen Versuch, Gerharts Schweigsamkeit zu unterbrechen. Sie war in einer weichen, müden, ihr selbst rätselvollen Stimmung. Träumerisch lag sie gegen die Bank zurückgelehnt und blickte beinahe gedankenlos in den lichtblauen Himmel, auf die Felder, Gärten und Ortschaften hinaus, an denen der Zug sie vorüberführte.
Gerhart liess verstohlen die Blicke zu ihr hinüberschweifen. Er hatte sie selten so reizend gesehen wie heut. Sie hatte auf seinen Wunsch für diesen Tag die Trauer abgelegt und trug ein einfaches weisses, zierliches Waschkleid, ohne jeden Ausputz, ohne jede Farbe. Den Hut hatte sie abgelegt. Das krause goldblonde Haar fiel ihr in feinen Löckchen in die Stirn. Mit einer ihr selbst unbewussten Sehnsucht, mit einer tastenden Frage blickten ihre tiefen graublauen Augen ins Weite. Ueber ihrem ganzen Wesen lag ein eigentümlicher, blumenhafter Zauber: etwas geheimnisvoll Werdendes, etwas Reifendes und doch unendlich Keusches, wie die Frucht, die aus der kaum erschlossenen Blüte drängt.
In Friedrichshagen suchten sie eine Gartenwirtschaft dicht am Wasser auf. Am Ufer ihnen gegenüber zogen[110] sich in sanften grünen Linien die Müggelberge hin, von dem schlanken Aussichtsturm gekrönt. Die Luft war ganz still geworden. Wie ein grosser klarer Spiegel lag das Wasser vor ihnen da. Träumerisch blickte Lotte in die leise auf dem[111] Strand verrinnende Flut. Dieses einfache Landschaftsbild erfüllte sie mit unendlicher wehmütiger Freude. Es erinnerte sie an die waldumsäumten Seen ihrer Heimat und mit der Heimat an die Mutter.
Leise stahl sie sich in Gerharts Arm und blickte mit grossen zärtlichen Augen zu ihm auf. Er war ja nun ihr Alles, ihre Heimat, ihre Familie!
Er drückte Lotte an sich und wies mit der Hand nach dem jenseitigen Ufer.
»Nach dem Essen fahren wir hinüber in den Wald. Dort sind wir allein, ganz allein.«
Ein kleiner befreiender Seufzer hob Lottes Brust. Sie fühlte, dort würde sie endlich sprechen können.
Die Mahlzeit, zu der der Kellner jetzt rief, war ein fach und bald verzehrt. Sie mussten sich sehr einrichten, wenn sie keine Schulden machen wollten. Von dem Vorschuss war nicht viel mehr übrig. Kleinere Skizzen, die Gerhart jetzt schnell hätte verwerten können, seit er offiziell zu der Clique der Modernen gehörte, hatte er während der Arbeit an dem Frühlingsdrama nicht geschrieben; Lottes Verdienst aber reichte nur gerade aus, um das Notwendigste in ihrer jetzt mehr als einfachen, ja kümmerlichen Wirtschaft zu bezahlen. Wenn Lena es nicht übernommen hätte, während des laufenden Vierteljahrs noch für die Miete aufzukommen, Lotte wäre die Not über dem Kopf zusammengeschlagen.
Nach dem Essen nahmen sie ein Boot und liessen sich bis an den Wald hinüberrudern.
Gegen Mittag war es nun doch bedeutend wärmer geworden, und auf dem Wasser hatte die Sonne so heiss gebrannt, dass sie keine rechte Freude an der Ueberfahrt gehabt hatten. Erst im Walde atmeten sie wieder auf. Wie gut das that, sich hinstrecken zu können im Schatten der grossen Kiefern und zu dem blauen, hochgewölbten Himmel aufzusehen!
Gerhart hatte sich's zuerst bequem gemacht. Die Hände unter dem Kopf gefaltet, hatte er sich platt auf den sonnendurchwärmten Waldboden geworfen. Ein paar Augenblicke hatte er mit geschlossenen Lidern fast regungslos dagelegen, dann hatte er nach Lotte gerufen, die um ein paar Schritte weiter auf einem niederen Moosrücken sass und einen Grashalm sinnend durch die Finger gleiten liess. Sie kam sogleich zu ihm und kniete neben ihm nieder.
»Küss' mich doch!« sagte er ein wenig ungeduldig, ohne die Augen aufzuschlagen. »Wozu sind wir denn hier?«
Lotte küsste ihn sanft auf die Stirn und die geschlossenen[112] Augen. Er aber nahm den rechten Arm unter dem Kopf hervor und zog sie heftig an sich.
»Weib, Weib«, flüsterte er wild.
»Gerhart!«
Es lag etwas so banges in ihrem Ausruf, dass er sie augenblicklich los liess und sich aufrichtend ihr ins Gesicht sah.
»Mein Gott, was ist denn nur mit Dir, Du siehst ja schon wieder totenbleich aus!«
Sie drückte sich schluchzend an seine Brust.
»Gerhart – ich – o – ich ängstige mich so sehr –«
»Du ängstigst Dich? Ja, wo vor denn?«
Er verstand sie ganz und gar nicht.
Dann plötzlich stieg eine dunkle Ahnung in ihm auf. Er fasste nach ihrer Hand und sah ihr tief in die Augen.
Und stammelnd, unter Schluchzen und Jubeln rang sich ihr das selbst noch kaum eingestandene Geheimnis aus der Brust.
Einen Augenblick lang sprach Gerhart kein Wort. Totenstille war zwischen ihnen.
Lotte drohte der Atem stille zu stehen.
Nun zog er sie fester an sich und sagte bewegt:
»Also doch, ich dachte es fast. Du warst so seltsam in der letzten Zeit.«
Dann richtete er sich fest in den Schultern auf und sagte mit lächelnder Genugthuung:
»Es wird ein schönes, begabtes Kind werden, dies Kind der freien Liebe.«
Lotte sah sprachlos zu ihm hin. Ein stolzes Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»– Ja, Gerhart – aber nun – ist es doch selbstverständlich, dass wir sobald als möglich –«
Er hörte gar nicht auf sie.
»Wenn es ein Knabe ist, und ich hoffe zuversichtlich, es wird einer sein, wollen wir ihn Erik nennen, wie den Helden meines Frühlingsdramas. Ist es ein Mädchen, mag sie Helga heissen.«
»Nicht Luise, wie mein Mütterchen?« wandte Lotte schüchtern ein.
»Luise ist so altmodisch, Kleines. Uebrigens passt der Name auch nicht in den Rahmen Eurer Zukunft.«
»Eurer Zukunft?«
»Nun ja, Deiner und des Kindes. Ich sehe sie ganz deutlich vor mir erstehen. An einem stillen Ort, nicht allzuweit von hier, ein kleines weinumsponnenes Häuschen, davor ein Gärtchen mit bunten Blumen. In dem Gärtchen[113] Du und das Kind, beide in weissen leichten Gewändern. An den Festtagen meines Lebens, wenn mir ein grosser Wurf gelungen, oder aber wenn ich müde geworden bin nach langer Arbeit, komme ich zu Euch hinaus und suche Trost und Frieden und neue heisse Liebe in Eurem Schoss.«
Lotte hatte die Hände über dem Knie gefaltet und blickte still zu Boden, damit er die Thränen nicht sehen sollte, die ihr im Auge standen. Er meinte es ja gewiss gut mit dem was er sprach, aber sie hörte aus alledem nur das eine heraus, dass er nicht immer bei ihr sein werde. Der Mann nicht bei seiner Frau! Der Vater: nicht bei seinem Kind!
Er aber sagte ganz arglos:
»Nun Kleines, wie gefällt Dir mein Plan?«
Und als sie nicht antwortete, hob er ihr Gesicht zu sich auf und sah die Thränen über ihre Wangen fliessen.
»Weshalb weinst Du denn?« fragte er ein wenig ungeduldig. »Aengstigst Du Dich so sehr? Aber Kleines, Mutter werden ist doch etwas natürliches; Milliarden Frauen und Mädchen machen es durch.«
Sie schüttelte sanft den Kopf, dass das wirre Lockenhaar in der seitlich durch die Stämme fallenden Sonne aufblitzte.
»O nein, ich ängstige mich gar nicht. Es ist nur, dass Du so selten bei mir sein willst – ein Mann gehört doch nun einmal zu seiner Frau.«
Sie hatte das Letzte nur ganz leise und verschüchtert hervorgebracht. Eine Ahnung sagte ihr plötzlich, dass er, der Priester und Verkünder der freien Liebe, am Ende etwas ganz Anderes gemeint habe als eine Ehe.
Ein kurzer, halb gepfiffener, halb gehauchter Laut kam von seinen Lippen. So also stand es. Das erwartete sie!
Einen Augenblick schwankte er, ob er ihr nicht gleich die volle Wahrheit sagen, sie gar nicht erst im Zweifel darüber lassen solle, dass er niemals daran denken würde, sie zu heiraten. Aber als er sie so vor sich sitzen sah in ihrer rührenden Schönheit, ein Bild hingebender, vertrauender Liebe, brachte er's nicht übers Herz. Er wollte sie langsam an den Gedanken gewöhnen. In dieser Stunde, da sie ihm eben erst ihre Hoffnung gestanden hatte, wäre es brutal gewesen, mit einem einzigen Schlage ihr die Zukunft zu zertrümmern.
So stand er auf und fuhr ihr liebkosend über das Haar.
»Sei Du nur ruhig, mein Kleines, und rege Dich nicht auf. Ich werde schon Mittel und Wege finden, alles nach Deinen Wünschen einzurichten. Und jetzt komm! Wir wollen auf die Höhe steigen.« Er zog sie empor. Mit stiller Glückseligkeit hing sie sich an seinen Arm. Seine nichtssagenden Worte hatten sie völlig beruhigt. –[114]
In den nächsten Tagen kam Lotte naturgemäss bei jeder Gelegenheit auf den Heiratsplan zurück, um so dringender, je schlechter sie sich jetzt zu befinden begann. Gerhart war mehrmals daran, seine zusammengekünstelte Fassung zu verlieren und ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
Im Grunde war ihm selbst bei der ganzen Angelegenheit übel genug zu Sinn. Trotzdem er die freie Liebe sich zum Lebensprinzip gemacht hatte, ging es ihm doch nahe, dass gerade Lotte ihr zum Opfer fallen sollte. Gerade weil er wusste, dass sie niemals ernstlich auf einer Erfüllung seiner Pflichten gegen sie bestehen würde, dass sie nicht zu jener Kategorie von Mädchen gehörte, die mit dem Revolver in der Hand sich ihr Recht zu wahren wissen, gerade darum that es ihm doppelt weh. Und doch kam er nicht auf den Gedanken, sie zu heiraten, des Lebens volle Bürde auf sich zu nehmen, Pflichten zu üben, wo er sich bisher nur Rechte angemasst hatte. Zum ersten Mal aber dämmerte ihm in stillen Stunden die Erkenntnis auf, dass es am Ende doch, ins Praktische übertragen, ein eigen Ding um die freie Liebe sei, und dass der Traum von ihr bedenklich in Gefahr schwebe, an der Wirklichkeit zu zerschellen.
Immer wieder stand diese aufkeimende Erkenntnis vor Gerhart auf, und immer wies er sie zurück. Mit Ungeduld erst, mit Wut und Zorn am Ende. Sollte er und die ganze Schule der Modernen im Unrecht sein gegen einen alten Zopf? Sollten am Ende aller Enden wirklich die Philister recht behalten mit ihrer Behauptung, dass die vielverspottete Ehe eine unentbehrliche Institution sei, sie, die Feinde der Ehe aber keine modernen Wirklichkeitsmenschen, wie sie selbst so stolz sich nannten, sondern verträumte Romantiker, deren erbitterter Krieg gegen die Familie mit einem kläglichen Fiasko enden musste?
Nein, tausend und abertausend Mal nein. Er wollte nichts hören, nichts wissen von solcher Philisterweisheit. Nochmals und abermals ein Pereat der Ehe, der Familie, ein donnerndes Vivat aber der Jugend, dem Glück, der freien Liebe! – – –
»Mein Wort darauf, Lotte, ich habe jetzt keine Zeit. Ich werde in Dahlow erwartet, komm doch ein ander Mal wieder, wenn Du mich durchaus sprechen musst. Morgen, übermorgen, wann Du willst. Bloss jetzt halte mich nicht auf. Na, aber wie stehst Du denn da? Wie 'n Klumpen Unglück. So komm doch mit, aber schnell. Fräulein, Sie können zu Hause bleiben. Meine Schwester fährt mit nach Dahlow. Rufen Sie nur einen Taxameter herüber, aber 'n bischen plötzlich.«[115]
»Na, Gott sei Dank –«
Und Lena warf sich ganz erschöpft in das Polster des Wagens, Lotte neben sich niederziehend.
»Anhalter Bahn, Kutscher, was die Pferde laufen können. Es giebt ein Trinkgeld.«
Lotte war ganz betäubt von diesen sich überhastenden Vorgängen. Sie war zu Lena herausgekommen, um ihr zu sagen, dass sie in der allernächsten Zeit die Wohnung in der Zimmerstrasse verlassen müsse. Sie wollte sie um Rat fragen, wie sie das anfangen solle.
Da Lena in letzter Zeit ausschliesslich mit dem Wirt verhandelt hatte, würde sie ihr vielleicht den Gefallen thun, zu versuchen, statt ihrer mit ihm handelseinig zu werden.
Lotte brannte der Boden in der Zimmerstrasse unter den Füssen. Sie zitterte davor, dass irgend jemand ihr ansehen könne, was mit ihr vorgegangen war. Sobald sie die Wohnung los war, wollte sie möglichst weit davon, irgendwo draussen ein Zimmerchen mieten, wo niemand sie kannte. Am liebsten wäre sie ganz fortgegangen von Berlin bis zu ihrer Heirat. Aber davon wollte Gerhart nichts wissen. Tausend Gründe sprachen dagegen. Sie musste doch auch dabei sein, wenn sein Stück aufgeführt wurde, sie seine Muse, sein Modell, sein Weib. War es erst so weit, dann würde auch alles andere gut werden.
Damit vertröstete er sie, sobald sie anfing von der Zukunft zu sprechen.
– Jetzt hielt der Wagen an dem Anhalter Bahnhof. Unterwegs hatte Lena ihrer Schwester keine Zeit gelassen zu sprechen.
»Im Coupé, Lotte. Wir werden wahrscheinlich allein fahren. Strehsen wird wohl schon gleich nach dem Dienst nach Dahlow 'rausgegondelt sein.«
Lena brauchte in der letzten Zeit mit Vorliebe dergleichen burschikose Ausdrücke, die sie von Kurt und andern männlichen Stammgästen ihres Geschäfts aufgeschnappt hatte.
Bornstein war wenig erbaut von dieser saloppen Art. Ueberhaupt fand er jetzt recht häufig an Lena zu tadeln. Seit das Geschäft ihr Gelegenheit gab, fortwährend mit Herren zu verkehren, war Lena entschieden kokett geworden. Sie leugnete es auch gar nicht und lachte ihn aus, wenn er darüber brummte. »Klappern gehört zum Handwerk«, behauptete sie. Er sprach nicht oft darüber, aber er ärgerte sich im Stillen, dass sie nicht mehr den Eindruck der Dame machte wie früher. Heut würde ihm der Gedanke, sie zu heiraten, jedenfalls weit problematischer vorgekommen sein, wie damals in Potsdam, wo er nahe daran gewesen war, sie um[116] ihre Hand zu bitten. Ein wahres Glück, dass er's damals aufgeschoben hatte!
Auch Lotte bemerkte, dass Lena verändert war. Aber da sie sich gegen sie gut und herzlich zeigte, weit herzlicher als in der Uebergangszeit, in der sie einander so fremd geworden waren, fand sie keinen Grund, ihr nicht alles das zu sagen, was sie ihr hatte sagen wollen.
Lena war auch gleich bereit, mit dem Wirt zu sprechen. Sie zweifelte nicht daran, dass er Lotte aus dem Kontrakt lassen würde. Die Wohnung war ja auch wirklich viel zu gross für Lotte. Graue Haare sollte sie sich aber um die Sache ja nicht wachsen lassen. Wollte er nicht, nun dann liess er's eben bleiben. Das mit der Miete würde sie schon weiter in Ordnung bringen.
Ob denn das Geschäft so glänzend gehe?
Lena lachte.
»Glänzend nicht, aber es macht sich. Ich thue was ich kann, und habe eine Masse Kundschaft. Pass' mal auf, was der alte Mehlmann, das ist nämlich Bornsteins Obergärtner, für'n Respekt vor mir hat. Er schämt sich ordentlich ein bischen vor mir. Der hat nämlich geglaubt, ich würde in acht Tagen pleite sein. Nee, so dumm sind wir nicht.«
»Aber, Lena, was Du für Ausdrücke brauchst!«
»Fängst Du auch an zu predigen! Ich rede wie mir der Schnabel gewachsen ist, und das gefällt den Leuten gerade. Nur nicht zimperlich, Lotte, damit kommt man in Berlin nicht weit.«
Lotte stutzte und antwortete nicht. Vielleicht, ja wahrscheinlich hatte Lena recht.
Trotzdem Bornsteins und Lenas Beziehungen entschieden etwas gelockert waren, war es für Bornstein doch ein grosser Tag, als Lena nun endlich nach Dahlow kam.
Er hatte sich ihren ersten Besuch, den er so lange und anfangs so heiss ersehnt hatte, allerdings früher weit anders ausgemalt. Aber wer weiss was noch kam, wenn Dahlow heute ihr Herz, oder besser ihren Sinn für Luxus, Schönheit und Behagen gewann. Mit Lenas Herz hatte Bornstein zu rechnen aufgehört.
Der heutige Besuch war eigentlich ein rein geschäftlicher. Mehlmann, der wirklich einen gewissen Respekt vor dem jungen Mädchen hatte, wollte ihr neue Kulturen zeigen. Ausserdem wollte Lena Zwiebeln und Setzlinge aussuchen und sich über verschiedene Erdmischungen belehren lassen. Trotz dieses geschäftlichen Hintergrundes hatte Bornstein ein förmliches kleines Fest für Lena vorbereitet. Wenn sie nur nicht darauf bestanden hätte, ihr albernes Ladenfräulein als Anstandsdame[117] mitzubringen! Kurt, der schon seit ein Uhr bei ihm herumlag, würde sich schwerlich als Partner für den ganzen übrigen Tag an der Verkäuferin genügen lassen. Dann waren sie wieder zu Dreien, wie so oft, und er hatte so gut wie nichts von Lena.
Schon eine Viertelstunde vor Ankunft des Zuges schritt er ungeduldig mit Kurt auf dem Bahnsteig auf und ab. Endlich fuhren die Wagen ein. Kurt hatte die Schwestern zuerst erspäht.
»Donnerwetter,« rief er, »das ist schneidig.«
Und den jungen Mädchen entgegeneilend, rief er Lena schon von weitem zu:
»Das haben Sie famos gemacht, Fräulein Lena, allen Respekt. Mein Kompliment, Fräulein Lottchen.«
Lena lachte und begrüsste beide Herren mit gleicher Herzlichkeit.
»Es freut mich, dass Sie es mir nicht übel nehmen, dass ich die Lotte mitgebracht habe. Der Wurm wollte mich durchaus sprechen. Da habe ich sie der Einfachheit halber gleich mit aufgepackt.«
»Sehr gescheidt, Lena,« sagte Bornstein, ihr freundschaftlich die Schulter klopfend. »Du hättest gar nichts besseres thun können.«
In der That atmete Bornstein auf. Kurt hatte ihm neulich so viel von Lottes Mondscheinschönheit vorgeschwärmt, dass der leichtsinnige Kourmacher zweifellos für den Rest des Tages besorgt und aufgehoben war.
In der besten Laune fuhren sie durch eine Allee alter Kastanien dem Schlosse zu.
Selbst Lotte wurde durch den Uebermut der andern ein klein wenig aus ihren trübsinnigen Gedanken gerissen. Wer doch auch ein so leichtes Herz haben könnte wie diese drei!
Der Tag verlief völlig programmmässig.
»Erst das Geschäft, dann das Vergnügen,« wie Lena von vornherein angeordnet hatte.
Das Herrenhaus, der weitläufige Park, vor allem aber die wundervollen, im wahrhaft grossen Stil angelegten Gärtnereien – alles viel schöner und vornehmer als ihre Kinderschwärmerei Klockow – entzückten Lena bis zur Begeisterung. Aber sie war viel zu klug, sich ihre staunende Bewunderung anmerken zu lassen. Ihr Freund durfte niemals auf den Gedanken kommen, dass sein prächtiges Besitztum ihr zum Fallstrick werden könnte. Gerade, dass er etwas kühler gegen sie geworden war, ohne sie im geringsten zu vernachlässigen, war Lena ausserordentlich bequem. So konnte sie, da er ihr mehr freie Zeit liess als früher, unbehelligt ihren[118] Geschäftsinteressen nachgehen und im übrigen als unumschränkte Gebieterin in ihrem Hause sich den Luxus gönnen, zu empfangen wen sie wollte, ohne einer fortdauernden Kontrolle zu unterstehen.
Wahrhaftig, es war alles so gekommen, wie sie es nur in ihren kühnsten Träumen zu hoffen gewagt. Sie verlangte vorerst nach gar nichts anderem, als dies Leben eine Weile ruhig fortsetzen zu können, am liebsten so lange, bis sie gänzlich unabhängige Besitzerin des Geschäfts war. Dann konnte man ja auch am Ende ans Heiraten denken. Für etwas anderes als für diesen soliden Abschluss ihrer goldenen Freiheit war Lena nach wie vor absolut nicht eingenommen.
Nachdem mit Mehlmann alles besprochen war und Lena erreicht hatte, was ihr notwendig dünkte, führte Bornstein seine Gäste auf die luftige Gartenterrasse. An einer reizend arrangierten Tafel wurde ein spätes Diner mit einer exquisiten Speisenfolge und beinah noch exquisiteren Weinen eingenommen. Dann fuhr ein eleganter Jagdwagen vor, den man in sehr erhöhter Stimmung bestieg. Nur Lotte war über Tisch wieder stiller und sehr blass geworden. Bornstein fuhr selbst. Er wollte Lena gern seine gesamten Ländereien zeigen. Es war doch unmöglich, dass ihr der reiche Besitzstand nicht imponieren sollte. Und wirklich erreichte Bornstein es, dass[119] sie sich jetzt nicht mehr ganz so im Zaume hatte wie vor dem Diner, und öfters in begeisterte Rufe ausbrach. Als sie durch das weitläufige Waldrevier fuhren, that sie ihren Gefühlen sogar nicht den geringsten Zwang mehr an und schien in ihrer lebhaften Bewunderung Bornstein wieder einmal reizender und begehrenswerter denn je zu sein. Als er aber auch nur die leiseste Miene machte, die Situation auszunutzen, wurde sie sofort wieder nüchtern, so dass er verstimmt früher ans Umkehren dachte, als es ursprünglich in seinem Plan gelegen hatte.
Auch Kurt, mit Lotte hinter den beiden sitzend, war, wie er Bornstein später anvertraute, »nicht auf seine Kosten gekommen«. Verwünscht vornehm war die blasse Putzmacherin gewesen. Der Deibel mochte wissen, was in diesen kleinen Mädchen steckte.
Bei anbrechender Dunkelheit fuhren sie wieder in den Gutshof ein. Bornstein beurlaubte sich auf ein paar Augenblicke und lud dann seine Gäste noch einmal auf die Gartenterrasse hinaus.
Ein vielstimmiger Ausruf des Entzückens lohnte seine hübsch ausgedachte Ueberraschung.
Der weite Rasenplatz unterhalb der Terrasse mit seinen vielfarbigen Blumenrabatten, der Halbkreis alter, schöner Bäume, der ihn im Hintergrund umstand, war während ihrer Abwesenheit feenhaft erleuchtet worden. Es war wirklich ein wundervoller Anblick, der sich den dreien bot. Nun stieg auch von der Mitte des Rasens noch ein buntes Kugelspiel leuchtender Raketen zu dem sternenhellen Junihimmel auf und zerplatzte knatternd und prasselnd zu unzähligen, weit hinstiebenden Feuerfunken. Dieser letzte grossartige Effekt hatte bei Kurt das Mass der Begeisterung zum Ueberlaufen gebracht.
Mit lauter, überschnappender Stimme brachte er ein Hoch auf den Gutsherrn von Dahlow aus, in das Lena und Lotte aus herzlichster Ueberzeugung einfielen. –
Als Lotte sehr spät und stark übermüdet von dem Bahnhof nach Hause kam, fand sie auf dem Esstisch einen Brief für sie liegen. Die Aufwärterin, die zwei Mal in der Woche die gröbste Arbeit verrichtete, musste ihn wohl mit heraufgebracht haben. Sie glaubte, der Brief sei von Gerhart, den sie heute den ganzen Tag nicht gesehen hatte. Atemlos vor Freude stürzte sie darauf zu. Dann, nachdem sie die Aufschrift überflogen, liess sie das Schreiben enttäuscht wieder auf die Platte gleiten. Nicht Gerhart, sondern Franz Krieger hatte geschrieben. Da Lotte trotz der Müdigkeit zu erregt war, um gleich schlafen zu gehen, nahm sie nach wenigen[120] Augenblicken den Brief wieder auf, erbrach ihn und fing an zu lesen.
Es war ein langes Schreiben und enthielt manches, was sie bewegte und beunruhigte. Franz Krieger zeigte ihr den Tod seiner Mutter an. Sie war nach kurzer Krankheit heimgegangen und hatte ihm ein unerwartet grosses Vermögen hinterlassen, so dass er halb und halb die Absicht hegte, sein nun schuldenfreies Geschäft daheim zu verkaufen und sich wo anders, etwa in Berlin, anzusiedeln. Lotte möge ihm doch Nachricht geben, wie sie darüber denke. Da sie und Lena nicht zurückgekommen wären, sich also vermutlich in der neuen Heimat wohl befänden, sähe er nicht ein, weshalb er nicht auch versuchen sollte, sein Glück in Berlin zu machen.
Ein eisiger Schrecken war ihr bei dieser Botschaft durch die Glieder gefahren. Franz Krieger in Berlin! Nur das nicht, nein! Nicht eher, als bis sie Gerharts Frau geworden war. Wenn er ahnen, wissen würde, wie es um sie stand, die Schande glaubte sie nicht überleben zu können. Und er würde es wissen, wenn er sie wieder sah, hatte er ihr doch stets jedes kleinste unausgesprochene Leid von der Stirn und aus den Augen gelesen.
Er durfte nicht kommen, nein, und wenn es unerlässlich war, wenn er sich nicht abreden liess, dann musste sie gehen ehe er kam, oder aber sie musste Gerhart zu einem raschen Entschluss zu drängen suchen.
Fröstelnd und schauernd sass sie trotz der warmen Juninacht da und grübelte über diese neue beklemmende Frage, der sie wiederum so gar nicht gewachsen war. Erst als der Morgen zu grauen begann, tastete sie sich unsicheren Schrittes zu ihrer schmalen Bettstatt.
Lena hielt Wort. Sie kam schon nach einigen Tagen, um mit dem Wirt zu sprechen.
Da sie ihn stets um den kleinen Finger gewickelt hatte, ging die Sache zu Lottes grosser Befriedigung glatt ab. Der Hausbesitzer wollte Lotte schon am ersten Juli, also in zehn Tagen aus dem Kontrakt entlassen.
Sie war natürlich sofort bereit, von dieser Vergünstigung Gebrauch zu machen. Gerhart freilich würde dieser schnelle Entschluss verstimmen. Aber das half nun einmal nichts. In diesem Punkte fühlte Lotte, würde sie fest bleiben. Vielleicht wenn er sie dann, schon wegen der grossen Entfernung, die sie zwischen sie zu legen gedachte, mehr entbehren musste, würde er schneller über seine immer neuentstehenden Bedenken gegen eine Ehe fortkommen. Es musste, musste ja doch sein! Immer weniger begriff sie sein Zögern und Zagen.
Auch Lena war befriedigt, dass ihre Mission sich so[121] rasch und glücklich erledigt hatte. Sie hätte zwar Lotte ihr Wort gehalten und sie bei der Zahlung der Miete noch für eine Weile unterstützt, oder dieselbe ganz übernommen, aber es war doch besser so, für Lotte nicht nur, sondern auch für ihre eigene Kasse.
Lena setzte jetzt ihren ganzen Ehrgeiz dafür ein, sich sobald als möglich von Bornstein unabhängig zu machen. Gute Freunde konnten sie ja deswegen doch bleiben, dann erst recht. Nur danken mochte sie auf die Dauer niemandem etwas, am wenigsten einem, der immer wieder den Versuch machte, Ansprüche für sich aus solcher Dankespflicht abzuleiten.
Wie in alten Zeiten sassen die beiden Schwestern oben in Lottes »Atelier« beisammen, nachdem Lena vom Wirt wieder herübergekommen war. Lena plauderte von ihrem Geschäft und Lotte hörte ihr zu, während sie einen billigen Sonntagshut für das Ladenfräulein nebenan aufsteckte. Es kam ihr jetzt so selten Arbeit ins Haus, dass sie schon zufrieden war, wenn sie überhaupt zu thun hatte.
Während Lena sprach, konnte Lotte den Gedanken nicht los werden, dass sie der Schwester noch ganz etwas Besonderes habe sagen wollen. Ihr armer Kopf war ihr von allem Grübeln jetzt oft so schwer, dass sie zuweilen nicht auf das nächstliegende verfiel. Doch richtig, ja, jetzt wusste sie es wieder, sie hatte ihr von Franz Kriegers Brief erzählen wollen. Das einfachste war schon, sie gab ihn Lena zum Lesen. Viel Sprechen war Lottes Sache jetzt weniger denn je.
Nachdem Lena das lange Schriftstück entziffert hatte, sprang sie wie eine kleine Wilde im Zimmer umher.
Das war ja famos! Himmlisch! Natürlich sollte er nach Berlin, der Franz, lieber heute wie morgen! Sie wollte ihm schon zeigen, dass man nicht bloss zum Vergnügen nach der Kaiserstadt gekommen sei, sie wollte ihm schon beweisen, dass man denn doch eine Rolle hier spiele, und die schlechteste nicht. Wenn sie ihn erst durch ihr Geschäft oder ihre Wohnung geführt haben würde, sollte er beschämt eingestehen, dass er sich denn doch gewaltig in Lena geirrt habe und für all seine kleingläubigen Zweifel hübsch demütig Abbitte thun.
Lotte sah ihre Schwester ganz entgeistert an. Daran hatte sie wahrlich zuletzt gedacht, dass Lena etwas für Franz' Pläne übrig haben würde, nachdem sie sich so empört über ihn geäussert hatte.
Aber bei Lena freilich kam eben immer alles anders als man es voraussah. Das hatte sie nun von ihrer Mitteilsamkeit.
Nun würde Lena ihm am Ende noch zureden, nach Berlin zu kommen. Hätte sie ihr doch lieber gar nichts von dem Brief gesagt! Franz hatte ja nur an ihr eigenes Urteil appelliert![122]
»Aber Lena, ich begreife Dich nicht, Du warst doch so wütend auf ihn!«
Lena lachte:
»Aber nun bin ich's nicht mehr. Franz ist doch jetzt was, und wenn man erst was ist, dann wird man auch gleich ein anderer Kerl mit anderer Einsicht und anderen Anschauungen. Sieh mich doch 'mal an! Bin ich nicht wie ausgewechselt, seitdem ich Ladenbesitzerin bin? Und denk' 'mal, wie fein Lotte, wenn Franz hier ein grosses Geschäft aufmacht – in der Leipzigerstrasse oder vielleicht gar Unter den Linden! So was wie Borchardt in der Französischen Strasse! Famos, was? Dann brauchst Du auch nicht mehr Hungerpfoten zu saugen, Lotte! Dann bestellen wir uns Diners bei ihm, und Sekt, und alle möglichen guten Sachen!«
»Aber Lena –!«
Lena liess sich nicht stören.
»Und weisst Du, das kann einem wahrhaftig kein Mensch übelnehmen, dass es einen kitzelt, jemandem, der eine so schlechte Meinung von einem hat, eine andere beizubringen. Ich könnte vor Vergnügen bis an die Decke springen, wenn ich nur denke, was Franz für Augen machen wird, wenn er mein türkisches Boudoir und mein Speisezimmer zu sehen kriegt.«
Sie umarmte Lotte stürmisch.
»Das Leben ist doch zu hübsch, Lotte! Na, nun muss ich aber nach Hause! Wenn wir uns bis zu Deinem Umzug nicht sehen sollten, schreibst Du mir wohl gleich Deine neue Adresse. Zieh' nur nach dem Westen 'raus. Wenn es auch noch so weit von der Stadt entfernt ist, das ist jetzt chic.«
Und damit war Lena herausgewirbelt wie ein bunter Schmetterling, den man noch eben zu halten glaubt und der, ehe man sich's versieht, schon wieder durch die blaue Luft taumelt. –
Gerhart hatte Lottes Ankündigung, dass sie ihre Wohnung in der Zimmerstrasse aufgegeben habe, ruhiger aufgenommen, als sie es nach früheren Auseinandersetzungen über diesen Punkt hatte erwarten dürfen. Auch Gerhart riet, nach dem Westen herauszuziehen, wo sie mehr freie Luft und Gelegenheit zu gesunder Bewegung habe. Was wollte sie zwischen den Häuserkolossen der inneren Stadt! Sie war wahrhaftig schon blass und elend genug, als dass sie noch notwendig gehabt hätte, verdorbene Luft und betäubenden Strassenlärm eigens aufzusuchen.
Damit war die Angelegenheit vorerst für ihn erledigt gewesen, wenigstens hatte er nicht mehr mit Lotte darüber gesprochen. Dagegen schilderte er ihr immer aufs neue den grossen Eindruck, den auch die zweite Hälfte seines Frühlingsdramas[123] dem Direktor der Freien Bühne gemacht habe. Schon jetzt wollten sie gemeinsam daran gehen, die geeigneten Darsteller zu suchen. Besonders für den Erik und die Helga mussten ungewöhnliche Individualitäten herbeigeschafft werden. Es sei nicht ausgeschlossen, dass er im Laufe des Sommers ab und zu – auf Kosten des Direktors natürlich – in die Provinz gehen müsse, um nach darstellerischen Kräften auszuschauen.
»Schade, dass Du mich nicht begleiten kannst, mein Kleines,« hatte er dann mit zärtlichem Bedauern hinzugefügt. Und sie hatte schmerzlich betroffen still für sich gedacht: »Ich könnte es ja doch am Ende, wenn Du nur wolltest!« –
Nach mancherlei mühseligem Suchen hatte Lotte endlich ein Stübchen und eine Küche weit draussen in Schöneberg gefunden. Die kleine Wohnung lag zwar im vierten Stock, aber sie war sehr billig und hatte den Vorzug, dass man aus den niedern Dachfenstern weit über freie Felder sah und eine gute gesunde Luft atmen konnte.
Von ihren Möbeln konnte Lotte nur den kleinsten Teil in den beiden engen Räumen unterbringen. Ob Gerhart nicht einiges davon für ihre künftige gemeinsame Wohnung aufheben wollte? Es kam bei dem Verkauf von Möbeln immer so schrecklich wenig heraus, das hatte sie zu Haus nach Mutters Tode bei Auflösung des Hausstandes gesehen.
Aber Gerhart wollte nicht. Was sollten sie mit dem alten Kram? Wenn sie sich ein Nest bauten, sollte es weicher und farbenfroher ausgefüttert sein. So liess Lotte schweren Herzens all die netten Sachen, die sie mit Lena vor kaum einem Jahr angeschafft hatte, zum Trödler bringen. Am schwersten wurde es ihr, sich von der Einrichtung ihres Arbeitszimmers zu trennen. Wie viel schöne Hoffnungen hatten sich an den grossen Glasschrank geknüpft, der für ihre Hut-Auslagen bestimmt gewesen war! Wie oft hatte sie ihn im Geiste schon in einem hübschen Geschäftslokal in der Friedrichsstrasse stehen sehen! Und wie freudig hatte sie zuerst an dem grossen Arbeitstisch geschafft! Sie sah ihn noch vor sich, den ersten Hut für Marie Weber, den sie an der schönen geräumigen Platte aufgesteckt hatte. Und doch, mit dieser ersten Arbeit, die den Anforderungen und dem Geschmack der Grossstadt so gar nicht entsprach, hatte sich ihr Schicksal eigentlich schon besiegelt.
Stück für Stück musste sie so dahin geben. Nur das notwendigste behielt sie zurück, und das war bald herausgeschafft in ihr neues ärmliches Heim.
Als Lotte selbst zum letzten Mal über den Hof in der Zimmerstrasse schritt, der ihr mit seinem schattenden Nussbaum, den vielen Fenstern, die hell und freundlich auf ihn[124] hinaussahen, dem grossen Stück Himmelsblau, das sich darüber spannte, im vorigen Herbst so anmutend erschienen war, krampfte sich ihr das Herz zusammen. Hier hatte sie geglaubt, tüchtig und glücklich werden zu können! Weder das eine noch das andere hatte sich erfüllt! Was würde ihr Los in der neuen, dürftigen Heimat sein, die sie so jeder Hoffnung bar betrat? Würde es immer weiter bergab gehen mit ihr, oder würde ein gutes Geschick sie wieder aufwärts tragen? Den Blick starr vor sich hingerichtet, nicht mehr im stande, rechts oder links zu schauen, schritt sie auf die Strasse hinaus. Nie war sie sich so bettelarm vorgekommen, wie in dieser Stunde. Als sie schwer atmend in ihrem Stübchen in Schöneberg angekommen war, sank sie schluchzend vor ihrem notdürftig zusammengeschlagenen Bette in die Knie, und den Kopf in den Händen verbergend, stöhnte sie unter heissen Thränen:
»Mutter, liebste Mutter, wärst Du bei mir!« –
Langsam, sehr langsam gewöhnte Lotte sich in dies völlig neue Leben ein. Sie war oft Tage lang allein, ohne die geringste Ansprache. Die vielen kleinen Leute, welche die Hofseite des grossen Mietskastens bewohnten, hatten anfangs hier und da auf der Treppe ein Gespräch mit ihr gesucht. Das schöne, zarte Mädchen, das zu was besserem geboren schien, als vier Treppen hoch unter dem Dach ein, allem Anschein nach sehr kärgliches Brot mit ihrer Hände Arbeit zu verdienen, hatte ihre Neugier gereizt. Aber da sie niemals sich in ein Gespräch einliess, zwar niemals unfreundlich aber auch niemals recht zugänglich war, liess man sie bald in Ruh. Es war am Ende auch wohl nicht ganz richtig mit ihr und dem jungen brünetten Menschen, der alle Woche einmal die Treppen zu ihr hinaufstürmte. »Komödiantenvolk« meinte die alte Fetter, die als älteste Mieterin eine massgebende Stimme im Hinterhause hatte.
»Meine Tochter Aujuste oben, was ihre Nachbarin ist, kann davon was erzählen. Janze Stücke üben sie zusammen ein, wenn der Schwarzkopf kommt. Er redt und sie heult. Es soll manchmal ordentlich rührend sein, meint meine Tochter, wenn sie so'n bittenden Ton anschlägt. Die reine Sorma, sagt die Aujuste. Die war nämlich 'mal ins Deutsche, als sie noch bei Veilchenfelds diente. Ja, nee, was die Zeiten sich ändern! Die Aujuste hätte auch was besseres thun können, als sich mit dem langen Karl einlassen. Bei Veilchenfelds hat sie's so jut jehabt. Und was hat sie nun? Alle Jahr 'n Kind und nicht satt zu essen.«
»Jotte doch, Fettern, des Menschen Wille ist sein Himmelreich – er hat sie doch wenigstens jeheiratet, und das kann man nicht von jedem sagen. – Also Komödiantenvolk, meint die Aujuste – na jut, dass man's weiss!«[125]
Damit war Lottes Schicksal im Hause und in der Nachbarschaft besiegelt. Komödiantenvolk! Kein Mensch gönnte ihr mehr ein gutes Wort oder einen freundlichen Blick. Nur ihre nächste Nachbarin, die unfreiwillige Anstifterin ihres bösen Rufes, Frau Auguste Korn, geborene Fetter, liess sich nicht gegen sie aufhetzen. Sie hatte immer einen Sinn fürs Höhere gehabt, und bei Veilchenfelds war man sehr fürs Theatralische gewesen. Und dann – Auguste war eine gescheidte Frau, die nur einmal in ihrem Leben eine Dummheit gemacht, als sie sich mit dem langen Schlosser-Karl eingelassen hatte – wer weiss, was aus der stillen Blassen noch wurde, dachte sie bei sich. Vielleicht eine berühmte Künstlerin mit 'ner horrenden Gage! Dann würde sich das bischen Freundlichkeit schon rentieren, was man jetzt an den armen Wurm verschwendete.
Gerhart kam – genau so wie die Fettern im ganzen Hause herumgesprochen hatte – alle Woche einmal zu Lotte, wenigstens im Anfang. Dann wurden seine Besuche noch seltener, da er wirklich ein paar Mal fortfuhr, um sich im Auftrage des Direktors nach schauspielerischen Kräften umzuschauen.
Er war schon in Brandenburg, Kottbus und Zeitz gewesen, hatte aber noch immer nicht das richtige gefunden. Nun wollte er morgen, man schrieb jetzt Anfang August, nach Freienwalde fahren. Am dortigen Sommertheater wollten Kunstkenner ein besonders begabtes junges Mädchen für seine Helga entdeckt haben. Gerade so was, was man für eine moderne Zustandskomödie brauchte.
Als Gerhart durch den schwülen Sommerabend zu Lotte hinaus schritt, um ihr für ein paar Tage Lebewohl zu sagen, fiel es ihm eigentlich zum erstenmal auf, wie gut er jetzt ohne sie fertig wurde. Wer ihm das vor ein paar Wochen noch gesagt hätte, den würde er vermutlich einen Wahnsinnigen gescholten, oder verächtlich die Achseln über ihn gezuckt haben. Und doch war es so, er musste sich's eingestehen, Lotte war ihm auf einmal entbehrlich geworden. Je mehr er darüber nachdachte, je mehr erschien es ihm, als sei das schon eine ganze Weile so gewesen. Seit wann doch gleich? Seit er sein Frühlingsdrama beendigt hatte, oder seit ihrem Geständnis im Wald am Müggelsee? Aber da die Daten dieser beiden Ereignisse eng zusammenfielen, nur durch eine einzige Nacht und wenige Tagesstunden getrennt, war es müssig darüber nachzusinnen, seit wann er im stande war ohne Lotte zu leben. Blieb noch, weshalb er es war? Trug der Umstand die Schuld, dass die Arbeit vollendet war, zu der ihre Küsse ihm unentbehrlich waren? War es das Bekenntnis ihrer Mutterschaft, das ihm Lotte durch das Gespenst der im[126] Hintergrunde lauernden Pflichten entfremdet hatte? War es beides? War es eines von beiden nur? War es keines, sondern der natürliche Lauf der Dinge, der ewig neu sich wiederholende Prozess des Blühens, Reifens und Vergehens?
Er zuckte ungeduldig mit den Schultern. Was sollte diese Quälerei? Er hatte jetzt wichtigeres zu thun, als seine Nerven mit dergleichen Selbstanbohrungen auf den Hund zu bringen. Seine ganze Kraft brauchte er, seine volle Energie für die grossen Geschehnisse, die vor ihm lagen. Es war nicht genug, ein Bühnenwerk zu schreiben, man musste auch die Kunst verstehen, es wirkungsvoll auf die Bretter zu bringen. Das war jetzt seine Aufgabe, bei der er Lotte ebenso wenig brauchen konnte, wie er sie bei dem ersten Teil seiner Arbeit hatte entbehren können. Jetzt musste er frei sein, wie er damals gebunden sein musste, ganz frei in Kopf und Herzen, um handeln zu können nach seinem Gutdünken. Das Gelingen würde ihr ja dann doch wieder zu gute kommen. Sobald er erst seinen grossen Erfolg hatte, wollte er sich ihr ja gern wieder widmen, gern für sie sorgen. Wer weiss, ob nicht wieder eine Schaffensperiode für ihn kam, in der er sie ebenso nötig hatte, wie während der Werdezeit des Frühlingsdramas! Nur jetzt durfte nichts, kein Band, keine Pflicht ihn von dem nächsten abziehen und beengen. Nichts durfte fressen an der werdenden That, sie zum Krüppel machen, noch ehe sie geboren ward. Er hasste Missgeburten, körperliche sowie geistige. Er verachtete alles Halbe. Ganz und blühend wie seine Liebeszeit gewesen war, sollte jetzt die Zeit seines Erfolges heranreifen; die abfallenden Blüten des halbverwelkten Liebesbaumes durften die reifende Frucht des Ruhmes nicht in ihrem Wachstum hemmen.
So gegen den ärgsten Feind, den er jetzt zu besitzen glaubte, gegen Lottes Liebesansprüche gerüstet und gestählt, trat er vor die niedere Thür zu Lottes kleiner Wohnung. Sie war nicht verriegelt, nur eingeklinkt, so dass er ungehört eintreten konnte. Lotte sass an dem schmalen, weitgeöffneten Fenster.
Schwül drang die Sommerabendluft, vermischt mit dem schweren Duft von Levkojen, Heliotrop und Reseda, die auf einem kleinen Blumenbrett vor dem Fenster blühten, in das enge Gemach.
Lotte sass still, fast regungslos da. Die Arbeit lag ihr unberührt im Schoss, schlaff hingen die Arme ihr am Leibe herab, und thränenverdunkelt war der starre, ins Leere gerichtete Blick.
Trotz all seiner eisernen Vorsätze gab es Gerhart doch einen Stich ins Herz, als er sie so sitzen sah, ein Bild stummer,[127] zerbrochener Verzweiflung. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, zögernd wie ein Unberufener. Dann trat er ein paar Schritte auf sie zu und rief zärtlich ihren Namen.
Müde, ohne sich zu rühren, sah sie zu ihm auf.
»Du bist's, Gerhart? Kommst Du endlich einmal!«
Ein schwacher Schimmer der Freude zog über ihr abgehärmtes Gesicht. Er zog ihren Kopf an seine Brust und streichelte ihr wirres goldbraunes Haar.
»Kleines, was machst Du mir für Geschichten? Du siehst ja erbärmlich aus!«
Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur immer tieftraurig an. Dann nach einer kleinen Weile sagte sie tonlos:
»Wann wird Dein Stück aufgeführt, Gerhart? Es ist höchste Zeit. Ich – sei mir nicht böse – ich fühle mich totkrank und ich ertrüge es nicht, wenn jemand – O Du weisst ja was ich meine. Gerhart, schweige doch nicht so unbarmherzig – ich will ja nichts, nichts von Dir – ich will mich selbst durchs Leben schlagen. Du sollst frei sein von mir – nur heirate mich, heirate mich!«
Ehe er es hatte hindern können, war sie zu seinen Füssen niedergestürzt, und seine Knie umklammernd, stöhnte sie auf wie ein waidwundes Tier.
Er hob sie auf und legte sie auf ihr kleines weisses Bett. Sie war blass wie eine Tote und auch aus seinem Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen. Das hatte er nicht erwartet! Was musste sie leiden, gelitten haben, dass ihre sanfte zärtliche Natur bis zu einem solchen Ausbruch sich verirren konnte!
Und doch sie musste es tragen, musste es erdulden wie so viele tausende von armen Mädchen es vor ihr getragen hatten, es nach ihr tragen und erdulden würden. Er beugte sich zu ihr nieder, um sie zu küssen. Sie rührte sich nicht. Reglos mit geschlossenen Augen lag sie da. Wie schön sie waren, diese Märtyrerinnen der freien Liebe, wie rührend schön!
Wenn er es recht bedachte, lag doch eigentlich kein Grund zu dergleichen Verzweiflungsscenen vor, die sie alle früher oder später aufführten.
War es nicht zu tausend Malen poetischer, von der Höhe des Liebesglücks ins Nichts, ins Dunkel zurückzusinken, als die hohe Flut der Leidenschaft im flachen Eheleben verebben, langsam und stetig vergehen zu sehen, wie ein Gewandstück, das man philisterhaft bis zu Ende trägt, nur weil man es einmal besitzt, so lange trägt, bis die Nähte von selbst zerfallen und der Stoff morsch und brüchig wird![128]
Thörichte Mädchen, die ihr jammert um das allzu jähe Ende! Klebt ihr so fest an der eklen Erdenscholle? Habt ihr so gar keinen Schwung, euch für ein Ikarusschicksal zu begeistern? Auf zur Sonne, und dann mit jähem Sturz herab in die Tiefe, ins ewige Vergessen!
Und er küsste sie leidenschaftlich. Und so ganz durchdrungen war er von seinen unsinnigen eiteln Phantastereien, dass er dies zerbrochene Geschöpf um seine eigenen Küsse beneidete. –
Am nächsten Morgen traf Lotte Frau Korn auf der Treppe. Die gutmütige Person hatte sich eine ganze Weile hinter ihr hergeschlichen, ehe sie sich das Herz gefasst hatte, Lotte anzureden. Dann aber hatte sie nicht länger an sich gehalten. Das Fräulein sah auch heute gar zu miserabel aus. Kein Wunder freilich nach der Scene mit dem Schwarzkopf gestern Abend. Dass dies keine Theaterscene, sondern ein Wirklichkeitsdrama gewesen war, hatte die brave Schlossersfrau allerdings bemerkt; dieser Umstand aber hatte ihre Sympathie für das arme blasse Wurm nicht im geringsten herabgemindert. Im Gegenteil, Auguste hatte sich fest vorgenommen, was an ihr lag, dem armen Dinge beizustehen, auch wenn sie keine berühmte Schauspielerin zu werden versprach. Erst der Mensch, und dann 's Metier. Das war ihre Maxime. Dass sie noch vor kurzem weniger human gedacht hatte, daran waren die Nachklänge aus dem Hause Veilchenfeld schuld gewesen, die noch immer ab und zu bei ihr herumspukten.
Auf der steilen hohen Treppe hatten die beiden nur ein paar flüchtige Worte gewechselt. Erst oben vor Lottes Thür fand Auguste den Mut, ihr volles Herz auszuschütten.
»Entschuldigen Sie nur, Fräulein – es sieht vielleicht unbescheiden aus - – aber wenn ich einen Augenblick bei Ihnen eintreten dürfte, ich hätte Ihnen was zu sagen, Fräulein!«
Lotte war ein wenig verwundert, aber sie dachte nicht weiter über das seltsame Ansinnen der Schlossersfrau nach. Sie hatte es sich allgemach abgewöhnt, zu denken. Ihr Kopf war zu müde und schwer dazu, und seit gestern Abend gar lag es wie dichter Nebel über ihrer Denkkraft.
Sie öffnete die Thür und schritt der robusten Frau voran, ihr einen Stuhl anzubieten.
»Bitte, setzen Sie sich doch, Frau Korn, wenn Sie mir etwas zu sagen haben –«
Auguste schüttelte den Kopf und sah sich in dem kleinen Zimmer um. Wie nett es hier aussah! Ganz anders wie sonst bei Leuten, die für dürftigen Tageslohn arbeiten. Man sah[129] doch gleich, dass das Fräulein aus gutem Hause war. Das arme junge Ding! Frau Korn brannte darauf, ihr mit ihrer reiferen Erfahrung gegen den wüsten Schwarzkopf zu Hilfe zu kommen.
Sie setzte sich nun doch, denn so schnell würde sie mit dem was sie vorhatte, nicht zu stande kommen. Ihre Zunge war nicht so flink wie die ihrer Mutter. Der Fettern that es nicht leicht eine gleich.
»Also, Fräulein, wenn Sie 's mir nicht übelnehmen möchten, das kann so mit Ihnen nicht weiter gehen, Fräulein. Nee, genieren müssen Sie sich nicht vor mir – ich bin 'ne alte Frau gegen Sie, Fräulein, und so was wie Sie hab' ich auch durchgemacht, ehe ich meinen Karl geheiratet habe. – Aber wenn Sie 's beruhigt – im Haus, da weiss niemand davon als ich – und ich halte reinen Mund. Sehen Sie 'mal, Fräuleinchen, so aufregen wie gestern Abend, das sollten Sie nicht thun, und auch nicht den ganzen Tag hier oben in dem engen Loch hocken, und immer alleine, da wird der Mensch ja ganz dämlich bei, und für Ihren Zustand ist es das reine Gift. Ordentlich an die frische Luft gehen sollten Sie und mit Gesellschaft! Meine, na, die kann ich Ihnen ja freilich nicht anbieten, habe auch nicht viel Zeit übrig für ins Freie bei die Menge Gören, aber da hat Sie doch neulich so 'ne hübsche, junge, schwarze Dame besucht, die Ihnen all die schönen Blumenstöcke da 'rauf gebracht hat, wie wär's denn mit der?«
Lotte sass mit abgewandtem Antlitz da. Die Scham drohte sie zu ersticken. Und doch hatte sie nicht das Herz, die Freundlichkeit der braven Frau zurückzuweisen, aus deren Worten sichtbarlich keine müssige Neugier sondern echte Anteilnahme sprach.
Jetzt fühlte sie die breite Hand Augustes auf ihrer Schulter. Ihr warmer gesunder Atem streifte sie.
»Ach, liebes Fräulein, nee, das müssen Sie nicht! So dasitzen wie tot und verstorben! Sehen Sie so, weinen Sie man und erleichtern Sie sich. Thränen sind immer was Gutesl«
Langsam wandte sich Lotte vollends zu der Sprechenden um und reichte ihr die Hand.
»Ich fühl' es, ja, Sie meinen es gut mit mir, und wenn ich erst verheiratet bin –«
»Ach, darum machen Sie sich keine Sorge, Fräuleinchen – aber gut, dass Sie mich darauf bringen. Sehen Sie, mit dem Heiraten, das ist so 'ne Sache. Thuts der Mann nicht in unserer Lage, dann denkt man, die Welt soll untergehen, und thut er's, na, dann is es in den meisten Fällen[130] auch man so. Und wenn dann ein Kind nach dem andern kommt und Schmalhans Küchenmeister bleibt, dann verwünscht man die ganze Heiraterei oft genug und sagt sich: wärst Du man lieber mit dem Ersten allein geblieben! Eins füttert sich, auch ohne Mann, leichter durch, als 'n halbes Dutzend in der Ehe. Nee, liebes Fräulein, glauben Sie mir, die Welt geht noch lange nicht darüber zu Grunde, wenn so 'n Mann nicht mit uns aufs Standesamt geht, da bin ich schon längst dahinter gekommen. Heut sind Sie vielleicht noch anderer Ansicht, aber die Zeit wird auch kommen, wo Sie sagen: die dumme unjebildete Schlossersfrau, die Korn, die hat doch so Unrecht nicht gehabt und Du hättest Dir nicht die Augen drum blind heulen sollen und ihn womöglich auf den Knien ums Heiraten anflehen! Aber der gute Ruf, werden Sie sagen! – Na ja – das ist ja eine ganz schöne Sache, wenn auch noch nie einer satt davon geworden ist. Und das Kind! An das denken wir ja immer zuerst, wir Frauen. Aber ich sage Ihnen was: ob so 'n armer Wurm 'nen Vater hat, der's nicht ernähren kann, oder gar keinen, das bleibt sich auch am Ende gleich. Na, nichts für ungut, Fräulein, das wars, was ich Ihnen hatte sagen wollen, weil ich Ihren Jammer nicht länger mitansehen kann. Und nun, wenn Sie mich brauchen können oder eins von den Kleinen zum Zeitvertreib, oder meinen langen Karl, den ich ja nun doch 'mal für Lebenszeit auf dem Halse habe, wenn Sie vielleicht irgend was zu basteln haben, dann klopfen Sie man ruhig bei Korns an. Und besuchen Sie auch die hübsche schwarze Dame mit den schönen Blumen bald 'mal – ja? Die hat so lustige Augen, die werden Ihnen gut thun – Na, und was er ist – wenn ich mir einen Rat erlauben dürfte – stellen Sie ihn 'n bischen kalt oder thun Sie, als ob Sie sich nischt draus machten, das ist noch das Einzige womit man die Männer 'rumkriegt.«
An der Thür kehrte Frau Korn noch einmal um.
»Liebes Fräulein, ich hätte noch eine Bitte. Nächste Woche ist Mutters Geburtstag. Sie braucht 'ne neue Haube, die hab ich ihr schon lange versprochen. Hätten Sie wohl Zeit, mir eine anzufertigen? Einfach aber nett. Zwei bis drei Märker kann sie schon kosten.«
Und fort war sie, und ehe Lotte noch Zeit gefunden hatte, eine Antwort zu geben, hörte sie nebenan die Thür schon zugeschlagen und das Geschrei der kleinen wilden Schar, die die Mutter begrüsste. –
Die gutgemeinten Vorstellungen der Schlossersfrau waren auf Lotte nicht ohne Wirkung geblieben. In ihrer grenzenlosen inneren Verlassenheit klammerte sie sich an[131] manches Wort der schlichten Frau, wie an einen letzten rettenden Strohhalm an. Frau Korns Hauptargument freilich, dass es vielleicht besser sei, wenn Gerhart sie nicht heiratete und sie mit dem Kinde allein bliebe, wies sie mit leidenschaftlichem Widerstand zurück. Alles in ihr bäumte sich schon gegen den blossen Gedanken auf. Mutter und Mädchen zu sein, dünkte ihr ein unauslöschliches Brandmal der Schande, das höchstens der Tod zu tilgen im stande war. Und da sie den freiwilligen Tod nicht suchen durfte, um ihres Kindes willen, musste Gerhart ihr seinen Namen geben.
Im Uebrigen that Lotte wirklich nach Augustes Worten. Ihrer anschmiegenden unselbständigen Natur wurde das nicht einmal schwer. Sie war so sehr daran gewöhnt, sich leiten und bestimmen zu lassen – von des Vaters Eigenwillen früher, von Lenas Launen und Gerharts Wünschen, seit sie in Berlin war – dass es ihr beinahe zur zweiten Natur geworden, nach dem Willen eines anderen zu handeln.
Sie ging jetzt regelmässig an die Luft, öfters begleitet von einigen der Kornschen Kinder, die in der Umgegend gut Bescheid wussten. Die muntere kleine Gesellschaft führte Lotte so weit ihre müden Füsse sie tragen konnten, feldeinwärts nach Friedenau hinaus oder auf die Schöneberger Kirchhöfe, die Lotte in diesen schwülen Sommertagen am liebsten aufsuchte. Die tiefe Stille um sie her, der sanfte Duft, der dem reichen Blumenschmuck der Gräber entströmte, der Anblick der wenigen langsam dahinschreitenden ernsten Gestalten thaten ihrem wunden Gemüt unendlich wohl. Sie schickte dann die Kinder fort und verlor sich, auf einem still verborgenen Plätzchen sitzend, tief in Gedanken, die sich am Ende jedesmal in dem einen sehnsüchtigen auflösten: Wer doch auch hier liegen könnte und schlafen, schlafen mit Blumen bedeckt, von rauschenden Zweigen sanft umsungen!
Etwa vierzehn Tage nach dem Gespräch mit Frau Korn entschloss Lotte sich auch endlich einmal wieder Lena aufzusuchen. Sie traf nur das Ladenfräulein mit der gebrannten Lockenfrisur, der geschnürten Taille und dem dreisten Mundwerk an. In ihrer schnoddrigen Art teilte das Mädchen Lotte mit, dass das Fräulein gestern abgereist wäre, an die See mit einer adeligen Dame, der Schwester von dem Herrn Leutnant, der so oft hier sei. Da wäre auch ein Brief, den sie heut Abend mit ein paar frischen Blumentöpfen habe zu ihr hinausbringen sollen. Um so besser, dass sie den Weg und die vier Treppen sich nun sparen könnte! –
Lotte nahm dem Mädchen den Brief wortlos aus der Hand. Am liebsten wäre sie gleich wieder gegangen und hätte erst zu Haus gelesen was Lena schrieb, aber sie fühlte[132] sich zu matt dazu. So bat sie das blonde Mädchen schüchtern um die Erlaubnis, sich ein Viertelstündchen in dem türkischen Boudoir ihrer Schwester verweilen zu dürfen.
Lena schrieb:
»Liebes Lottchen, wenn Du diesen Brief bekommst, bin ich schon weit von Dir entfernt – das heisst eigentlich nicht weit, sondern nur vier Stunden von Berlin, in dem schönen Heringsdorf. Du wirst Dich wundern, dass ich so plötzlich verreist bin, aber das kam so. Die Hitze hier war und ist, wie Du weisst, kaum noch zum Aushalten. (Du armer Wurm da oben unter Deinem Dach!) Das Geschäft ging schlecht. Wie sollte es auch nicht, jetzt in der Saurengurkenzeit. Da machte mir Herr Bornstein den Vorschlag, mit ihm an die See zu gehen. Du weisst ja, die See war immer mein grösster Wunsch, aber mit Bornstein – so dumm! Da brachte Herr von Strehsen mich auf die gute Idee, seine Schwester Elisabeth nach Heringsdorf mitzunehmen. Elisabeth sei immer verständiger als die Mutter und Clementine gewesen und habe nicht so alberne Vorurteile. Na, Du weisst ja weswegen, und ich weiss, dass Du sie auch hast, aber Dir verdenk' ich das auch gar nicht, Lotte. Alles kam wirklich, wie Strehsen gesagt hatte. Ich brauche nur zu winken, dann käme sie, Elisabeth nämlich, und zwar mit Wonne, denn sie hätte im Grunde immer zu mir und gegen die andern gehalten, behauptete sie. – Wir wollen eine nette, kleine, bescheidene Wohnung nehmen, wie es deren dort geben soll. Jetzt besonders in der zweiten Saison soll man ganz billig leben können. In acht Tagen kommen Bornstein und Kurt nach. Die werden dann natürlich als Grossprotzen im Kurhaus wohnen. Ich freue mich unbändig und wünschte, Du könntest mit. Schreibe mir doch bald eine Zeile, wie es Dir geht.
Deine Dich liebende Schwester
Lena.«
Lotte legte den Brief vor sich auf die eingelegte Tischplatte und stützte den schweren müden Kopf in die Hand. Es war recht gut, dass sie Lena nicht gefunden hatte. Lena war so glücklich, weshalb sollte sie ihr durch ihr eigenes Leid das Leben verbittern? Wirklich helfen konnte sie ihr ja doch nicht. Bis Lena zurück war – das blonde Mädchen hatte von vier Wochen gesprochen – würde sich vielleicht schon so manches geklärt und verändert haben. Vielleicht war sie bis dahin verheiratet oder fort von Berlin. Frau Korn, mit der sie jetzt alles besprach, wollte von dem letzten Plan freilich absolut nichts wissen.[133]
»Das fehlte blos, unter fremde Menschen gehen, allein und verlassen sein in der schweren Stunde, und dafür noch sauer verdientes Geld bezahlen – daraus wird nichts. Hier bleiben Sie. Ich werde Sie schon pflegen ich versteh' mich d'rauf. Wenn man sieben gehabt hat, lernt sich das.«
Widersprochen hatte Lotte nicht, aber zugestimmt noch weniger. Sie hatte über alles dies ihre eigenen Gedanken. –
Jetzt steckte sie Lenas Brief in die Tasche und machte sich zum Gehen bereit.
Als sie in den Laden zurücktrat, fragte das Ladenfräulein in seiner kurzen schnippischen Art, ob sie die Blumen etwa doch noch 'rausbringen solle, oder ob es nun nicht mehr nötig sei.
Lotte dankte und nahm sich vor, in Lenas Abwesenheit den Laden nicht mehr zu betreten.
Die dreiste Art dieses Mädchens war ihr äusserst unbehaglich. Sie begriff nicht, wie Lena es mit solch einem Geschöpf aushalten konnte. Aber Lena hielt es nicht nur mit ihr aus, sondern war sogar sehr zufrieden mit ihrer Angestellten, von der sie behauptete, dass sie ihr Geschäft ausgezeichnet verstehe. Möglich, dass Lena recht hatte und sie selbst im Unrecht war, wie zumeist in solchen Dingen. Der Schiffbruch, den sie selbst erlitten, bewies ja zur Genüge, dass sie nicht im geringsten das Zeug dazu hatte, sich in Berlin über Wasser zu halten. Lena und dieses Mädchen verstanden es jedenfalls schon heut viel besser, als sie es jemals lernen würde.
Viel müder und trübsinniger als sonst von ihren Spaziergängen, kam Lotte heut zu Hause an. Natur und Stille thaten ihr wohl, Menschen konnte sie nicht mehr ertragen. Das beste war schon, sie vermied sie ganz.
In dem kleinen Kasten an ihrer Thür steckten eine Postkarte und ein Brief.
Nachdem sie die Lampe angezündet hatte, nahm sie zuerst die Postkarte zur Hand. Sie war von Gerhart aus Freienwalde. Er hatte erst einmal kurz geschrieben, dass er sehr befriedigt von dem Talent der ihm empfohlenen Schauspielerin sei, und dass er hoffe, es würde eine ausgezeichnete Helga aus ihr werden. Heute teilte er ihr wieder nur in aller Kürze mit, dass er fürs erste noch in Freienwalde bleiben müsse. Fräulein Berté bedürfe bei dem Studium der Helga, trotz allen Talentes, doch sehr seiner leitenden Hand, und da sie nicht aus dem Engagement könne, müsse er eben dort zur Stelle sein. Es könne noch gut und gern ein paar Wochen dauern. In den nächsten Tagen würde er ausführlich über alles schreiben. Heut nur noch, dass er von[134] Tante Wohlgebrecht, die vor Neujahr schwerlich wieder nach Berlin kommen werde, Nachricht habe, und dass der junge Mensch, ein stellenloser Buchhandlungsgehülfe, den er statt seiner ins Geschäft gesetzt, seine Sache ganz ordentlich zu machen scheine. Er sei froh, dass er den unwürdigen Krempel 'mal auf eine Weile los sei.
Lotte schob die Karte, die ihr so wenig Tröstliches sagte, bei Seite und erbrach den Brief.
Er kam von Franz Krieger und war scheinbar in einer sehr trüben Stimmung geschrieben. Es schien dem Jugendfreund nahe gegangen zu sein, dass Lotte seinen letzten Brief nicht selbst beantwortet hatte. Lena habe die Frage: ob sie ihm rate nach Berlin zu übersiedeln, ja am Ende für sie beide bejaht, aber das sei doch schliesslich nicht dasselbe, wenigstens nicht für ihn. Lena habe auch geschrieben, dass sie, Lottchen, nicht ganz auf dem Posten sei, sie möge ihm doch mitteilen, wie es ihr gehe. Mit dem Wiedersehen würde es leider vorerst nichts werden, denn nach genauer Ueberlegung könne er ohne Verlust seine Zelte vor Ende März nächsten Jahres nicht abbrechen. Dem Vater ginge es gut. Er liesse grüssen. Er pflege sich bei Karsten ordentlich heraus. Er liesse auch anfragen, ob seine Mädchen ihn denn nicht 'mal besuchen wollten, oder ob es dazu noch nicht langte? Zum Schluss wünschte Franz Lotte noch alles Gute für ihren Gesundheitszustand und bat noch einmal, ihm recht bald ein Wort zukommen zu lassen.
Der gute Mensch! Was hätte sie darum gegeben, ihn hier zu haben, wenn alles anders gewesen wäre! So wie die Dinge lagen, war es ihr ein Stein von der Seele, dass Franz erst in mehr als einem halben Jahr an seine Uebersiedelung denken konnte. Manchmal schien es fast so, als ob der liebe Gott es doch noch gut mit ihr meine.
Nach alle dem, was sie eben erfahren hatte, schien er ihr die Schmach ersparen zu wollen, Franz und Frau Wohlgebrecht wieder zu sehen, ehe sie Gerharts Frau geworden war. –
Ueber Berlin brütete noch immer die gleiche Sommerhitze, obgleich man sich schon dem Ende des September nahte und die meisten der Reisenden längst aus ihren Sommerquartieren heimgekehrt waren. Man merkte es überall auf den Strassen und in den Geschäften, dass Berlin wieder so ziemlich vollzählig beisammen war und seiner gewohnten Lebensweise nachging. – Lena hatte noch nichts davon hören lassen, dass sie an eine Rückkehr dachte. Sie schien sich in Heringsdorf äusserst wohl zu befinden und ihren geschäftlichen Ehrgeiz auf eine Weile an den Nagel gehängt zu haben. Bornstein und Herr von Strehsen dagegen[135] hatte das Badeleben auf eine so lange Dauer nicht behagt. Wie Lena schrieb, hatten die Herren schon vor vierzehn Tagen einen Abstecher nach Schweden gemacht, von dem sie noch immer nicht zurückgekehrt waren, ein Umstand, der Lenas Begeisterung für Heringsdorf und die übrige Badegesellschaft indes nicht im geringsten zu beeinträchtigen schien. Auf ihren flüchtig hingeworfenen Karten schwirrte es von vornehmen und reichen Familiennamen, deren Bekanntschaft sie gemacht hatte, und von denen sie sich in Berlin ausserordentliche geschäftliche und gesellige Vorteile versprach. Es war staunenerregend für die einfache Lotte, welche Weltsicherheit Lena sich in der kurzen Zeit ihres Berliner Lebens, angeeignet hatte. Wohl ihr, wenn sie dauernd ihr Glück darin fand.
Gerhart hatte Lottes letzte dringliche Briefe nicht beantwortet, aber Lotte hatte nicht, wie sonst wohl bei dergleichen Gelegenheiten, diesen Umstand schwer und trübe genommen. Ihr noch immer zärtlich vertrauendes Herz sah nichts Anderes darin, als ein Anzeichen seiner nahen Rückkehr. Weshalb sollte er noch schreiben, wenn er ihr so bald würde alles erzählen können? Vermutlich hatte er auch sonst mehr als genug mit Schreiben zu thun, jetzt, wo er so nahe vor dem letzten Ziel stand, ein berühmter Mann zu werden!
Das Herz klopfte ihr höher, wenn sie daran dachte. Wie stolz sie dann auf ihn sein würde, wie überselig bei jedem neuen Erfolg! Gewiss, sie würde ihn niemals stören, niemals seine Zeit beanspruchen, sie und das Kleine nicht. Er sollte ganz für sich leben, ganz nach seiner Weise, seinem Behagen, ganz so wie es ihm für seine Arbeit notwendig erschien. O, sie wollte ihn schon heilen von seinen grausamen Vorurteilen gegen die Ehe, die er einen Kerker, eine Sklavenkette zu nennen pflegte, er sollte es bei ihr schon lernen, der Ehe vor der freien Liebe den Vorzug zu geben. Die mochte ja ganz schön für die moderne Dichtung sein, für das wirkliche Leben aber war die Ehe doch ein anderes Ding.
Während bis vor kurzem noch jeder Gedanke an die Zukunft Lottes Gemüt umdüstert hatte, war seit wenigen Tagen ein völliger Stimmungswechsel bei ihr eingetreten. Je mehr sie sich in die Zukunft versetzte, um so heiterer wurde sie. So auffällig war dieser Stimmungswechsel, dass sie selbst davon betroffen wurde. Es hatte sich doch nichts, gar nichts zum Guten verändert! Vielleicht war es auch vorher nicht so düster um sie gewesen als sie es zu sehen vermeinte, vielleicht war nur ihr körperlicher Zustand daran Schuld gewesen, dass sie während der letzten Monate die ganze Welt für[136] ein Jammerthal angesehen hatte und sich selbst für die bedauernswerteste der Pilgerinnen, die es zu durchwandern haben.
Frau Korn hatte ganz recht, die Welt war gerade so wie man sie ansah. Zeigte man ihr ein ewig trübes Gesicht, so konnte man auch nicht von ihr verlangen, dass sie einem ein heiteres wies. Lotte wollte sich diese späte Erkenntnis zur Lehre dienen lassen und der Welt und Gerhart fortab ein heiteres Antlitz zeigen. Eine Art freudiger Anspornung, eine Erhöhung aller Kräfte war ganz plötzlich über sie gekommen. Fühlte sie sich aus diesem Grunde körperlich um so vieles wohler, oder hatte ihre Gemütsstimmung sich gestärkt und erhoben, weil es ihr um so viel besser ging? Sie wusste es nicht, was Ursache, was Wirkung war, sie fragte auch nicht danach, aber sie fühlte sich wie eine plötzlich Erlöste.
Frau Korn schmunzelte. Von dem Schwarzkopf konnte diese Wirkung nicht kommen, der hatte nichts von sich sehen, und wie sie wusste, auch nichts von sich hören lassen. Also musste es wohl ihre Kur sein, die kräftig angeschlagen hatte.
In diese gehobene Stimmung Lottes stürmte Gerhart an einem der ersten Oktobertage hinein. Unangemeldet, unerwartet kam er. Lotte war so überwältigt von der Freude ihn wiederzusehen, dass sie sich zuerst von ihrem Sitz kaum zu erheben vermochte.
Dann sprang sie auf wie emporgeschnellt, und stürzte ihm mit einem Freudenschrei in die Arme. Er liess ihre unsinnigen Zärtlichkeitsausbrüche mehr über sich ergehen, als dass er sie wie sonst hervorgerufen hätte. Nach einer Weile drückte er sie mit gelassener Freundlichkeit auf ihren Sitz am offenen Fenster nieder.
»Ruhig, Lottchen, ruhig! Du darfst Dich nicht so aufregen. Ganz vernünftig sein – so.«
Und er zog sich einen Stuhl auf die entgegengesetzte Seite des Arbeitstischchens, an dem Fenster ihr gegenüber. Sie sah ihn ein klein wenig verwundert an, aber sie sagte nichts. Sie wollte ihm ja ein freudiges, heiteres Gesicht zeigen. Und weit zu ihm hinübergebeugt, fragte sie atemlos:
»Nun erzähle, wie war's?«
Eine heisse Blutwelle stieg in seinem blassen Gesicht auf, und wie ein Blitz zuckte es darüber hin, einen Augenblick nur, dann sagte er mit gemachter Gleichgültigkeit:
»O, alles in Ordnung, Kind. Die Berté hat ihre Helga endlich intus, und der Erik wird auch werden. Wir haben gestern die erste Probe gehabt.«
»Gestern warst Du schon hier, Gerhart?« fragte Lotte enttäuscht.[137]
Wieder zuckte es über sein Gesicht, diesmal von verhaltener Ungeduld.
»Ich hatte zu thun«, sagte er kurz.
Sie nahm sich zusammen, um ihrem Vorsatz treu zu bleiben.
»Wann wird die erste Aufführung sein?«
»Am fünfzehnten.«
»So bald schon, o, das ist herrlich. Da kann ich noch dabei sein.«
Gerhart streifte sie flüchtig mit den Blicken und zuckte die Achseln.
»Wie Du meinst, ich würde es für richtiger halten, Du gingest der Aufführung aus dem Wege. Es kann Dir nur schaden.«
»Das ist doch gar nicht so aufregend«, sagte sie gutmütig, in dem Wunsch, ihn über sich zu beruhigen.
Er sprang auf und stiess den Stuhl heftig hinter sich fort.
»Red' doch nicht solchen Unsinn, Lotte. Da sieht man wieder, dass Du im Grunde keine Ahnung hast, was eine Erstaufführung in Berlin bedeutet, noch dazu bei einer freien Bühne. Von diesem Abend hängt Tod oder Leben für mich ab, und das nennst Du nicht aufregend! Alles, alles kommt darauf an, wie das Frühlingsdrama aufgenommen wird. Ich will nicht mehr leben, wenn es versagt; ich kann es nicht! Wieder zurück in die Dunkelheit, ich ertrag's nicht, ich will's nicht! Lange genug hab' ich daringesteckt, während andere sich am goldenen Licht des Ruhmes sonnen durften. Endlich, endlich will ich zu ihnen gehören.
Höre, Lotte«, und er packte das Mädchen beim Arm, dass sie die Zähne zusammenbeissen musste, um nicht laut aufzuschreien.
»Du sollst nicht dabei sein, hörst Du, Du sollst nicht. Ich will nicht abgezogen werden an diesem Tage durch andere Dinge. Ich will nur Gedanken haben für mein Werk, für die Künstler, die es vor das Publikum bringen, für das Publikum selbst, dem ich mich endlich offenbaren will. Hörst Du, Lotte? Ich will nichts Anderes, nichts! Ich bitt' Dich, sprich nicht mehr davon, und auch – von dem andern nicht. Ich brauche für den Tag meine ganze Kraft. Alles Uebrige ausser dem Frühlingsdrama muss bis dahin tot für mich sein. Sage, hast Du mich verstanden?«
Lotte sass da mit grossen, entgeisterten Augen, bleich bis in die Lippen, aber sie verzog das Gesicht zu einem krampfhaften Lächeln, und mit dem Kopfe nickend, wie eine Pagode, sagte sie mit heiserer Stimme »Ja, ja!«[138]
Er war es zufrieden und wurde wieder ruhiger.
»Ich denke, ich kann mich auf Dich verlassen«, sagte er.
»Sieh 'mal, mein Kind, Du musst da schon meiner besseren Einsicht ganz vertrauen. Nicht nur mein Werk allein, das Werk eines Einzelnen steht auf dem Spiel, sondern eine ganze Richtung, so zu sagen die gesamte Moderne. Das Frühlingsdrama ist der zusammengefasste Ausdruck für diese Richtung. Versagt es, erleidet unsere ganze moderne Schule. Meister und Jünger, eine empfindliche Schlappe. Du verstehst das nicht, und das ist auch nicht von Dir zu verlangen. Es mag Dir genügen, wenn ich Dir sage: es steht Ungeheures auf dem Spiel. Denn unsere Niederlage, die Niederlage der Moderne würde einen Triumph der lächerlich antiquierten Philisterpartei bedeuten, die wir zu vernichten ausgezogen sind mit Stumpf und Stiel. Nicht auszudenken ist es, wenn die Moser, Schönthan und Konsorten noch einmal den Sieg gewinnen sollten gegen die Hauptmann und Schnitzler. Ich glaube, ich würde verrückt darüber.«
Hätte Gerhart Schmittlein Lottes Herzen nicht so nahe gestanden, sie würde ihn jetzt schon dafür gehalten haben, so rasend geberdete er sich. Aber da sie ihn noch immer zärtlich liebte, flösste ihr sein Wesen weit mehr Besorgnis als Schrecken ein.
Er war nach seinen letzten Worten erschöpft und gebrochen auf den Stuhl ihr gegenüber zusammengesunken.
Langsam erhob sie sich und trat zu ihm. Sanft strich sie ihm mit der Hand über die erhitzte Stirn und zog seinen dunklen Kopf an ihre Brust.
»Lass nur gut sein, Gerhart, Ihr werdet schon sie gen gegen die andern – und ich – ich werde Dir gewiss nicht im Wege sein.«
Sie beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn zärtlich auf Stirn und Mund und Wange. Er liess den Kopf an ihrer Brust ruhen ohne sich zu regen. Es war, als ob er ihre Küsse gar nicht gefühlt habe.
Heisse Thränen stiegen in ihren Augen auf, aber sie kämpfte sie tapfer hinunter. Sie wollte ihm ja ein heiteres Gesicht zeigen! –
Eine Stunde später sass Gerhart in dem Stammlokal der jüngsten Modernen. Ein paar kaum den Schuljahren entwachsene Theaterkritiker und einige Kollegen Gerharts hatten sich schon vor ihm eingefunden. Er wurde mit lauten Zurufen begrüsst und das bevorstehende Ereignis in allen Tonarten gefeiert.
Nach dem dritten Schoppen gab Gerhart auf allgemeinen Anruf der Tafelrunde wie das so unter ihnen üblich, das Erlebnis[139] zum besten, das den Stoff zu seinem Frühlingsdrama hergegeben hatte. Er enthüllte sein und Lottes intimstes Liebesleben.
Im Vergleich zu den meisten andern Anwesenden hatte sich Gerhart noch ein gut Teil Schamhaftigkeit und Zartsinn bewahrt. Er nannte weder Namen noch Stand der Geliebten, die ihm Modell gesessen hatte. Sonst pflegte solche Diskretion bei der Clique, der er angehörte, nicht üblich zu sein. Die jungen Leute machten einen förmlichen Sport daraus, bei einer Erstaufführung oder einer Vorlesung einander ganz ungeniert die jeweilige »Märtyrerin der freien Liebe« zu zeigen, mit der sie ihren Stoff erlebt, nach der sie ihn gebildet hatten. Es fiel Niemandem von ihnen ein, dass dies Gebahren eine schamlose Preisgabe ihres Liebeslebens sei. Im Gegenteil, es verlieh dem Werke einen erhöhten Wert, dass einer vom andern wusste: die und die hat mir dazu Modell gestanden. Wofür waren sie denn Naturalisten, Wirklichkeitsdichter und keine idealen Schönfärber wie die alte Schule? Sie mussten einander doch beweisen, wie genau sie den Schmutz des Lebens kannten, und auf den Centimeter angeben können, wie tief sie in diesem Schmutz herum gewatet waren. Hätten sie sonst das Recht gehabt, sich Naturalisten zu nennen?
Wie es oft bei Gerhart Schmittlein zu geschehen pflegte, so auch heute. Er that dasselbe, was die andern thaten, aber wie er es that, wich so gewaltig von der Art der andern ab, dass auch die Wirkung eine ganz andere war.
Als er geendet hatte, trat eine tiefe Stille ein. Was und vor allem wie er gesprochen, hatte eine gewaltige Wirkung geübt.
Erst nach einer langen stummen Pause ergriff Gerharts Nachbar zur Linken das Wort. Er war ein blasser, blonder Mensch, ein Lehrerssohn aus der Mark, den ehrliche Begeisterung und echtes Streben an die neue literarische Richtung knüpfte, die hier verkündet wurde. Gerhart Schmittlein schien ihm der Messias dieser neuen Lehre zu sein.
»Darf ich mir eine Frage gestatten, Schmittlein?«
»Zehn für eine.«
»Ich will nicht indiskret sein, ich hoffe, Sie wissen auch, dass ich nicht neugierig bin. Es interessiert mich nur vom rein psychologischen Standpunkte aus. – Als das Frühlingsdrama vollendet war – als Sie das Modell nicht mehr brauchten, haben Sie da für das Weib noch viel übrig gehabt?«
Gerhart schüttelte sehr energisch den schwarzen Kopf.[140]
»Nichts als ein wenig Mitleid. Meine Leidenschaft gehört –« hier unterbrach er sich.
Dass Lotte durch dies Geständnis nicht kompromittiert[141] werden konnte, wusste er. Niemand kannte sie, niemand in diesem Kreise würde sie jemals kennen, und so würde niemals jemand erfahren, wer ihm zu der Helga Modell gesessen habe. Wenn er aber jetzt eingestand, dass seit dem Zeitpunkt der Vollendung des Werkes seine Leidenschaft nur noch der gehörte, die es ihm verkörpern sollte, würde ein jeder wissen müssen, dass niemand anders als die Berté damit gemeint sein konnte. Er hatte das Gefühl, schon mit seinem abgebrochenen Wort zu viel gesagt zu haben. Sehr unbehaglich war ihm dies Gefühl. So lange er mitten in einem Verhältnis stand, liebte er es, im Gegensatz zu allen andern nicht, es glossiert zu wissen. Er zog die Uhr aus der Tasche. Gleich elf. Es war die höchste Zeit zu gehen. Erna Berté würde ihn schon seit einer Stunde erwarten. Ihn selbst peinigte eine glühende Sehnsucht nach dem schönen, temperamentvollen Geschöpf. So empfahl er sich kurz, ohne sich von irgend einem der Anwesenden im einzelnen zu verabschieden. »Immer originell«, klang es ihm nach.
»Ein Genie«, behauptete eine zweite Gruppe.
»Ein arroganter Phantast«, die dritte, die bei weitem in der Mehrzahl war. –
Der vorherbestimmte Zeitpunkt für die Aufführung des Frühlingsdramas war festgehalten worden.
Mit grossen Lettern auf gelbem Grunde stand es am Morgen des feuchtkalten fünfzehnten Oktober an den Anschlagsäulen zu lesen:
Zum ersten Mal
Ein Frühlingsdrama.
Geschehnis in vier Aufzügen
von Gerhart Schmittlein.
Lotte, der es in den letzten Tagen wieder recht schlecht gegangen war, hatte sich ganz früh schon auf die Strasse geschleppt, um wenigstens die Anzeige zu lesen.
Ja, da stand es: Frühlingsdrama von Gerhart Schmittlein! Was sie seit jenem Weihnachtsabend in der »Versunkenen Glocke« für Gerhart erträumt hatte, heute sollte es sich erfüllen. Sie aber, die ihn, wie er ihr tausendfach unter glühenden Küssen zugeschworen hatte, einzig zu dem Werke begeistert, sie, ohne die er es niemals hätte schaffen können, sie, die sich ihm hingegeben dafür mit Leib und[142] Seele, die ihr Mädchentum, ihre Ehre dafür hingeopfert hatte, sie stand heute abseits, allein und verlassen.
Heisse Thränen stürzten ihr aus den Augen. Heut, wo er sie nicht sah, mochten die bitteren Tropfen ungehindert fliessen. Was that es ihr, dass fremde Menschen sie anstarrten mit Mitleid oder mit Schadenfreude? Was ihr vor Monaten noch unerträglich erschienen wäre, andere ihr Leid schauen zu lassen, heut war es ihr gleichgültig geworden, wie so vieles, wie das meiste um sie her. Was konnte ihr das alles anhaben, seit sie sich eingestehen musste, dass Gerhart ihr verloren war. Seit jenem Tage des Wiedersehens wusste sie es: er war ihr verloren, unwiderruflich! Er würde vielleicht noch seine Pflicht an ihr erfüllen, mehr aber nicht, nicht heut, nicht morgen, denn er liebte sie nicht mehr.
Eiskalt durchschauerte es sie bei dem Bewusstsein, dass der Gerhart, dessen Name dort in weithin leuchtenden Lettern auf dem grossen grellfarbigen Plakat gedruckt stand, der Gerhart nicht mehr war, in dessen Armen sie sich selbst und ihre Ehre vergessen hatte, und doch dabei so grenzenlos, so unsinnig glücklich gewesen war. Nein, er war es nicht mehr, er war ein anderer geworden und ob sie auch seine Frau würde, sein Herz würde sie niemals wieder besitzen.
Fester zog sie den leichten Schulterkragen um die Brust. Die Kälte drang ihr durch Mark und Bein. Kam diese eisige Kälte von innen heraus, oder war es der scharfe Herbstwind, der sie erschauern machte wie im Fieber, sie wusste es nicht. Dazu stellten sich plötzlich unerträgliche Schmerzen in allen Gliedern ein, vor den Augen tanzten ihr rote, grüne und gelbe Punkte, kaum war sie noch im Stande, sich die vier steilen Treppen hinaufzuschleppen. Stöhnend warf sie sich auf ihr Bett. Stundenlang lag sie so allein, ohne zu wissen was mit ihr vorging. Sie hätte fortwährend schreien mögen und doch unterdrückte sie instinktiv jeden Ausbruch des Schmerzes, indem sie sich leise ächzend in das Bettzeug einbiss. Endlich glaubte sie es nicht länger ertragen zu können und schleppte sich zu Frau Korn hinüber.
Auguste war zu Haus und bei der Arbeit. Die brave Frau machte nicht viel Worte. Auf den ersten Blick sah sie was los war. Sie lächelte nur und dachte: »Wir scheinen uns also verrechnet zu haben.«
Dann führte sie Lotte wieder in ihre Wohnung hinüber, liess durch ihre Aelteste alles Notwendige besorgen und blieb auch, nachdem eine geschäftige, rundliche Frau aus der Nachbarschaft zur Hilfeleistung herbeigeholt worden war, an Lottes Seite, bis sie um die achte Stunde, gerade als in[143] der »Freien Bühne« der Vorhang zu Gerharts Frühlingsdrama aufrollte, einem zarten, zierlichen Mädchen das Leben gab.
Die rundliche Frau konstatierte, dass das Kind zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen sei, sich aber trotzdem sehen lassen könne.
Lotte empfand, als das Kind glücklich auf der Welt war und mit einem gesunden Aufschrei die vier engen Wände seiner Geburtsstätte begrüsste, nicht das geringste von jener hohen, heiligen Mutterfreude, die die ausgestandenen Schmerzen mit einem Schlage vergessen macht.
Als Frau Korn ihr die Kleine reichte, küsste sie sie flüchtig auf die braunrote Stirn.
Das Kind, Gerhart, die Schande, die ihr nun doch nicht erspart geblieben war, alles war ihr gleichgültig. Nur das Gefühl einer grenzenlosen Schwäche lebte in ihr, ein alles bezwingendes Bedürfnis nach Ruhe.
Frau Korn that ihr möglichstes dazu, Lotte diese Ruhe zu verschaffen, obgleich sie selbst, trotz ihrer sieben nie ein ähnliches Bedürfnis empfunden hatte. Sie benachrichtigte nicht einmal den »Schwarzkopf« von dem überraschend eingetretenen Ereignis, denn sie sagte sich mit Recht, dass er der letzte gewesen wäre, Lotte Ruhe zu bringen. Lotte fragte im übrigen auch gar nicht nach ihm, und Auguste war der Ansicht, dass er schon von selber kommen würde, wenn auch nur, um seinen Triumph auszuposaunen und sich von dem armen schwachen Wurm da seinen Extralorbeer zu holen. Frau Korn, die aus dem Hause Veilchenfeld einen so starken Theaterenthusiasmus mitgebracht hatte, dass er in ihrer jetzt siebenjährigen Ehe noch immer nicht ganz erstorben war, hatte unter den Theaternachrichten, die sie tagtäglich im Vorwärts nachschlug, gelesen, dass das Frühlingsdrama des Schwarzkopfs einen rauschenden Erfolg gehabt habe.
Da Lotte nicht danach fragte, erzählte sie ihr nichts davon; zu ihrem Manne aber hatte sie gesagt: »Nun wird der Schwarzkopf wohl gänzlich überschnappen.«
Eine andere Aufregung – wenn es eine für Lotte war – konnte Frau Korn ihr indes nicht ersparen. Die hilfreiche Frau drang darauf, dass der kleine Schreihals am dritten Tage beim Standesamt angemeldet werden müsse. Es sei so Polizeivorschrift und nichts dabei zu wollen. Lotte musste sich also für einen Namen entscheiden.
Wie im Traum war es ihr, dass irgendwo und irgendwann – die Sonne hatte geschienen, das Wasser gerauscht, und würzige Waldluft sie umströmt – Gerhart für das Kind den[144] Namen Helga gewünscht hatte, wenn es ein Mädchen würde. Sie aber hatte nicht gewollt.
In dem Halbschlaf, in dem sie fast dauernd lag, war es ihr so, als ob sie schon damals Gerhart gebeten habe, es nach der Mutter Luise nennen zu dürfen. Ja, Luise sollte es heissen. Auch Frau Korn war durchaus dafür. »Mutters Name bringt allemal Segen«, behauptete sie. Und Helga, nee, das roch ja förmlich nach Roman und Komödie. Das war ganz schön in Büchern und auf dem Theater, aber fürs gewöhnliche – nee. – Und so auffallend wie das klang!
In Lottchens Lage – Frau Korn nannte ihren Schützling jetzt schlankweg Lottchen – musste man alles auffallende vermeiden.
So wurde das Kleine auf den Namen Luise Weiss angemeldet.
»Armes Mädchen, armes Mädchen«, murmelte Lotte vor sich hin. »Wieder eins mehr auf der Welt.«
»Papperlapapp«, unterbrach sie Frau Korn. »Wer weiss denn, was aus dem Mädel 'mal wird, nette kleine Krabbe die es ist. Luise Weiss ist ein ganz guter Name, und wenn es so grosses Verlangen nach dem Namen des Schwarzkopfs haben sollte – na, am Ende ist ja auch noch nicht aller Tage Abend. Wie ist es denn, Lottchen? Am Ende ist es doch unsere Pflicht, es ihm anzuzeigen? –«
Lotte faltete die blassen schmalen Hände und sah angstvoll zu Auguste auf, die neben ihrem Bett stand.
»Bitte nein, liebe Frau Korn, warten Sie noch ein paar Tage. Ich könnte es jetzt noch nicht ertragen.«
Frau Korn war es sehr recht so.
»Wie Sie wollen. Aber ängstigen Sie sich nur nicht so. Sie thun ja gerade, als ob er das Recht hätte, Ihnen was zu thun? Gar kein Recht hat er. Berappen soll er und sich was schämen.«
Ehe Frau Korn Gerhart eine Nachricht zukommen liess, wollte sie jedenfalls auf Lottes Wunsch zu Lena gehen, die Anfang Oktober aus Heringsdorf zurückgekommen war.
Lotte wusste zwar nicht, wie Lena das Geschehene aufnehmen wurde, aber lieber wollte sie ihren Unwillen und schlimmeres vielleicht ertragen, als das Ereignis vor ihr verschweigen.
Dazu stand ihr die Schwester trotz alledem doch zu nahe, als dass sie sich hätte vorstellen können, dass sie ein Kindchen hätte haben sollen, ohne dass Lena darum wusste.
Frau Korn und Lena würden sich auch ganz gut verstehen, davon war Lotte überzeugt. Sie hatte zwar recht[145] wenig Menschenkenntnis, aber dass beide auf einem gesunden, realistischen Boden standen, leuchtete ihr doch ein.
Immer mehr drängte auch ihre ganze äussere Lage dazu, Lena ins Vertrauen zu ziehen. Lottes Mittel waren nicht nur erschöpft, sondern Frau Korn hatte schon von dem Ihren zuschiessen müssen. Es war höchste Zeit, dass sie selbst wieder an die Arbeit kam. Was sollte sonst aus dem Würmchen werden?
Frau Auguste wollte von alledem nichts hören. »Erst gesund werden und wieder zu Kräften kommen. Das andere findet sich nachher«, predigte sie tagaus, tagein, und schnitt, wo immer sie konnte, der Kranken die Rede ab.
Sie hatte einen Höllenrespekt davor, dass das arme Ding nun, da sie anfing, sich ein bischen zu erholen und aus ihrer stumpfen Gleichgültigkeit zu erwachen, aufs neue in einen ihrer wilden Verzweiflungsausbrüche darüber verfallen würde, dass das gefürchtete nun doch eingetreten war, ehe sie die Frau des Schwarzkopfs geworden. Zu Frau Korns grosser Erleichterung blieb Lotte, soviel sie sich auch um ihre und des Kindes nächste Zukunft sorgte, auf diesem Kardinalpunkt ganz ruhig. Das heisst, sie brachte nicht ein einziges Mal die Rede darauf. Frau Korn zerbrach sich den schwerfälligen Kopf darüber, was diese unnatürliche Gefasstheit zu bedeuten haben könne. Hatte Lotte verzichtet und sich darein gefunden? Die brave Frau hätte Gott dafür gedankt, denn es wäre in ihren Augen das einzig Verständige gewesen. Aber sie konnte nicht recht daran glauben. Es sah ihrem Schützling so wenig ähnlich.
In Wahrheit stand es so, dass Lotte nun, da das Kind einmal vor der Ehe zur Welt gekommen war, Selbsterhaltungstrieb genug besass, sich ungefähr zu sagen: »Es ist nun doch einmal geschehen. Du kannst Dir Zeit lassen, ehe Du von neuem einen Kampf beginnst, dem Du jetzt noch nicht gewachsen bist.« Es war vielleicht mehr Mutterinstinkt als Ueberzeugung, dass Lotte so empfand. Sie fühlte, dass sie sich für das Kind erhalten musste, das vorerst nichts wie sie auf der Welt besass. Das gab den Ausschlag. Damit waren auch die Todesgedanken verbannt, mit denen sie sich in letzter Zeit getragen hatte. Die Schande war nun einmal über sie gekommen. Würde die Sünde, die sie begangen, dadurch gut gemacht werden, dass sie den Platz freiwillig verliess, an den sie gestellt worden war? Der liebe Gott hatte es sichtbarlich gut mit ihr gemeint und war ihrer Schwachheit zu Hilfe gekommen. Wäre das Kindchen nicht so unerwartet früh zur Welt gekommen, hätte sie vorher gewusst, dass ihre schwere Stunde so nahe bevorstehe,[146] sie hätte schwerlich die Kraft gehabt, einer Verzweiflungsthat aus dem Wege zu gehen.
Zehn Tage nach der Geburt der kleinen Luise machte Frau Korn sich zu Lena auf den Weg.
Vor der resoluten Art der Schlossersfrau hatte das lockengebrannte Ladenmädchen jedenfalls bedeutend mehr Respekt als vor Lottes vornehm zurückhaltendem Wesen. Ohne die geringsten Umstände und Nebenbemerkungen meldete sie Frau Korn der Prinzipalin, trotzdem diese gerade Besuch hatte. Bornstein und Kurt waren anwesend. Sie hatten, wie jetzt öfter, bei Lena gespeist. Rauchend und plaudernd sass man noch im Esszimmer zusammen, als Lena hörte, dass jemand da sei, der sie im Auftrag ihrer Schwester zu sprechen wünsche. Sie schickte ohne Umstände die Herren in das türkische Boudoir und liess Frau Korn zu sich bitten.
Ueber die Freude, die hübsche Person mit den lustigen Augen wiederzusehen, die sie oben auf der Treppe zu Lottes Wohnung so sehr bewundert hatte, vergass Frau Korn für ein paar Augenblicke, dass sie hierhergekommen sei, um einen zum mindesten sehr delikaten Auftrag auszurichten. Als sie sich aber wieder darauf besonnen hatte, machte die entschlossene Frau keine lange Vorrede mehr, sondern fiel so zu sagen mit der Thür ins Haus.
Lena war bei der plötzlichen Eröffnung glutrot und so verlegen geworden, wie sie es selbst nicht für möglich gehalten hatte.
»Um Gotteswillen, liebe Frau«, stotterte sie, »was Sie da sagen, das ist ja doch ganz unmöglich – Lotte – die ruhige prüde Lotte –? Unmöglich!«
Frau Korn schüttelte gutmütig den grossen Kopf mit der altmodischen Frisur und dem noch altmodischeren Hut darüber.
»Unmöglich, Fräulein, ist nichts auf der Welt – und in der Liebe nun schon gar nicht.«
»Aber dies – nein – ganz schrecklich finde ich das – gar nicht zu sagen, wie ich das von meiner Schwester finde.
Warum haben sie denn nicht geheiratet? Gott im Himmel, wie kann man nur eine solche Dummheit machen!«
Frau Korn sah sich mit einem humoristisch-ironischen Ausdruck in ihren klugen kleinen Augen in dem geschmackvoll eingerichteten Raum, auf der Tafel, auf der noch ein Teil des eleganten Geschirrs und des kostbaren Krystalls mit schwerflüssigen Weinresten stand, um.
»Es trifft's nicht jedes alleinstehende Mädchen so gut wie Sie, Fräulein. Es hat nicht jede das Talent wie Sie, sich in diesem gotteslästerlichen Berlin über Wasser zu halten,[147] und mehr als das! Mädchen wie Ihre Schwester, die immer an andere und nie an sich selber denken, fallen am ehesten 'rein. Ich hab's meiner Zeit auch nicht besser gemacht, bloss dass mein Karl mich geheiratet hat, was ich, ehrlich gestanden, von dem Schwarz – von dem Herrn Gerhart nicht glaube.«
Lena machte ein entsetztes Gesicht; Auguste aber schüttelte sehr energisch ihren runden, dicken Kopf.
»Das ist noch lange das schlimmste nicht, Fräulein. Ihre Schwester muss sich natürlich von dem Kinde trennen – übrigens ein reizender Balg, wir haben es Luise genannt, nach der verstorbenen Frau Mutter – da beisst keine Maus den Faden ab. Ich hab' mir das schon alles zurechtgelegt. Wir geben die Kleine bei meiner Freundin in Schmargendorf in Kost. Das ist eine ordentliche Person, die ihre Schuldigkeit an dem Kinde schon thun wird. Sie hat selber nur eins; der Mann, der Tischler ist, hat sein anständiges Auskommen. Kommt nun noch das Kostgeld für das Kleine hinzu, wird's ihnen an nichts fehlen. Die Hauptsache, Fräulein, ist nun die: Was wollen Sie Ihrer Schwester monatlich geben? Denn unterstützt muss das arme Ding werden, das steht fest. Mit dem bischen Putzmachen – unter uns gesagt, ist nicht viel damit los, die Haube für Muttern sah aus wie 'ne Fledermaus – kann sie sich und das kleine Ding nicht durchbringen. Na, und auf den Vater, Fräulein, ist doch in solchen Fällen am wenigsten zu rechnen. Entweder er heiratet die Mutter seines Kindes, na, dann sind wir beide ja überflüssig, oder aber er drückt sich und dann nicht zu knapp. Lieber Gott, das kennen wir doch alles. Das ist uns doch nichts neues!«
Lena war von alledem peinlich berührt. Lotte allmonatlich eine kleine Unterstützung zu geben, darauf kam es ihr nicht an. Wenn nur die Sache nicht ruchbar wurde! Sie war gerade im Begriff, sich in ihrer gesellschaftlichen Stellung mächtig zu lancieren, Heringsdorf hatte das seine dazu gethan, mit Strehsens war sie wieder völlig ausgesöhnt, und nun kam so etwas! Das war denn doch etwas anderes als die dummen Vorurteile, die sie selbst so gern verspottete. So etwas durfte einem anständigen Mädchen nicht passieren!
Auch Lena gehörte, bis zu einem gewissen Grade, ohne dass sie sich darüber auch nur im geringsten klar gewesen wäre, zu jener in den Grossstädten weit verbreiteten Kategorie von Frauen und Mädchen, die ohne Skrupel bis an eine sehr weit gezogene moralische Grenze gehen. Darüber aber keinen Schritt. Weniger aus sittlichen Bedenken als aus kluger Berechnung. Dass dieser Moralkodex bei weitem[148] verwerflicher ist, als die sogenannte Unsittlichkeit eines Mädchens, das aus Liebe fällt, würden diese Mädchen und Frauen niemals zugeben. Niemals kann ihnen etwas Positives nachsagen. Ihr Vorleben wird dem Eingehen einer soliden Ehe, ihr nach aussen hin korrektes Eheleben der Aufrechterhaltung einer einmal geschlossenen Verbindung niemals hinderlich werden können und damit ist für sie alles gesagt. –
Frau Korn hatte eine geraume Weile auf Lena Antwort warten müssen. Nach einer langen, nachdenklichen Pause erst sagte sie: »Ich will meine Schwester gern unterstützen. Würden zehn Mark im Monat genügen?«
Frau Korn bejahte.
»Gut, ich erkläre mich dazu bereit. Ich bitte aber meine Schwester sehr nachdrücklich – wollen Sie ihr das sagen, bis ich es ihr selbst sagen kann – die ganze Angelegenheit so geheim als irgend möglich zu halten. Sorgen Sie, bitte, dafür, dass das Kind lieber heut als morgen fortkommt! In Ihrem Hause weiss man natürlich alles?«
Frau Korn schüttelte wieder einmal sehr energisch den Kopf.
»Man munkelt, aber man weiss nichts gewisses. Wir beide wohnen da oben ja gänzlich solo unterm Dach, und mein Karl, der hält reinen Mund. Ist das Kind aus dem Hause und Ihre Schwester wieder auf den Beinen, fragt kein Mensch mehr danach. Bei unser einem ist das nicht so was rares und lange hält sich keiner bei so was auf, selbst wenn er 'nen blauen Dunst davon hat, dazu haben wir alle zu viel Arbeit und Sorgen auf dem Buckel!«
Frau Korn stand auf.
»Na, dann wäre ja wohl soweit alles in Ordnung, und ich kann nun gehen. Wenn's Ihnen recht ist, kassiere ich allemal am Letzten das Geld bei Ihnen ein. Na, und heute? Wir haben freilich erst den fünfundzwanzigsten, aber es war schwere Zeit!« Auguste streckte bittend die Hand gegen Lena aus.
»Die Kleine ist zu nett. Sie werden sie schon lieb gewinnen, wenn Sie sie erst gesehen haben! Tante muss doch was für das erste Nichtchen thun!«
Lena hatte längst ihr Portemonnaie aus der Tasche gezogen. Jetzt legte sie ein Zwanzigmarkstück in Frau Korns ausgestreckte Hand.
»Die Hälfte für Lotte, die andere Hälfte für Luischen«, sagte sie mit einem halben Lächeln.
Frau Korn strich das Geld lächelnd ein.
»Das ist brav von Ihnen, Fräulein. Der liebe Gott wird's[149] Ihnen lohnen. Sie werden ihn auch schon noch 'mal nötig haben im Leben. Na, und einen Gruss an die Schwester krieg' ich doch auch noch mit? Wenn eine, so ist sie unschuldig zu dem Malheur gekommen.«
Lena lächelte jetzt über das ganze Gesicht, ohne dass sie es wollte. Die Frau gefiel ihr.
»Sie sind ein Quälgeist«, sagte sie und klopfte Auguste auf den breiten Rücken.
»Meinetwegen nehmen Sie meiner Schwester einen herzlichen Gruss mit und hier die Veilchen für das Krankenzimmer.«
Sie hatte die Veilchen von dem Tisch genommen, dessen Mitte sie geschmückt hatten. Frau Korn steckte ihre kräftig gebaute Nase hinein.
»Hm, wie das duftet! Schönen Dank, Fräulein, das können wir brauchen nach all' dem Karbol- und Krankenzimmergeruch. Na, adieu, Fräulein, und wenn Sie uns nicht vorher 'mal beehren, auf Wiedersehen am dreissigsten November.«
Lena fuhr sich ein paarmal über das heisse Gesicht, ehe sie zu den Herren hinüberging. Die da drüben durften um nichts in der Welt ahnen, um was es sich gehandelt hatte.
»Donnerwetter«, rief Bornstein, »das war ja eine endlose Sitzung. Was gab es denn?«
Lena zog eine möglichst gleichgültige Miene auf.
»Sie haben ja gehört, dass die Frau im Auftrage meiner Schwester kam. Lotte ist nicht ganz wohl –«
Kurt machte ein teilnehmendes Gesicht. Er hatte das[150] stille blasse Mädchen trotz ihrer abweisenden Haltung in Dahlow wirklich ein bischen in sein geräumiges Herz geschlossen.
»Doch nichts ernstes?« fragte er.
»Gar nicht. Ein bischen Bleichsucht. Das ist bei Lotte schon hundertmal vorgekommen.«
»Sie sah schlecht aus in der letzten Zeit«, bemerkte Bornstein.
Sollte er etwas anzügliches damit gemeint haben? Bornstein sah nicht danach aus. Es schien in der That eine ganz harmlose Bemerkung gewesen zu sein.
»Da ist es denn naturlich mit dem Geschäft nicht besonders gegangen, und wie das so kommt - –«
»Lotte hat Dich anpumpen lassen, Lena – nicht wahr?«
»Stimmt auffallend, mein Herr«, sagte sie lachend, und sich umwendend, gab sie Bornstein, der in einer Anwandlung von Zartlichkeit hinter sie getreten war, einen Nasenstüber. Dann sprang sie lebhaft auf.
»Und nun erkläre ich auch diese Sitzung für aufgehoben, meine Herren. Ich habe zu thun.«
Aber Bornstein wollte davon nichts wissen.
Er bestürmte Lena, die Arbeit für heute zu lassen und wie in früheren Zeiten einmal wieder ein Theater mit ihm zu besuchen und nachher soupieren zu gehen. Sie aber schüttelte energisch den Kopf.
»Ich hab' es wirklich besser gehabt, als Du noch Telephonistin warst«, brummte Bornstein verstimmt.
Lena war heute wieder so verführerisch pikant, dass er innerlich wütend über ihre Ablehnung war, aber er hatte es längst aufgegeben, ihr eine Scene zu machen. Sobald er sie ernsthaft über ihre Launenhaftigkeit zur Rede stellte, oder gar, heftig werdend, seine Ansprüche an sie betonte, war gar nichts mehr mit ihr aufzustellen. Sie war im stande, ihn dann wochenlang antichambrieren zu lassen und inzwischen ungeniert andere Besucher zu empfangen. Bornstein aber fürchtete nichts so sehr als eine solche Blamage.
»Na also, Kurt, kommen Sie, die Klügeren geben nach.«
Sie erhoben sich beide, steckten sich jeder noch eine Cigarette an und küssten ihr die Hand zum Abschied. Bornstein machte Anstalten, ihr noch etwas zu sagen, aber sie sah so unnahbar aus, dass er es lieber unterliess.
Lena atmete auf, als sie allein war. Es wollte heute mit dem Komödiespielen nicht recht gehen. Lottes Schicksal war ihr denn doch zu nahe gegangen. So wenig Lena auf Familienbande gab, gegen das Mitempfinden konnte sie[151] sich in diesem Falle nicht wehren, so gern sie es gethan hätte. –
Auguste sorgte, wie sie es Lena versprochen hatte, dafür, dass die Kleine noch vor Ablauf des Monats nach Schmargendorf zu ihrer Freundin kam. Die Tage waren wieder milder geworden, die kurze Fahrt mit der Dampfbahn konnte dem Kinde nichts schaden. Auch Lotte sah am Ende ein, dass es so am besten war. Das Kind war ihr noch nicht so innig ans Herz gewachsen, dass es ihr allzu viel gekostet hätte es fortzugeben. Sie wusste ja, es würde gut aufgehoben sein, sie würde, wenn sie danach verlangte, es täglich, stündlich sehen können. Ehe nicht das letzte Wort zwischen ihr und Gerhart gesprochen war, betrachtete sie die Kleine überhaupt nur als ein geliehenes Gut, über dessen endgültige Besitznahme die Entscheidung noch ausstand.
Trotzdem küsste sie das Kind zärtlich, und die Thränen traten ihr in die Augen, als sie Auguste mit dem kleinen Bündel davongehen sah. Wenn es vielleicht auch ihr ganzes Leben vernichtet hatte, es blieb doch immer ein Stück von ihm und ihr.
Lotte war erst wenige Tage ausser Bett und fühlte sich noch recht schwach, aber es ging doch rascher vorwärts als sie bei ihrer zarten Natur hatte erwarten dürfen. Auch Frau Korn war zufrieden mit den Fortschritten der Genesung, daran hielt Lotte sich. Was Auguste sagte, war jetzt ihr Evangelium. Sie konnte gar nicht daran denken, was aus ihr geworden wäre, was noch aus ihr werden würde, wenn sie die treffliche Frau Korn nicht gehabt hätte.
Sie wollte die Gute damit überraschen, dass sie sich heut zum erstenmal wieder ein wenig hübsch machte. Schon ein paarmal hatte Auguste davon gesprochen, wie froh sie sein würde, wenn Lotte erst wieder nett und adrett einherginge. Sie hatte noch von Haus her ihr Sonntagskleid, ein hübsches dunkelblaues Wollkleid, das der Trauer wegen liegen geblieben war. Das suchte sie heraus, band den weissen Kragen und die Klappstulpen darüber, die Lena sich voriges Jahr für den Weihnachtsabend bei Strehsens gekauft und ihr hinterlassen hatte und freute sich auf die Ueberraschung, die sie Auguste damit bereiten würde. Blass und schmalwangig genug sah sie noch aus, aber das würde sich bald geben. Sie hoffte nun im Umsehen wieder auf den Beinen zu sein.
Als sie eben die letzte Hand an ihre bescheidene Toilette gelegt hatte, wurde die Klingel an ihrer Stubenthür gezogen.
Frau Korn konnte doch nicht schon wieder von Schmargendorf[152] zurück sein? Auch pflegte sie nicht zu klingeln, ebensowenig der Briefbote. Blieb noch Lena übrig, deren Besuch Lotte kaum schon erwarten durfte.
An Gerhart wagte Lotte gar nicht zu denken, und vor einem Fremden scheute sie sich beinahe noch mehr als vor ihm. Mit zögernden Schritten ging sie zur Thür, die sie zaghaft nur zu einem Spalt öffnete. Sie war so ängstlich nervös geworden in dieser letzten Zeit.
Ein merkwürdiger Laut rang sich von ihren Lippen, als sie Gerhart draussen auf dem dunklen Treppenflur vor sich stehen sah. Ein Laut halb der Freude, des Vorwurfs halb, halb der Angst. Dies fühlte sie, würde die Stunde der Entscheidung sein, zugleich aber auch empfand sie mit unbeirrbarer Sicherheit, dass sie der Wucht derselben nicht gewachsen war.
Gerhart, der sich sonst ziemlich nachlässig zu tragen pflegte, war heut beinahe stutzerhaft gekleidet. Etwas seltsam Fremdes schien ihr von ihm auszugehen, noch ehe sie ein einziges Wort mit einander gewechselt hatten.
Während sie so befangen war, als ob sie eine schwere Schuld vor ihm zu verbergen hätte, trat er sehr selbstbewusst bei ihr ein und warf sich, ohne zuvor recht nach ihr hingesehen zu haben, nachlassig auf den nächstbesten Stuhl.
»Du wirst es mir hoffentlich hoch anrechnen, dass ich zu Dir komme, Lotte, nachdem Du es nicht einmal der Mühe wert gehalten hast, mir zu dem grossen Erfolg des Frühlingsdramas zu gratulieren.«
Jetzt erst, wie um seinem Vorwurf besonderen Nachdruck zu verleihen, sah er ihr, die in gedrückter Haltung vor ihm stand, voll ins Gesicht. Dann sprang er auf und fasste sie bei den Schultern.
»Ja, um Gotteswillen, was ist denn mit Dir geschehen? Hast Du Unglück gehabt?« Sie schüttelte sanft den Kopf und etwas wie ein Lächeln huschte über ihr blasses Gesicht.
»Ich weiss nicht, ob Du es ein Unglück nennst.«
Und während eine schwache Röte ihr in die Wangen und über die Stirn bis an das goldbraune Kraushaar aufstieg, fügte sie halblaut hinzu:
»Am fünfzehnten Oktober ist uns ein kleines Mädchen geboren worden.«
Er taumelte zurück als ob er einen Schlag bekommen hätte. Dann fasste er sich schnell. So roh durfte er nicht sein, ihr in diesem Augenblick weh zu thun.
Wortlos beugte er sich zu ihr nieder und küsste sie auf die Stirn.
Alles in ihr drängte dazu, ihn mit ihren Armen zu umfangen,[153] sich an seine Brust zu schmiegen, aber sie hielt sich zurück. Sie empfand es nur zu deutlich, dass der Kuss, den er ihr gegeben, nur ein Kuss der Dankbarkeit, vielleicht des Mitleids gewesen war.
Langsam liess sie sich auf den Stuhl niedersinken, den er ihr hingeschoben hatte, als er fühlte, dass sie zu wanken begann. Langsam liess er sich ihr gegenüber nieder. Was würde nun kommen? Kleines, Enges, Niedriges, Erbärmliches, das ihn aus all seinen Himmeln, in denen er seit dem Erfolg seines Dramas geschwelgt hatte, wieder zur Erde riss!
Keines von ihnen sprach ein Wort. Jeder wartete auf das, was der andere sagen würde. So still war es zwischen ihnen, dass jedes den Atem zu hören meinte, der sich aus des andern Brust rang.
Gerhart dünkte die Stille endlich unerträglich zu sein.
»Hast Du schwer gelitten?« fragte er stockend.
»Ich glaube nein. Frau Korn meinte, es sei alles in Ordnung gewesen.«
»Lebt das Kind?«
»Frau Korn hat es eben nach Schmargendorf in Kost gebracht.« Sie sagte das alles ganz mechanisch, während ihr das Herz gegen die Brust hämmerte, als ob es den ganzen zarten Körper zertrümmern wollte.
»Das ist gut«, sagte er. Dann kramte er in seinen Taschen. »Brauchst Du – hast Du – Das heisst für den Augenblick – weiss der Himmel, wo das ganze Geld wieder geblieben ist!«
Dann sah er befriedigt an sich herab.
»Ich konnte in meinem alten Zeug unmöglich länger umherlaufen bei all den festlichen Gelegenheiten, die es jetzt gab. Du glaubst nicht, Lotte, wie man mich gefeiert hat. Ich konnte gar nicht zu mir selbst kommen, sonst wäre ich schon früher bei Dir gewesen, obgleich ich eigentlich ein wenig verletzt war – jetzt freilich –«
Als er stockte, erwartete sie atemlos, was nun kommen würde. Endlich musste er doch von ihrer Zusammengehörigkeit durch dies neue enge Band, von ihrer gemeinsamen Zukunft sprechen. Aber er sprach nicht weiter, sondern nahm seinen vorigen Gedankengang wieder auf.
»Es war aber auch wirklich ein Bombenerfolg, ich darf das selbst ruhig behaupten, da alle Welt es thut. Ein Triumph nicht nur für mich allein sondern für die ganze Moderne. Unsere Partei ist überglücklich über diesen Sieg. Die alten Schönfärber, die greisen Romantiker schäumen.«
Nur um auch einmal etwas zu sagen, fragte Lotte, kaum vernehmlich, ob die Aufführung ihn befriedigt habe.[154]
Ein Leuchten ging über sein Gesicht. Aber als er ihre Augen so forschend auf sich gerichtet sah, suchte Gerhart schnell sich in seinen vorherigen Ausdruck zurückzufinden.
»Im Ganzen war alles recht gelungen«, meinte er gleichmütig.
»Und die Helga?« Während Lotte es sagte, dachte sie nur daran, dass er noch nicht einmal danach gefragt hatte, ob sie die Kleine Helga genannt habe. So entging es ihr, dass in seinem Gesicht wieder dies wundersame Leuchten aufstieg, und er sich jetzt weniger Mühe gab, es zu unterdrücken.
»O, Helga! Sie war eben Helga, das sagt alles. Ganz Liebe, ganz Hingebung, ein Frühlingsgedicht ohne gleichen.«
Er sprach nicht weiter, wenigstens nicht mit den Lippen, nur seine Augen sprachen fort, dieselbe Sprache, die sie einst gesprochen, als er um ihre Liebe geworben, als er sie dann besessen hatte.
Gerade so, mit diesem halbträumerischen, halb begehrlichen Ausdruck hatten sie geblickt, als ihre Liebe ihm das Frühlingsdrama schaffen half.
Ihre Aufgabe war beendet. Was sie begonnen, eine andere setzte es fort, bis eine dritte und vierte kom men würde, und so weiter ohne Ende. Einer jeden würde er den Laufpass geben, sobald sie seinen Zwecken nicht mehr diente, gewissenlos, erbarmungslos wie ihr. Und niemals, niemals würde er zu dem Bewusstsein dessen kommen, was er eigentlich that. Niemals würde es ihm klar werden, dass er Opfer um Opfer niedermachte, dass er über Leichen schritt, um selbst in die Höhe zu steigen. Er würde stets die Rechtfertigung sich und andern gegenüber haben, dass er gerade diese Leidenschaft zur Erreichung dieser Staffel nötig gehabt habe. Er und sie alle, die sich an dem Blutgeruch ihrer Opfer zu neuen Thaten berauschten, weil sie ohne diesen Rausch armselige Stümper sein und bleiben mussten.
Wie ein grauer, schwerer, vom Sturmwind gejagter Nebel zog diese Erkenntnis durch Lottes Seele. Nicht klar gegliedert und bewusst, mehr empfunden als gedacht, aber dennoch unabweisbar, nie wieder zu bezweifeln. Er war ihr verloren, ganz und für immer, auch für seine Pflicht an ihr und dem Kinde. Dies war das letzte. Sie wusste es, und sie ertrug es, so lange er bei ihr war.
Mit eiskalten, verschränkten Händen, bleich bis in die Lippen, sass sie da. Nur wie durch einen Nebel sah und hörte sie ihn. Alles kam ihr weit, weit entrückt vor, und sie selbst sich wie eine Gestorbene, die aus irgend einer grauen Ferne verdammt ist, Irdisches zu hören und zu sehen.[155]
Gerhart sprach fortwährend mit einem fieberhaft glücklichen Ausdruck. Er sprach von seinem Erfolge und von Helga, immer nur von ihr. Auch für ihn schien Lotte schon entrückt zu sein in eine andere entferntere Welt, er wandte sich gar nicht mehr an sie, sondern immer dem leeren Raum zu, immer mit demselben leuchtenden, verzückten Blick. Keins von beiden wusste, wie lange die Zusammenkunft gewährt hatte. Endlich, Lotte dünkte es eine unermessliche Spanne Zeit, dass er hier gesessen, stand Gerhart auf.
In dem Zwielicht, das in dem engen Raum schon herrschte, konnte er nicht sehen, wie weiss ihr Gesicht war und einen wie seltsamen Ausdruck ihre Augen hatten. Nur dass ihre Hände eisig waren, fühlte er, als er sie jetzt mit kaum merklichem Druck berührte.
»Wie Du kalt bist, Du musst besser heizen lassen. Das ist keine Temperatur für eine Rekonvalescentin. Na, leb' wohl und erhole Dich weiter so gut, und sobald ich etwas habe –«
Sie unterbrach ihn mit einer seltsam harten Stimme.
»Ich brauche nichts. Lena sorgt schon für mich.«
»Wie Du willst. Wenn ich Zeit habe, komme ich wieder herauf.«
Sie wollte auch jetzt etwas ablehnendes erwidern, aber sie brachte es nicht mehr über die Lippen.
Auf der Schwelle wandte sich Gerhart noch einmal um. Es fiel ihm ein, dass es am Ende richtig sei, ein Wort für das Kind zu hinterlassen.
»Wenn Du das Kleine besuchst, gib ihm einen Kuss von mir, Lotte.«
Sie antwortete nicht, und er wartete auch eine Antwort gar nicht ab, sondern zog hastig die Thür hinter sich zu.
Auf dem zweiten Treppenabsatz blieb er hoch aufatmend stehen. »Gott sei Dank, sie war verständiger, als ich gedacht. Sie hat kein Wort von Heiraten gesprochen. Da hat man sich wieder 'mal umsonst gesorgt.«
Und leichtfüssig sprang er den letzten Teil der steilen Treppe hinunter.
– – – – – – – – – – – – –
In den ersten Tagen des neuen Jahres kehrte Frau Wohlgebrecht nach fast einjähriger Abwesenheit nach Berlin zurück.
Wer der guten Frau vorhergesagt hätte, dass ihre freiwillig übernommene Liebessorge sie so lange von ihrem Berliner Pflichtenkreis fernhalten würde, wäre schlecht bei ihr angekommen. Niemals würde sie es für möglich gehalten haben, dass sie ihr Geschäft so lange im Stich lassen könne, insbesondere da der Schlingel von Gerhart gleichfalls fahnenflüchtig[156] geworden war. Den freilich entschuldigte der grosse Erfolg seines Frühlingsdramas, auf den Frau Wohlgebrecht, trotz all ihrer unverändert bestehenden Antipathie gegen die moderne Richtung in der Literatur, doch unbändig stolz war. Für einen so berühmten Dichter schickte es sich freilich nicht mehr, hinter dem Ladentisch zu stehen und Bücher auszuleihen. In den Gedanken hatte Frau Wohlgebrecht sich in ihrer westpreussischen Verbannung schon gefunden. Aber dass er nicht einmal in Berlin war, als sie jetzt endlich zurückkam, das ging ihr doch gegen den Strich.
Umständlich berichtete der neue Gehilfe, der seine Sache übrigens ganz ordentlich gemacht hatte und in seiner Geschäftspraxis genau so altmodisch war, wie Frau Wohlgebrecht es nur wünschen konnte, dass Herr Schmittlein schon seit Ende November fort sei. Zuerst in Leipzig, wo sein Frühlingsdrama auch ein grosser Erfolg gewesen sei.
Jetzt sei er in München, um dort die Aufführung vorzubereiten. Das Fräulein, das hier die Hauptrolle gespielt habe, sei auch mit, weil sie in München ebenfalls auftreten sollte. Von München aus, so hätte Herr Schmittlein ihm aufgetragen zu sagen, würde er an die Frau Tante ausführlich schreiben. Er würde wohl bis zum Frühjahr dort bleiben. Herr Schmittlein solle, so viel er wisse, da ein neues Theater gründen helfen. Das Theater der Intimen oder so etwas ähnliches. Er wisse es nicht genau. Nur so viel wisse er, dass es noch freier sein sollte als die freie Bühne hier.
Nun also, wenn es einmal so war, musste sie sich auch darein finden. Frau Wohlgebrecht war nicht die Frau dazu, sich über einmal feststehende Dinge noch den Kopf zu zerbrechen. Behaglich war es ja freilich nicht, jetzt, nachdem sie fast ein Jahr lang in der Familie ihrer Nichte gelebt hatte und an stete Gesellschaft gewöhnt war, hier mit Minna allein zu sitzen. Ordentlich ängstlich sah sie sich in ihrem kleinen Zimmerchen um. Das alte schwarze Rosshaarsofa kam ihr unheimlich gross vor, seit Gerhart nicht mehr in der anderen Ecke sass und mit blassem Gesicht und grossen brennenden Augen moderne Dichtungen verschlang. Lange würde sie es so nicht aushalten. Das fühlte sie schon am ersten Abend. Am besten wäre es schon, gleich ein Ende zu machen und sich Lotte herum holen zu lassen, nach der sie fast ebenso grosse Sehnsucht empfand wie nach dem treulosen Schlingel, dem Gerhart.
Als Frau Wohlgebrecht Minna den Auftrag gab, zu Fräulein Weiss zu gehen, war sie äusserst betroffen, von dem Mädchen zu hören, dass die Schwestern, die eine seit dreiviertel, die andere seit einem halben Jahre, nicht mehr in[157] der Zimmerstrasse wohnten. Weshalb hatte weder Gerhart noch Lotte ein Wort von diesen Veränderungen geschrieben?
Minna zuckte die Achseln. Sie wisse nichts genau es, aber man rede so allerhand in der Nachbarschaft. Dem Fräulein Lottchen solle es nicht zum besten gehen. Sie habe fast nichts mehr verdient, habe all ihre Sachen verkaufen müssen und sei in eine Dachwohnung weit raus nach Schöneberg gezogen. Jetzt hätte sie schon seit Monaten nichts mehr von ihr gehört. Dem anderen Fräulein ginge es aber dafür desto besser. Die hätte einen Blumenladen in der Potsdamerstrasse und solle ein feines Geschäft machen. Wie das so gekommen sei, könne sie auch nicht sagen. Die Köchin von den Wirtsleuten, bei denen die Fräuleins nebenan gewohnt hätten, würde die Adresse von dem Fräulein wohl kennen – Frau Wohlgebrecht wisse schon, die immer die Bücher austauschen käme – die Jette mit den dicken roten Armen.
Minnas ziemlich teilnahmloser Bericht traf die gutmütige Frau bis ins Herz. So schlecht erging es dem armen Kinde und sie hatte nichts davon erfahren, hatte nicht raten, nicht helfen können! Wie rasch mochte es da bergab gegangen sein! Als sie vor nun einem Jahr, kurz vor ihrer unerwartet schnellen Abreise nach Westpreussen, mit Lottchen über den Stand ihrer Angelegenheiten gesprochen, hatte es zwar nicht zum besten gestanden, aber von wirklicher Not, von bitterem Elend war doch noch nicht die Rede gewesen. Armes, armes, kleines, verlassenes Ding! Das würde sie dem Gerhart nie verzeihen, dass er sie dar über im unklaren gelassen hatte. Gleich morgen mit dem frühesten wollte sie hinaus und nach Lotte sehen, und wenn's notthat, sie gleich mit sich nehmen. Gerharts Zimmer und Bett war ja frei, und sie brauchte jemand, für den sie sorgen, den sie hegen und pflegen konnte.
Sie schickte Minna sofort zu der Köchin mit den dicken roten Armen herum und liess Lottes Adresse holen.
Das Fräulein soll Monate lang schwer krank gewesen sein, brachte das Mädchen mit dem Bescheid zurück.
Auch das noch, Armut und schwere Krankheit!
Ganz früh machte Frau Wohlgebrecht sich auf, um die weite Reise nach dem Westen anzutreten. Erst aber kaufte sie noch allerhand gute Sachen ein, wie sie sich für eine Rekonvalescentin schicken. Sie wollte ihr Lottchen schon wieder gesund päppeln. Gott weiss, ob der Wurm nicht vor purem Hunger krank geworden war!
Nicht ohne Anstrengung keuchte Frau Wohlgebrecht die vier steilen Treppen, die eigentlich fünf waren, bis unter[158] das Dach zu Lottes kleiner Wohnung hinauf. Auf den engen, dunklen Treppenflur mündeten zwei Thüren. Die linker Hand trug auf einem aufgeklebten Zettel die Aufschrift: Korn, Schlosser, die andere Lottchens wohlbekanntes weisses Thürschild mit den grossen schwarzen Buchstaben: Charlotte Weiss, Putzmacherin.
Als Frau Wohlgebrecht die Klingel zog, trat ihr eine grosse robuste Person entgegen. Fast schüchtern brachte die kleine Frau ihr Anliegen, Fräulein Weiss zu sprechen, vor.
Die grosse Starkknochige schien trotz ihres gutmütigen Gesichts anfangs davon nicht viel wissen zu wollen. Erst als Frau Wohlgebrecht ihren Namen nannte, zog sie eine willfährigere Miene auf.
»Sie sind die Frau Wohlgebrecht aus der Zimmerstrasse – das ist was anderes. Na, dann treten Sie man näher.« Und leise fügte sie hinzu:
»Aber wundern Sie sich über nichts, und machen Sie keine Bemerkung über Lottchens Aussehen. Das arme Ding ist sehr krank gewesen, von Ende Oktober bis Weihnachten. Sie hat Nervenfieber gehabt, wir haben alle geglaubt, es sei aus mit ihr. Na, nun ist sie ja aber wieder gesund geworden, nur noch ein bischen schwach, das kommt wohl, weil sie noch gar nicht an der Luft gewesen ist.«
Frau Wohlgebrecht stellte ihren Kober bei Seite, wischte sich die Augen und trat dann durch das erste ärmliche, aber sauber aufgeräumte Zimmer in die Küche, in der Lotte in einem alten Lehnstuhl sass. Die Küche war der am leichtesten zu erwärmende Raum.
Es war gut, dass die Schlossersfrau es Frau Wohlgebrecht zur Pflicht gemacht hatte, sich über nichts zu wundern und keine Bemerkung zu machen, sie hätte sonst schwerlich ihre Erregung über die Veränderung zurückgehalten, die mit Lotte vorgegangen war.
Sie küsste die schwach Errötende nur, streichelte ihr die Wangen und fragte mit heiserer Stimme, weil ihr die dicken Thränen, die sie nicht weinen durfte, in der Kehle sassen:
»Na, mein Schäfchen, wie geht es denn? Ich höre, Sie sind so krank gewesen? Wie ist das denn so gekommen, mein armes Kind?«
Lotte liefen die Thränen über die eingefallenen Backen und während sie Frau Wohlgebrechts Hand fest umschlossen hielt, bat sie:
»Ach, fragen Sie gar nicht danach, liebe Frau Wohlgebrecht. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Das sollen Sie ja auch nicht, Kindchen, wenn Sie[159] nicht wollen. Wie so was kommt, ist ja auch Nebensache. Das war eine ganz dumme Frage von mir. Die Hauptsache ist, dass Sie rasch gesund werden. Passen Sie 'mal auf, ich habe Ihnen was mitgebracht, das Ihnen gut thun wird.«
Geschäftig lief die kleine rundliche Frau in das Zimmer nebenan und holte ihren Kober.
»Sehen Sie 'mal hier, Lottchen, das ist was für Sie!« Und sie entkorkte eine Flasche Tokayer. »Und da guter roher Schinken, fein gewiegt, den dürfen Sie doch gewiss essen? Und ein paar frische Eier und ein bischen Eingemachtes. Und morgen mach' ich Ihnen ein kleines Wein- oder Hühnergelée, was Sie lieber wollen. Lassen Sie die Wohlgebrecht man machen, die hat schon ganz andere Kranke auf den Damm gebracht. So, sehen Sie, wie Ihnen der Schluck schon gut gethan hat. Meine Nichte hätten Sie sehen sollen. Keinen Dreier hätte man für ihr Leben gegeben, nachdem ihr das Malheur passiert war. Und jetzt? Wie der Deibel wirtschaftet die kleine Frau wieder im Hause herum. Wäre nicht Weihnachten dazwischen gekommen, sie hätte mich längst nach Hause geschickt. Seit vier Wochen schon besorgt sie ihre Wirtschaft und ihren Mann wieder allein. Nur zum Luxus haben sie mich über Weihnachten noch dabehalten. Aber Sie arbeiten doch nicht etwa schon wieder, Lottchen?« unterbrach sie sich, nach einem Nähkörbchen neben Lottes Armstuhl greifend.
»Ein Kinderhemdchen! Sieh, sieh, lieber Gott, das hätte meine kleine Nichte nicht sehen dürfen. Das hätte gleich Thränen gegeben. Haben Sie sich jetzt auch aufs Kinderzeugnähen geworfen? Ganz vernünftig, das bringt oft mehr ein, als die Putzmacherei. Aber was haben Sie denn Lottchen? Das ist doch kein Grund zum Weinen. Na, na, na, wie kann man so nervös sein! Da, trinken Sie noch 'nen ordentlichen Schluck. Sehen Sie, so, so, es wird schon besser. Und nun will ich gehen. Ich sehe, Besuch greift Sie noch an. Morgen komme ich wieder und bis dahin müssen Sie sich schon ein bischen 'rausgefüttert haben. Dann bringe ich Ihnen das Gelée, und sobald es der Doktor erlaubt und ein schöner Tag ist, fahren wir zusammen spazieren. Nach dem Grunewald oder so. Sie wohnen ja hier schon beinahe auf dem Lande, da haben wir's nicht allzuweit. Und noch ein paar Tage weiter, nehme ich Sie zu mir herein und pflege Sie gründlich aus. Nein, nein, da giebts keinen Widerspruch. Ich habe ja Platz dazu und Zeit mehr als genug.«
Sie küsste Lottchen, ergriff ihren Kober und trippelte eilends davon.
Frau Korn hatte sie fortgehen hören. Sobald sie Lotte[160] allein wusste, ging sie wieder hinüber. Gott weiss, wie nötig sie da wieder war! Wenn's das Unglück wollte, hatte die Frau in ihrer Arglosigkeit von dem Schwarzkopf gesprochen.
Richtig fand sie Lotte in Thränen aufgelöst.
»Na, na, Lottchen. Sie haben's ihr wohl gesagt? Hm?«
Lotte schüttelte den Kopf und weinte weiter.
»Das hätten Sie ruhig thun sollen. Die hätte Ihnen den Kopf deswegen nicht abgerissen. Die sieht ja aus, wie die Güte selbst. Ei und was für feine Sachen! Die können wir gerade brauchen, um schneller gesund zu werden und endlich zu unserem Luischen herauszukommen. 'n süsser Balg ist das Gör. Ich kann's gar nicht mehr erwarten, bis Sie's zu sehen kriegen. Wenn Sie mir blos sagen wollten, was es eigentlich zu weinen gibt, Lottchen?«
Lotte trocknete ihre Thränen.
»Ach, liebe Frau Korn, es ist nur – ich weiss nicht, ob Sie mich verstehen werden – sehen Sie, wenn jemand so gut zu einem ist, wie Frau Wohlgebrecht – und man muss ihn dann belügen für all' seine Güte, – das ist zu schrecklich, Frau Korn.«
»Warum soll ich das nicht verstehen? Ich würde die Frau auch nicht belügen. Der sagte ich die Wahrheit gerade heraus. Lieber heute wie morgen.«
»Sie würde es mir nie vergeben, nie wieder freundlich mit mir sein –«
»Das wollen wir abwarten.«
»Und dann – ich – ich kann ihn doch nicht beschuldigen, gerade ihr gegenüber nicht. Sie liebt ihn so und ist so stolz auf ihn.«
»Auch was rares, um drauf stolz zu sein«, brummelte Frau Korn vor sich hin. Aber sie kam vorerst nicht wieder darauf zurück. So grosse Eile hatte das Geständnis ja am Ende nicht. Viel wichtiger war es, dass Lotte nun endlich ganz gesund wurde.
An Frau Wohlgebrecht lag es jedenfalls nicht, wenn Lottes Genesung einstweilen noch nicht die gewünschten Fortschritte machte. Sie hegte und pflegte Lotte, wie man ein eigenes Kind nicht besser hätte hegen und pflegen können. Ganz wunderbar war es, wie die grenzenlose Güte dieser kinderlosen Frau die feinsten Mutterinstinkte in ihr ersetzte. Sie las in Lottes Herzen wie nur eine Mutter im Herzen eines geliebten Kindes liest. So hatte sie auch bald mit unbeirrbarer Sicherheit herausgefunden, dass Lottes Krankheit sowohl, wie ihre gesamten herabgekommenen Verhältnisse, weit mehr im Seelischen als im Körperlichen ihren Ursprung[161] hatten, weit mehr durch innere, denn durch äussere Gründe veranlasst waren, und lange brauchte sie nicht zu suchen, um sich vollständig klar darüber zu sein, dass ihr Neffe zum mindesten nicht schuldlos an diesem Schiffbruch des lieben Madchens war. Wenn dies überhaupt noch möglich gewesen wäre, hätte sie ihre Güte verdoppeln mögen, um wieder gut an ihr zu machen, was Gerhart schlecht gemacht. Wie das alles zusammenhing, wie und woraus sich die augen-blicklichen Verhaltnisse entwickelt hatten, wie weit es mit den beiden gekommen war, danach forschte sie nicht. Es genügte ihr, dass Lotte krank und unglücklich war, um sich ganz auf die Seite des Mädchens zu stellen. Wenn sie das liebe Geschöpf nur erst heraus gehabt hätte aus diesen vier armseligen Wänden! Aber davon wollte das eigensinnige kleine Ding ja nichts wissen, nicht um die Welt. Nun, wenn sie erst gesund sein wurde und einen kleinen Puff vertragen konnte, wurde man ein Wort deutsch mit ihr reden. Hier durfte sie in keinem Falle bleiben.
Von Gerhart sprachen die Beiden während ihrer häufigen Zusammenkünfte niemals ein Wort. Ein einziges Mal hatte Frau Wohlgebrecht von ihm angefangen. Vielleicht dass Lottchen sich danach sehnte, dass es ihr gut that. Aber als sie sich erbleichend abgewandt und sich mit einer ganz gleichgültigen Sache zu thun gemacht hatte, hatte Frau Wohlgebrecht sich's zugeschworen, das Gespräch nie wieder auf ihren Neffen zu bringen. Dass er der allein Schuldige sei, stand seit dieser Stunde bei ihr fest. Niemand hätte es vermocht, sie davon abzubringen.
Um Ende Januar – Lotte hatte, wie Frau Wohlgebrecht nachträglich erfuhr, am Vormittag ihre erste Ausfahrt mit Frau Korn gemacht – traf Frau Wohlgebrecht bei einem ihrer häufigen Besuche Lena oben bei Lotte an. Sie freute sich, dass die Schwestern trotz der veränderten Lebensverhältnisse beider noch so herzlich zu einander hielten, ja es kam Frau Wohlgebrecht so vor, als ob das heut eigentlich mehr denn sonst der Fall sei.
Sie überraschte sie nämlich in einer scheinbar sehr intimen Unterhaltung, die die Schwestern stockend und errötend unterbrachen, als sie ins Zimmer trat. Gehört hatte sie von dem, was gesprochen worden war, nichts weiter als den warmen Ausdruck Lottes: »Du glaubst es nicht, Lena, wie lieb es ist!«
Frau Wohlgebrechts gutmütiger Takt half den beiden ziemlich schnell, ihre Fassung zu gewinnen. Um das Gespräch rasch in Fluss zu bringen, that denn auch Lena[162] das ihre, und erzählte Frau Wohlgebrecht, die sie seit jenem Dezemberabend nicht wieder gesehen, als sie Lotte zum Weihnachtsfest einzuladen kam, dass ihnen beiden eine grosse Freude bevorstehe. Sie würden endlich einmal jemand aus der Heimat wiedersehen!
Ob der Vater auf Besuch käme? erkundigte sich teilnehmend Frau Wohlgebrecht.
Lena lachte hell auf bei dem Gedanken.
»Vater und eine Reise machen. Da kennen Sie unseren Alten schlecht. Der wird aus Karstens warmer Stube gehen und seine Pfeife und seinen Korn auch nur auf ein paar Stunden entbehren! Nein, Vater geht nicht aus seiner Ofenecke 'raus, der macht keine Reise. Wir erwarten einen Jugendfreund, der sein Geschäft zu Hause verkauft hat und, da er zu Vermögen gekommen ist, sich hier etablieren will. Er kommt in vierzehn Tagen bis drei Wochen, um ein Geschäftslokal zu suchen. Sorgen Sie nur, Frau Wohlgebrecht«, fügte Lena neckend hinzu, »dass Lotte bis dahin ganz mobil ist. Er ist ein grosser Verehrer von ihr.«
Lotte wurde rot.
»Ach, lass doch, Lena, wie kannst Du so etwas sagen.«
Frau Wohlgebrecht aber klopfte die Unwillige wohlgefällig auf die Schulter.
»Warum soll Ihre Schwester so was nicht sagen? Sie hat ganz recht. Ganz mobil wollen wir werden bis dahin, und dann, wer weiss?«
Frau Wohlgebrecht sah Lena schmunzelnd an. Dabei fiel es ihr auf, dass Lena, die sonst den Vergleich mit Lottes sanfter, poetischer Schönheit nicht ausgehalten hatte, jetzt die bei weitem Hübschere von ihnen war.
»Zum Fressen nett sieht die Kröte aus«, dachte Frau Wohlgebrecht. »Die weiss, was sie will. Kein Wunder, dass die ihren Weg gemacht hat.«
Das Mädchen, das sie früher nicht hatte leiden können, flösste Frau Wohlgebrecht jetzt plötzlich Interesse ein. Es war doch alles mögliche, was diese Lena erreicht hatte, und eine gute Portion Fleiss und Tüchtigkeit gehörte bei allem Glück dazu, es so weit zu bringen.
Frau Wohlgebrecht fragte nach diesem und jenem, und Lena machte es ein ungeheures Vergnügen, von den wirklich hübschen materiellen Erfolgen, die sie in dieser Saison schon erzielt hatte, zu erzählen.
Lena berichtete über ihre schöne Kundschaft aus den besten Gesellschaftskreisen, rechnete Frau Wohlgebrecht in[163] grossen Zügen ihre Aktiva und Passiva vor und versicherte sie, dass es der glücklichste Tag ihres Lebens sein würde, wenn sie das Kapital, das Herr Bornstein – sie nannte ihn ganz ungeniert als ihren Geldgeber – ihr für die Geschäftsbegründung vorgestreckt habe, einstmals würde herauszahlen können. Es dem Vertrag gemäss zu verzinsen, dazu habe es ja gottlob bisher immer ausgereicht, fügte sie am Ende hinzu.
Frau Wohlgebrecht empfahl sich heut unter dem Vorwande, noch Geschäftswege machen zu müssen, früher als sonst. Sie hatte das Gefühl, dass die beiden Mädchen sich noch manches zu sagen hätten, was keinen Dritten etwas anginge. Vielleicht handelte es sich um Lotte und den Jugendfreund. Was würde sie darum geben, wenn das Kind in diesem Manne Glück und Frieden finden könnte! –
Sobald die Thür sich hinter Frau Wohlgebrecht geschlossen hatte, fing Lotte genau da wieder an, wo sie bei ihrem Eintritt aufgehört hatte. Mit demselben Eifer, mit derselben warmen Freudigkeit.
»Du glaubst nicht, Lena, wie lieb es ist. So rund und niedlich, und so reizende blaue Augen wie es hat, und wenn es erst lacht gar! Lange lass' ich's der Frau da draussen nicht, wenn sie es auch noch so gut pflegt.«
»Um Gotteswillen, Lotte, mach nur keinen Unsinn wieder. Bis jetzt ist alles so hübsch glatt gegangen. Du wirst doch Luischen nicht etwa zu Dir nehmen wollen? Dann wäre der Skandal fertig.«
Lotte schüttelte den Kopf.
»Nein, aber ich will zu Luischen gehen, irgend wohin, wo es hübsch still und einsam ist und niemand uns kennt und niemand nach uns fragt.« Dabei erinnerte sie sich plötzlich des Häuschens und des Blumengartens, von dem Gerhart am Tage ihres Geständnisses im Wald am Müggelsee zu ihr gesprochen hatte. Etwas heisses stieg ihr in den Augen auf. Aber sie unterdrückte es schnell. Nur keine Erinnerungen, keine neue Schwäche! Ihre ganze Kraft brauchte sie jetzt für das liebe kleine Geschöpf da draussen, das niemanden hatte als sie auf der Welt. Ihm wollte und musste sie fortan gehören, niemandem sonst.
Lena hatte sich inzwischen heftig ereifert. »Was das für phantastische Gedanken sind, Lotte! Du solltest doch nun endlich klug geworden sein! Sich mit dem Kinde irgendwo vergraben, das wäre das rechte! Verhungern kannst Du dabei und das Wurm dazu. Hier bleibst Du, wo Du Dein bischen Arbeit endlich gefunden hast, und[164] Frau Korn ist und Frau Wohlgebrecht und ich und später der Franz. Wir werden Dich schon durchbringen, und das Kind mit Dir. Bleib' mir blos mit den sentimentalen Geschichten vom Leibe. Du hast ja doch gesehen, was dabei herauskommt.«
Lotte erwiderte nichts, aber in ihrer stillen Art dachte sie sich ihr Teil. Allzumächtig hatte sich heute die Mutterliebe in ihr geregt, als sie das kleine Geschöpf zum erstenmal wieder im Arm gehalten, zum erstenmal wieder gewartet hatte. Die Mutterliebe und die Eifersucht, die Niemandem ihr Kleinod gönnt als sich selbst. –
Der Winter liess sich im ganzen so milde an, dass Lotte trotz ihrer noch immer sehr zarten Gesundheit es wagen durfte, ihrem Herzen zu folgen und jede Woche ein paarmal nach Schmargendorf hinauszufahren. Sie hatte sogar durch Vermittlung von Luischens Pflegemama draussen etwas Kundschaft bekommen, so dass sie sich nicht allzuviel Skrupel über den Zeitaufwand zu machen brauchte, den die Besuche bei Luischen ihr kosteten.
Heute, an einem fast frühlingswarmen Tage zu Ende Februar hatte sie die kurze Stunde draussen doppelt genossen. Wohlverwahrt hatte sie die Kleine in das sonnige Gärtchen der Tischlersleute hinausgetragen. Unter den kahlen Fliederbüschen, die nun bald Knospen ansetzen würden, um die bescheidenen Beete, auf denen noch die verfaulten Stauden der Herbstblumen standen, die nun bald den ersten Schneeglöckchen und Veilchen würden Platz machen müssen, war sie mit ihr umhergegangen. Das war eine Lust gewesen! Ganz allein mit ihrem Herzensschatz, unter Gottes reinem, blauen Himmel! Niemand, der, wie in dem engen Zimmer der Tischlersleute, ihre Liebkosungen beobachtete, niemand, dem die Hälfte von Luischens Lächeln gehörte, niemand, der mit ihr des Kindes Thränen trocknete. In leidenschaftlicher Lust hatte sie das Kind an die Brust gepresst und zum Dank hatte Luischen sie angelächelt mit ihren blauen, sonnigen Augen, und ihre kleinen rosigen Lippen hatten süsse, unverständliche Laute gelallt. Lotte aber hatte das Lächeln und das Lallen zu verstehen geglaubt. Es hiess ihr: was brauchen wir andere, Du und ich, wenn wir nur uns haben!
Mit einer stillen Sicherheit, mit einem ruhigen Glücksgefühl, wie sie es seit Jahren nicht gekannt, nie mehr, seit sich das Mutterauge ihr geschlossen hatte, war sie heute von ihrem Kinde fortgegangen. Was sie in Liebe und Zorn für Gerhart empfunden, war ausgelöscht in ihr. Sie hatte[165] nur noch ein Gefühl für ihn, das der Dankbarkeit, dass er ihr dies Kleinod geschenkt, und dass er kein Verlangen danach trug, es mit ihr zu teilen. Unbewusst gab sie in ihrem tiefsten Herzen Frau Korn zum erstenmale recht, dass es unter Umständen besser sei, solch ein Kindchen vaterlos für sich zu besitzen, als eine Ehe zu erzwingen, deren Schicksale vielleicht schwerer zu ertragen waren, als ein zweifelhaftes Ansehen vor der Welt.
Als Lotte so, noch im vollen Mittagssonnenschein, in gehobener Stimmung nach Haus zurückkam, froh und frei wie seit langen Monaten nicht, fand sie einen Gast auf ihrem Zimmer. Franz Krieger war angekommen.
Zuerst befiel sie wieder ein zager Schrecken, als sie den Freund so unerwartet vor sich sah. Aber die Stunde mit ihrem Kinde hatte ihr eine wundersam nachwirkende Kraft verliehen.
Niemals hätte Lotte es für möglich gehalten, dass sie dem Freunde so ruhig und gefasst würde entgegentreten können, als sie es nach einer kurz aufwallenden, Franz kaum bemerkbaren Bewegung über sich gewann. Wie hatte sie gezittert vor diesem Augenblick des Wiedersehens und mit wieviel selbstverständlicher Natürlichkeit vollzog er sich nun!
Franz hatte sich sehr verändert. Das Tastende, Unsichere, das ihn Lotte gegenüber stets befallen, das ihn oft fast knabenhaft hatte erscheinen lassen, war einer selbstsicheren Männlichkeit gewichen, und so sehr sich ihm bei Lottes Anblick, bei der Betrachtung ihrer dürftigen Umgebung das Herz zusammenkrampfte, er verriet sich nicht und bewahrte seine Haltung.
Er war mit dem festen Vorsatz nach Berlin gekommen, dies Mädchen, das er seit seinen Knabenjahren mit unveränderter Treue liebte, sich zu gewinnen. Nicht nur seine grosse Neigung zu Lotte, auch alle äusseren Verhältnisse sprachen für eine baldige Ehe. Er war unverhofft schnell zu einem ansehnlichen Besitztum gelangt. Sein Haus verlangte nach einer Hausfrau, ihn selbst, bei der starken Inanspruchnahme, die eine ausgedehnte Geschäftsführung mit sich bringt, nach einem traulichen Herd, an dem sich's ausruhen liess von des Tages Mühen. Wenn er dies Ziel erreichen wollte, musste er Schritt für Schritt vorgehen. Lotte war keine Natur, die sich im Sturm erobern liess. Er durfte sich nicht verraten, sich keine Blösse geben, wie früher so oft, wenn seine Hoffnung sich erfüllen sollte. Sie durfte in ihm nur den Freund, nicht den Bewerber sehen, wollte er sie nicht vorzeitig einschüchtern.[166]
Schwerer als er es vermutet hatte, wurde ihm diese selbst auferlegte Zurückhaltung. Hätte er Lotte wiedergefunden, wie er sie wiederzufinden geglaubt, in einer kleinen aber gesicherten Stellung, gesund und zufrieden in der selbstgewählten Lebenslage, es würde ihm nicht so sauer angekommen sein, seine tiefe Zärtlichkeit für sie zurückzuhalten. So aber, wie er sie fand, zart und schwach nach langer Krankheit, die Heiterkeit, die sie zur Schau trug, auf den ersten Blick ein Ergebnis der Resignation, oder schlimmer noch, eine gut gespielte Komödie, dazu die äussere Not, die ihn aus allen Ecken und Enden angrinste, musste er an sich halten, um sie nicht in seine Arme zu schliessen und ihr mit aller Innigkeit, die er für sie im Herzen barg, zu sagen: »Komm mit mir. Ich will Dich gesund machen und stark. Ich will Dir Ruhe und Behagen geben. Du sollst bei mir wohl geborgen sein, armes, verflogenes Vögelchen Du.«
Trotzdem bewahrte er seine Ruhe; er erzählte ihr von den Absichten, die er für seine Geschäftsbegründung in Berlin habe, von der Heimat, vom Vater, von den Gräbern ihrer und seiner Mutter. Sie hörte ihm zu mit ihrem sanften, stillen Blick, der zuweilen etwas fremdes annahm, das ihn beunruhigte, weil er es nicht enträtseln konnte.
Von sich selbst sprach Lotte so gut wie gar nicht. Nur von Lena erzählte sie, wie weit sie's gebracht in Berlin, und wie stolz sie sein würde, ihm alles zu zeigen, was sie erreicht, gerade weil er an ihrem Fortkommen so starke Zweifel gehegt hatte. Sie hatte dabei ihr liebes Lächeln um den feinen Mund, das er hätte festküssen mögen für alle Zeiten.
Von Lena sprach sie so viel, dass es am Ende etwas krankhaft Gewolltes bekam. Sie lobte die Schwester unausgesetzt über Gebühr und setzte sich selbst wie mit absichtlichem Nachdruck immer mehr hintenan.
Aber Franz wollte sie nicht verstehen. Sein Herz rebellierte dagegen. Je mehr sie Lenas Geschäft und ihre Häuslichkeit herausstrich, desto mehr lobte er alles, was sie selbst umgab: die hübsche freie Aussicht, das ruhige Zimmerchen, das man so still nur unter dem Dach haben könne, die gute Luft hier draussen, die Blumen vor den schmalen Fensterchen. Am Ende gelang ihm, was er gewollt, ihr den Eindruck zu geben, dass nichts bei ihr ihn enttäuscht und gewundert habe. Dass er so, wie er sie gefunden, gehofft habe, sie wiederzufinden.
Eine Last fiel ihr von der Seele. Gottlob, sein Mitleid blieb ihr erspart, das Mitleid für ihre selbstverschuldete[167] armselige Lage, das ihr am wehesten gethan hätte von ihm, gegen dessen schweigende Bewunderung sie sich jahrelang kindisch trotzig aufgelehnt hatte.
Der sonnige Tag hielt sich auf seiner Höhe.
Franz schlug Lotte vor, eine Spazierfahrt mit ihm zu machen; heute müsse sie aus alter Freundschaft schon einmal Feiertag ansetzen und die Kunden warten lassen. Dann wollten sie zusammen essen und am späten Nachmittag, es war inzwischen schon zwei Uhr geworden, zusammen zu Lena gehen.
Nach kurzem Besinnen willigte Lotte ein. Nach der sonnigen Stunde im Garten zu Schmargendorf war ihr selbst heute so festtäglich zu Mute, dass sie nicht das Herz hatte, die Dinge mit dem ihr gewohnten engen Massstab zu messen. Und dann, was sie von dem Wiedersehen mit Franz am meisten gefürchtet, war augenscheinlich nicht mehr der Fall. Franz liebte sie nicht mehr; er hatte den Gedanken sie zu besitzen, aufgegeben. Sie that kein Unrecht, wenn sie freundschaftlich annahm, was freundschaftlich geboten schien. Jetzt, da sie selbst die Liebe mit all ihren Wonnen und Qualen, all ihren Höhen und grauenvollen Abgründen kannte, hätte sie es weniger denn je übers Herz gebracht, Hoffnungen zu erwecken, nur um sie dann wieder vernichten zu müssen.
Ein paar herzliche Stunden verbrachten sie mit einander. Dann trennten sie sich. Lotte war nicht zu bewegen, mit Franz zu Lena zu gehen. Sie schützte notwendige Arbeit vor. Im Grunde war es ein anderes, was sie trieb, etwas, das, nachdem sie Franz wiedergesehen, ihr weit schwerer wurde, als sie es irgend vorausgesehen hatte.
Franz und Lena sollten allein sein bei diesem ersten Wiedersehen. Lena hatte Franz immer besonders gern gehabt. Sie war es ja auch gewesen, die auf seine Uebersiedelung nach Berlin gedrungen hatte. Welch' ein Glück für Lena, wenn Franz, da er sie ja nicht mehr liebte, Lena sein braves, ehrliches Herz zuwendete. Die Schwester würde nicht immer allein bleiben wollen. Gäste, selbst Hausfreunde ersetzen die Familie auf die Dauer nicht. Und diese Hausfreunde! Lotte wollte ganz und gar nichts mehr von ihnen wissen seit jenem Abend in Dahlow, wo Leutnant Kurt ihr so dreist zu nahe getreten war. Sollte Bornstein aus so ganz anderem Holz geschnitten sein? Schwerlich! Arme Lena! Nein, sie sollte nicht auch geopfert werden. Eines braven Mannes glückliche Frau sollte sie werden, und was Lotte dazu thun konnte, sollte gewiss geschehen.
So ging Franz allein nach der Potsdamerstrasse. Ungern[168] genug. Nachdem er Abschied von Lotte genommen und ein Wiedersehen für den kommenden Tag verabredet hatte, sah er ihr mit brennenden Augen nach. Wie sie so durch den leichten, lichtdurchschimmerten Nebel von ihm fortschritt, war es ihm, als ob sein Glück von ihm ginge, weiter, immer weiter, in eine nebelhafte ungewisse Ferne hinaus.
Er musste sich einen ordentlichen Ruck geben, um Lena wirklich aufzusuchen. Wenn er es Lotte nicht versprochen gehabt hätte, würde er den Weg nach dem Blumengeschäft sicherlich nicht gefunden haben. Er hätte viel darum gegeben, da er mit Lotte nicht sein durfte, wenigstens allein zu bleiben.
Am Ende aber erwies sich der Besuch bei Lena als eine angenehme Enttäuschung. Franz hätte nicht selbst ein so vortrefflicher Geschäftsmann sein müssen, um an dem Aufblühen von Lenas Unternehmen nicht seine helle Freude haben zu sollen. Ueberdies imponierte ihm, wie Lena es ja nicht anders erwartet hatte, der äussere Apparat gewaltig. Das war in der That grossstädtischer Zuschnitt. Laden, Wohnraum und nicht zuletzt Lena selbst in ihrem dunkelroten, mit schwarzem Pelzwerk besetzten, eng anschliessenden Kostüm. Alle Wetter, hier konnte man lernen, wie es gemacht wurde, um in Berlin in die Höhe zu kommen.
Ganz klein geworden, bat er Lena sein Misstrauen gegen ihre Fähigkeiten ab. Sie lachte und vergab ihm grossmütig. Es machte ihr ein ungeheures Vergnügen, dass auch dies wieder ganz so gekommen war, wie sie es gewünscht und vorausgesehen hatte. Ihre Laune war prächtig, und sie wünschte nur, dass weder Bornstein noch Kurt noch irgend einer ihrer andern Stammgäste kommen möchten, um ihr tête-à-tête mit Franz zu stören! Nachdem er alles eingehend besichtigt hatte, bat Lena den Jugendfreund in ihr türkisches Boudoir zu einer Tasse Thee und einer Cigarette. Sie selbst hütete sich, eine anzuzünden. Sie war viel zu klug, um den ausgezeichneten Eindruck zu zerstören, den sie ersichtlich auf Franz gemacht hatte. »Trotz seiner Liebe zu Lotte«, fügte sie triumphierend hinzu. Franz Krieger war immer ein Faktor gewesen, mit dem Lena gerechnet hatte. Sie hatte stets eine kleine Schwäche für ihn gehabt. Vielleicht nur aus dem Grunde, weil er im Gegensatz zu allen übrigen Menschen sich nur um Lotte und nicht im geringsten um sie gekümmert hatte. Wäre Franz nicht zu Selbständigkeit und Vermögen gekommen, sie würde diese Schwäche zweifellos unterdrückt haben. Jetzt sah sie keinen Grund mehr[169] dafür ein. Die letzte Nummer in ihrem Programm war eine Ehe als gute Versorgung, mit vollständiger Wahrung ihrer persönlichen Rechte und Freiheiten. Schon am ersten Abend des Wiedersehens zweifelte sie nicht mehr daran, dass Franz Krieger der Mann dazu geworden sei, den man für diese letzte Programmnummer in Betracht ziehen könne.
Seine Liebe zu Lotte würde ihr dabei nicht dauernd im Wege sein. Wie die Dinge bei Lotte lagen, würde sie nie daran denken. Franz Krieger zu heiraten. Für sie selbst freilich wäre die Affaire Gerhart Schmittlein, falls sie überhaupt im stande gewesen wäre, jemals eine solche Dummheit zu begehen, kein Hinderungsgrund gewesen; Lotte dagegen würde nach allem Vorhergegangenen sich niemals zu diesem Schritt entschliessen können. Fortgesetzt ohne Aussicht auf Erfolg zu werben, ist nicht Mannessache. Franz würde von dieser Regel schwerlich eine Ausnahme machen.
Dem starken russischen Thee waren appetitlich hergerichtete Brötchen. Bier und Cognac gefolgt. Der Laden war längst geschlossen. Zehn Uhr war vorüber, als Franz sich endlich zum Fortgehen rüstete. Wie im Fluge waren ihm die Stunden vergangen. Wie war es nur möglich gewesen, dass die kleine Zauberin ihn so lange festgehalten hatte! Träumte er, oder war die junge weltsichere Dame, der er jetzt in einer Anwandlung von Zärtlichkeit, wärmer als notwendig gewesen wäre, zum Abschied die Hand küsste, wirklich Lena, das kleine, schninnische, selbstsüchtige, launenhafte Geschöpf, das er nie hatte leiden mögen, weil es ihm bei Lotte stets im Wege gewesen war?
Draussen in der kalten Nachtluft erst wurde er wieder Herr seiner aufgeregten Sinne. Die schwüle Luft in dem kleinen blumendurchdufteten Gemach, der starke Thee und der alte Cognac, die schweren türkischen Cigaretten mussten ihn völlig umnebelt haben, dass er in Lena ein so begehrenswertes Geschöpf gesehen hatte. Er machte eine heftige Bewegung, als wenn er etwas abschütteln wollte, was nicht zu ihm gehörte. Es gelang ihm nur zum Teil. Der feine Duft, der Lenas Kleidern entströmte, der eigentümlich lockende Blick ihrer schwarzen Augen, der Druck ihrer feinen weissen Hand, die er länger in der seinen gehalten hatte, als es sich mit einer blossen Jugendfreundschaft vertrug, liess etwas durch seine Sinne nachzittern, das ihn bis in seine Träume verfolgte.
Gegen morgen erst fand er seinen festen gesunden Schlaf wieder, und als er Lotte Mittags aufsuchte, erinnerte er sich seines Rausches überhaupt nicht mehr. Lotte selbst[170] brachte ihn erst wieder darauf, als sie von Lena zu sprechen begann. Aber er wollte nichts davon hören, die schwüle Stunde sich nicht wieder ins Gedächtnis zurückrufen lassen, die bei seiner tiefen Neigung zu Lotte beschämend für ihn war. So brachte er das Gespräch bald auf andere Dinge, zu Lottes geringer Befriedigung. Sie hatte sich's nun einmal in den Kopf gesetzt, diese beiden zusammenzubringen, koste es ihr was es wolle!
An demselben Tage hatte Franz ein geeignetes Geschäftslokal gefunden. Freilich nicht wie Lena geplant hatte, in der Französischenstrasse, der Friedrichstrasse oder Unter den Linden, sondern im Südosten der Stadt, nahe dem Moritzplatz.
Am nächsten Morgen sollte der Mietskontrakt abgeschlossen werden. Mit dem letzten Zuge wollte Franz dann zurück, um die Uebersiedelung zu Ende März vorzubereiten. Diesen letzten Tag wollte er noch ganz mit Lotte verleben. Lena wieder zu begegnen mied er.
Im Gegensatz zu dem sonnigen Tage ihres ersten Wiedersehens war der Abschiedstag grau und regenschwer. Förmliche Aprillaune zeigte dieser Februar. Sonnenschein und Regen wechselten fast übergangslos ab; der heutige Tag aber schien sich völlig auf Regen eingeschworen zu haben.
Lottes Stimmung war nicht besser als die Stimmung draussen in der Natur. Frau Korn versuchte vergebens zu trösten. Grau und schwer wie der Himmel draussen schien ihr heute das Leben zu sein. Nichts mehr von jener freudigen Gehobenheit, die sie vor wenig Tagen noch beseelt hatte, war übrig geblieben.
Luischen war krank gewesen. Sie mochte sie doch wohl zu lange im freien umhergetragen haben. Franz' häufiger Anwesenheit wegen hatte sie nicht hinausgekonnt, hatte sie auch nicht hinausgewollt, in der Furcht, sich ihm unter dem Eindruck unmittelbarer Erlebnisse zu verraten. Nun erfuhr sie erst heute, dass ihr Liebling gelitten und sie ihn nicht hatte pflegen dürfen. Nur rasch ein Ende machen mit dieser unerträglichen Zwiespältigkeit des Daseins! Wenn es sein musste, allen zum Trotz. Wer riet? Wer half? Nur einen einzigen andern Ratgeber noch haben, als ihr eigenes, verlangendes Herz!
Franz, Frau Wohlgebrecht! Das war's ja gerade, was an ihr frass, dass diese beiden liebsten Menschen nichts von ihrem eigensten innersten Leben wissen durften. Mochte die ganze Welt erfahren, dass sie Mutter sei, wenn nur diese beiden nicht darum wussten, an deren Achtung ihr mehr gelegen war als an der der ganzen übrigen Welt.[171]
Frau Korn war gerade über diesen Punkt nach wie vor ganz anderer Meinung. Beinahe im Zorn hatte sie ihren Schützling heute verlassen.
Da sass die Lotte nun und quälte und härmte sich, anstatt das natürlichste und einfachste zu thun und sich den beiden Menschen anzuvertrauen, die es sichtbarlich so gut mit ihr meinten! Der hübsche stattliche Mann aus der Heimat gewiss nicht minder als die herzensgute Frau Wohlgebrecht! Es war ein rechtes Kreuz mit dem Mädchen!
Lotte sass am Fenster und starrte mit thränenlosen Augen in den grauen Himmel, auf die immer gleichmässig leise niederrinnenden Tropfen. Das Herz war ihr übervoll. Sie sehnte sich so unendlich nach einem andern Herzen, das ganz mit dem ihren fühlte, das all ihre Nöte und Sorgen verstand. Gottlob, dass Franz sie nicht mehr liebte! Wo hätte sie in ihrer Verlassenheit die Kraft hernehmen sollen, stark gegen diese Liebe zu sein!
Wie sie so dasass, tief in Gedanken verloren, über vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges nachdenkend, wurde es ihr zum erstenmal ganz klar, mit wie verschiedener Liebe Gerhart und Franz sie geliebt hatten. Der eine mit selbstsüchtiger Leidenschaft, die vor der ersten sittlichen Forderung aufgeflogen war wie Spreu vor dem Winde, der andere mit herzlich selbstloser Neigung, die sterben musste, weil sie hoffnungslos war. Und während ihr die Thränen langsam über die Wangen rannen, fühlte sie mit stechendem Schmerz, dass sie heute Franz' Liebe hätte erwidern können, wenn sie sie noch besessen hätte und ihrer würdig gewesen wäre.
Wäre sie rein geblieben, heute würde diese Liebe ihr Glück und, was mehr noch war, der Friede und die Kraft ihres Lebens gewesen sein.
Da klopfte es leise an ihre Thür.
Franz trat herein, in der Hand einen feuchten, süssduftenden Veilchenstrauss. Das Wasser lief ihm vom Rock und von der Hutkrämpe herab, auf seinem Gesicht aber stand der Sonnenschein heiterer Zuversicht. In allen Dingen war ihm das Glück in Berlin so hold gewesen, warum sollte es ihm gerade bei Lottchen untreu werden? Seit den letzten vierundzwanzig Stunden stand es bei ihm fest, ohne ihr Jawort nicht abzureisen. Die letzten Tage hatten ihm Mut gemacht. Seiner gesamten Zukunft gewiss, wollte er nach Haus zurückkehren.
Er war sehr bestürzt, als er Lottes blasses, verweintes Gesicht sah. Aber sie blickte ihn lieb und herzlich an, und[172] je näher er zusah, je mehr fand er von der alten Lotte in ihr, von dem zaghaften, hilflosen, lieblichen Geschöpf, das er so schweren Herzens nach Berlin hatte ziehen lassen. Das stärkte seinen Mut. Wenn nur das erste Wort erst gefunden war!
Lotte war so tief in ihre eigenen Gedanken versunken, dass ihr der Wechsel in dem Wesen des Freundes nicht besonders auffiel. Der Gedanke, dass er sie nicht mehr liebte, hatte sich so völlig in ihr festgesetzt, dass sie nicht einmal daran dachte, noch nach möglichen Symptomen einer Neigung zu suchen. Die fürsorgende Zärtlichkeit, die er heute für sie an den Tag legte, dünkte ihr nichts als selbstverständliche Freundschaft zu sein. Hätte sie diese Freundschaft nur durch volles Vertrauen lohnen können!
Je weniger sie ihn verstand, desto mehr wuchs seine Unruhe und Ungeduld. Er riss die Uhr aus der Tasche. Gleich drei! Um sieben Uhr ging der Zug. Er wollte doch auch noch etwas von seiner Braut haben, und aufschieben liess sich die Abreise nicht. Es war eigentlich lächerlich, so feige zu sein und nicht gerade heraus zu sprechen. Das schlimmste war doch, dass sie »nein« sagte, und darauf war er früher ja stets gefasst gewesen. Warum jetzt nicht mehr? Warum trug er sich plötzlich mit den unsinnigsten Hoffnungen? Und wenn sie dennoch fehlschlugen? Etwas merkwürdig Ahnungsvolles stieg bei diesen Gedanken in ihm auf und legte sich ihm schwer auf die Brust. Es würde ein grosses Unglück für ihn sein. Nicht nur, dass Lotte nicht sein Weib wurde, noch ein anderes, unheilschwangeres Schicksal schien sein Haupt mit dunklen Fittigen zu umkreisen. Das Herz schnürte sich ihm zusammen. Die Last auf seiner Brust wuchs zentnerschwer. Er fühlte, dass alles Blut ihm zum Herzen zurücktrat. Er musste wohl auch merkwürdig und sehr entstellt aussehen, denn Lotte fragte plötzlich schreckhaft durch die Stille hindurch:
»Ist Dir nicht wohl, Franz? Du siehst ja totenbleich aus!«
Da hielt es ihn nicht länger. Er wollte, er musste Gewissheit haben. Die Leidenschaft übermannte den sonst so ruhigen, besonnenen Mann, und mit einer verzweifelten Glut, deren er sich selbst nicht für fähig gehalten hätte, flehte er Lotte um ihre Liebe, um ihre Hand.
So plötzlich war das gekommen, dass Lotte wie versteinert dastand. Sie hörte ihm mit grossen, weitgeöffneten Augen zu und sagte sich immer nur das eine und wieder das eine:[173] »Nur nicht schwach werden, nicht schwach werden! Du darfst ihn nicht erhören, Du hast das Recht verwirkt.«
Bis er zu Ende war, hatte sie sich wirklich gelasst.
Ganz ruhig trat sie ein paar Schritte von ihm fort und leise, um die Thranen nicht za verraten, die ihr in der Kehle sassen, sagte sie:
»Ich danke Dir für Deine Liebe, Franz, aber ich kann, Deine Frau nicht werden!«
Er riss den Stuhl an sich, auf dem er zuerst gesessen hatte, von dem er dann, hingerissen von seiner Leidenschaft, aufgesprungen war, um ihr ganz nahe zu sein, sie in seine Arme schliessen zu können. Die morsche Lehne zerbrach unter dem wuchtigen Druck seiner Hand.
Aber auch seine Stimme blieb ruhig, so heiss auch die fürchterliche Enttäuschung in ihm tobte.
»Und kannst Du mir sagen, weshalb Du meine Frau nicht werden kannst?«
Aufs Geratewohl gab sie die Antwort:
»Weil ich Dich nicht liebe, wie man einen Mann lieben muss.«
Es war ja doch alles eine grosse Luge. Warum erst lange nach Worten suchen und wägen?
»Liebst Du einen andern, Lottchen?«
Sie hatte es auf der Zunge zu sagen:
»Ein anderes ja, dem mein ganzes Leben gehört, um dessentwillen ich Dir entsagen muss –«
Aber sie schwieg und schüttelte statt jeder Antwort langsam den feinen blonden Kopf.
»Und dies ist Dein letztes Wort?«
»Mein letztes, Franz.«
»Und Du glaubst nicht, dass es jemals anders werden kann?«
»Niemals – nie!«
Er nahm den regenschweren Rock über den Arm, den Hut in die Hand und verbeugte sich steif, ohne einen Schritt näher auf sie zuzugehen, ohne ihre Hand zu berühren.
»Lebwohl, Lotte.«
Sie hatte ein paar Schritte auf ihn zu gemacht. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn so gehen zu lassen. Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er zögernd er griff, und wie eine Liebkosung klang ihre Stimme, als sie jetzt sagte:
»Adieu, Franz, und auf Wiedersehen! Gebe Gott, dass Du verschmerzt hast, was ich Dir anthun musste, bis wir wieder beisammen sind.«[174]
Er sagte nichts mehr, sondern starrte sie nur aus trostlosen Augen an, dann wandte er sich kurz und zog die Thür rasch hinter sich zu.
Sie drückte den Veilchenstrauss an die Lippen und blickte ihm schmerzverloren nach, aber sie brach nicht zusammen. Das Bewusstsein hielt sie aufrecht, den schwersten Sieg errungen zu haben, den ein Mensch zu erringen vermag, den Sieg über sich selbst!
Lena hatte Franz' Besuch täglich erwartet. Sie war sehr ungehalten darüber, dass er ausblieb. Vernachlässigung war sie nicht gewöhnt. Aber gerade, dass sie ihr einmal zu teil wurde, steigerte ihren Wunsch, Franz zu gewinnen bis ins unermessliche.
Sie stieg zu Lotte herauf, die sie jetzt selten genug besuchte. Wenn sie sich getäuscht haben sollte, wenn diese beiden dennoch einig mit einander geworden wären!
Lena überzeugte sich bald von dem Gegenteil.
Franz war längst abgereist, und Lotte schien nicht das geringste Interesse weder an dieser Abreise, noch an Franz überhaupt zu nehmen.
Sie hatte nur Sinn für Luischen.
Luischen war ihr drittes Wort. Ob Lena denn nicht endlich einmal mit ihr nach Schmargendorf heraus wolle, das liebe kleine Geschöpf kennen zu lernen?
»Im Frühjahr, ja. Hat Franz nicht gesagt, wann er zurückkommt?«
»Ich glaube, um Ende März.«
Das war alles, was sie aus Lotte herausgebracht hatte. Daran musste sie sich bis auf weiteres genügen lassen, aber ihre Laune wurde durch dies negative Ergebnis ihrer Nachfragen nicht gerade verbessert.
Am schwersten hatte Bornstein unter Lenas Stimmung zu leiden, und da er sie noch immer wirklich gern hatte, litt er in der That. Zuweilen schalt er sich einen ausbündigen Narren, dass er noch immer um ein Mädchen sich bemühte, das trotz allem was er für sie gethan hatte, nicht gewillt schien, auch nur um Haaresbreite seinen Wünschen entgegen zu kommen.
Aber gerade das reizte ihn. Sollte er nun, da er so lange um sie geworben hatte, unverrichteter Sache wieder abziehen? Er wollte sich wenigstens sagen dürfen, dass er einmal sein Herrenrecht geltend gemacht, dass er sie einmal besessen hatte.
Einstweilen schien er indess weniger Aussicht zu haben denn je, seine Stellung Lena gegenüber zu verbessern.[175]
Hatte sich die kleine Launenhafte den ganzen Winter über nicht gerade hingebend gezeigt, hatte sie den meisten seiner Wünsche einen unbeugsamen Trotz entgegengestellt, war es ihr niemals eingefallen, Rücksicht darauf zu nehmen, dass er doch wohl das Recht habe, ihre Gesellschaft zuweilen allein zu geniessen, hatte sie, im ausgesprochensten Gegensatz zu diesen seinen Wünschen, sich nur um so häufiger mit einer förmlichen Schar von Verehrern und Freunden umgeben, so schien Lena jetzt nach dem Frühjahr zu dies alles noch zuspitzen zu wollen.
Bornstein war so gereizt, dass er schon daran gedacht hatte, sie vor die bündige Entscheidung zu stellen: »Entweder Du änderst Dich, oder wir sind geschiedene Leute.« Da er aber Lena dazu im stande hielt, dem letzteren Vorschlag mit ihrem pikantesten und überlegensten Lächeln zuzustimmen, verschob er den entscheidenden Schritt von Tag zu Tag.
Um die zweite Hälfte März musste Bornstein nach Dahlow hinaus. Es war nicht unmöglich, dass er vierzehn Tage dort festgehalten werden würde. Neuanlagen, Umbauten waren zu besprechen. Der Verwalter war nicht mehr so auf dem Posten wie früher, die Leute nicht mehr ordentlich im Zuge. Es war höchste Zeit, dass er selbst mal nach dem Rechten sah.
Er ging schwereren Herzens denn je. Wenn er nur jemanden gehabt hätte, der ihm während seiner Abwesenheit zuverlässigen Bericht über Lena hätte zu gehen lassen! Er schwankte lange, schliesslich bat er Kurt um diesen Freundschaftsdienst.
Strehsen war selbstverständlich, wie stets bereit, Bornstein zu willen zu sein.
Selbst wenn Kurt nicht gewollt hätte, er hätte nicht anders gekonnt, denn er war mit der Zeit völlig abhängig von Bornstein geworden. Er hätte einfach quittieren oder sich eine Kugel durch den Kopf schiessen müssen, wenn der Freund die Hand von ihm abgezogen hätte. Ein Bedenken, ob er den delikaten Auftrag übernehmen oder ablehnen solle, gab es also nicht. Es blieb Kurt keine Wahl, als Bornstein auf Ehrenwort zu versichern, dass er ein aufmerksames Auge auf Lena haben und ihm alles auffällige unverzüglich melden würde.
Verhältnismässig beruhigt fuhr Bornstein ab. Er wusste, er durfte sich auf Kurt verlassen.
Er wollte ja auch nichts weiter, als, nachdem er weit über ein Jahr um Lena geworben hatte, nicht gerade einen[176] andern die Früchte pflücken sehen, die für ihn stets zu hoch gehangen hatten.
So war Kurt jetzt täglicher Gast bei Lena, Oberspion, wie er selbst sich nannte. Seine Besuche waren ihr augenscheinlich ebenso gleichgültig, wie die aller andern. Sie machte keinen Unterschied und behandelte jeden, der über ihre Schwelle kam, mit derselben kühlen Nachlässigkeit. Kurt konnte die beruhigendsten Berichte nach Dahlow schicken. Dass Lena auf einen wartete, der noch immer nicht wiederkommen wollte, dass sie aus diesem Grunde für niemand sonst etwas übrig hatte, das freilich ahnte der wachthabende Leutnant nicht.
Zehn Tage etwa mochte Bornstein von Berlin abwesend sein, als an einem Nachmittag zu Ende März die Thür zu dem türkischen Boudoir für jeden Besucher, auch für Kurt, verschlossen blieb. Vergeblich ersuchte der Leutnant das blondgekrauste Ladenmädchen, ihn zu melden. Er bot seine ganze, noch immer recht knabenhafte Autorität auf, vergebens. Selbst gegen ein ansehnliches Trinkgeld blieb der blonde Cerberus unerbittlich. So dreist das Mädchen gegen jeden war, vor ihrer jungen Prinzipalin hatte sie einen heillosen Respekt; nicht um die Welt hätte sie einem Gebot von ihr getrotzt.
Als Kurt sah, dass ihm der Eintritt verweigert blieb, fing er an, sie auszufragen. Aber auch damit hatte er wenig Glück. Wer denn bei Fräulein Lena drin sei?
Das Mädchen zuckte die Achseln.
»Herr Bornstein selbst etwa?«
Sie lachte frech auf.
»Ein Fremder?«
»Ja!« Mehr wisse sie nicht, er solle sie nun in Ruhe lassen.
Kurt ging, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Am liebsten hätte er gleich an Bornstein telegraphiert, dass Gefahr im Verzuge sei. Aber er hatte ja nicht den geringsten Beweis dafür, dass es wirklich so war. Der Fremde konnte ebenso gut ein Geschäftsmann sein, der mit Lena zu thun hatte, als ein neuer unbekannter Verehrer. Warum sollte sie gerade diesen bei verschlossenen Thüren empfangen, da sie es mit einem von ihnen niemals gethan hatte, nicht einmal mit Bornstein!
Er wollte gegen Abend noch einmal hinausfahren und Lena gewissenhaft aufs Korn nehmen. Zeigte sich dann irgend etwas Verdächtiges, war es immer noch Zeit, Bornstein zu benachrichtigen.[177]
Als Kurt zwei Stunden später wiederkam, war die Luft rein, und Lena gerade so kühl, ruhig und überlegen, wie sie es in letzter Zeit stets zu sein pflegte. Ungefragt erzählte sie ihm mit grösster Kaltblütigkeit von dem Besuch eines Landmannes, den sie nachmittags gehabt habe. Er sei Geschäftsmann und wolle sich hier etablieren. Da er ihren Rat in verschiedenen geschäftlichen Dingen erbeten, habe sie während seiner Anwesenheit niemand sonst empfangen können. Es thue ihr leid, dass er gerade um diese Zeit und vergebens bei ihr vorgesprochen habe.
Kurt war sehr zufrieden, dass er in seiner Herzensangst nicht gleich zum Telegraphenamt gestürzt war. Es wäre eine schöne Blamage gewesen.
Weniger kaltblütig wie Lena, brachte Franz Krieger die Stunden nach dem langen Beisammensein unter vier Augen mit ihr zu.
Merkwürdig war es ihm mit diesem Mädchen ergangen. Während der drei Wochen, die er nach Lottes Abweisung noch zu Haus hatte zubringen müssen, war Lena so gut wie vergessen gewesen.
Die Wunde, die Lotte ihm geschlagen hatte, sass zu tief, brannte zu schmerzlich, als dass ein anderer Gedanke daneben hätte aufkommen können. Er litt unsäglich, aber er litt ruhig und gefasst, in einer Art stumpfer Betäubung. Sie liebte ihn nicht, er musste lernen es zu tragen. Erst seit er in Berlin war, hatte sein Schmerz einen durchaus andern Ausdruck angenommen. Vorbei war es mit der Ruhe, der Fassung, der Resignation. Hier, wo er geglaubt hatte, mit ihr glücklich zu sein, war eine peinigende Unruhe über ihn gekommen, ein brennendes Verlangen zu vergessen, was sie ihm angethan hatte. Was sollte er hier in dieser heisspulsierenden mächtig sich regenden Stadt mit seinem totwunden Herzen? Sollte er als ein bleicher, abgestorbener Schatten sein neues Leben beginnen, um es willensunfähig gleich wieder mit einem Schiffbruch enden zu lassen? Müde und gebrochen in eine Schaffensperiode treten, die den ganzen Mann forderte?
Nein, was es auch kostete, er musste seines Schmerzes Herr werden, musste sich herausreissen aus der dumpfen Betäubung, aus der er noch immer nicht erwacht war, seit er die vier steilen Treppen von Lottes Dachstübchen heruntergestiegen war.
Er suchte Vergnügungen auf; so neu und ungewohnt sie ihm waren, sie ekelten ihn an. Er trank mit fremden Kneipkumpanen – Bekannte und Freunde hatte er nicht in Berlin[178] – zu dem schweren Herzen gesellte sich ein schwerer Kopf und machte ihn noch arbeitsunfähiger, als sein Kummer ihn ohnedies gemacht hatte. Endlich fiel ihm Lena ein. Ja, Lena war das rechte! Wenn irgendwo, so war es möglich, bei ihr das Vergessen zu lernen. Und vergessen wollte er.
Lenas kaum verhehlte Freude ihn wiederzusehen, rührte ihn beinah. Ja, sie hatte ihn wirklich gern, sie hatte es nie vor ihm verborgen. Wie im Fluge waren die Stunden mit ihr wiederum vergangen. Das erste Mal, seit Lotte jede Hoffnung, jede Lebensfreude in ihm ertötet hatte, dass er den langsamen, schleichenden Gang der Zeit nicht empfunden hatte. An Lena wollte er sich halten. In ihrer Nähe vergass er die nagende Pein um Lotte. Sie wirkte auf ihn wie starker Wein, süss und berauschend.
In diesem Rausch lief er stundenlang umher, bis er den Weg zu seiner entfernten Wohnung im Südosten der Stadt wiedergefunden hatte. Er dachte nichts anderes und wollte nichts anderes denken, als an den lockenden, verheissenden Blick ihrer schwarzen Augen, an die weichen Formen ihrer zur Ueppigkeit neigenden Gestalt, an den Druck ihrer feinen, mit funkelnden Steinen geschmückten Hand, der ihm noch in der Erinnerung, wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder ging.
Am Sonntag hatte sie ihm erlaubt wiederzukommen. Heute war erst Donnerstag! Eine lange Zeit für einen, der sich vor seinen Gedanken fürchtet.
Als er am Sonntag den Laden betrat, tönten ihm aus dem türkischen Boudoir Stimmen und Lachen entgegen. Er wollte sofort die Flucht ergreifen. Lena in Gesellschaft anderer zu sehen, war ihm ein unerträglicher Gedanke. Er fühlte instinktiv, dass sie nur unter vier Augen jene alles vergessende Wirkung würde auf ihn ausüben können, deren er bedurfte, um zu leben, zu arbeiten. Aber das blonde Mädchen liess ihn nicht fort.
»Das Fräulein hat's mir extra eingeschärft, Sie hereinzuführen. Unangemeldet sogar«, fügte sie mit ihrem dreistesten Lächeln hinzu.
Als Franz eintrat, verstummte die Unterhaltung Lena stand auf und begrüsste ihn mit stark betonter Liebenswürdigkeit. Dann stellte sie ihn als einen lieben Jugendfreund, der sich soeben in Berlin etabliert habe, den übrigen Anwesenden vor und bat Kurt in ihrer kurzen Art, die keinen Widerspruch duldete, Herrn Krieger den Platz an ihrer Seite abzutreten.[179]
Kurt erhob sich sofort, aber er zog seine schärfste Spähermiene auf.
Jetzt galt es aufzupassen. Das also war der Geschäftsfreund, der bei verschlossenen Thüren empfangen worden war. Dies war am Ende doch eine Sache, die Bornstein etwas anging. Wer weiss, was nicht schon verfehlt war dadurch, dass er neulich nicht gleich telegraphiert hatte! Er liess die beiden nicht mehr aus den Augen, und genug gab es für ihn zu hören und zu sehen. Lena gab sich nicht die geringste Mühe, ihre Vorliebe für diesen Jugendfreund zu verbergen, und er war so vollständig in ihrem Bann, dass er alles andere darüber vergass. Je länger die Intimität der beiden dauerte, um so unbehaglicher wurde es Kurt zu Mut. Schliesslich sass er wie auf Kohlen. Die übrigen Besucher hatten sich längst verabschiedet.
Nur dieser täppisch verliebte Mensch und er sassen noch immer mit Lena an dem kostbar eingelegten Tisch und rauchten eine Cigarette nach der andern. Was sollte er thun? Es war höchste Zeit, an Bornstein zu telegraphieren, wenn der Freund morgen mit dem ersten Zug abfahren sollte. Und das schien Strehsen nicht nur geraten, nein, geradezu gebotene Notwendigkeit. Wie aber sollte er es anfangen, ohne die beiden allein zu lassen?
Endlich sah Lena auf die Uhr.
»Schon zehn? Mein Gott, darum bin ich auch so müde. Ich muss Sie jetzt entlassen, meine Herren. Auf Wiedersehen, Herr von Strehsen.« Sie reichte ihm flüchtig die Fingerspitzen zum Kuss.
Dann stahl sie ihre Hand zu Kurts Entsetzen ganz ungeniert in die des »provinziellen Menschen« und sagte mit ihrem verführerischsten Lächeln:
»Du kommst wohl morgen abend um acht, wie wir verabredet haben, lieber Franz?«
Draussen nahm Kurt sich kaum Zeit, sich von dem Friedensstörer zu verabschieden. Wie ein Verfolgter stürzte er auf den nächsten Taxameter zu und schrie ihn an, so schnell die Mähre laufen könne, nach dem Haupt-Telegraphenamt zu fahren. –
Mit einem der Vormittagszüge traf Bornstein ein. Da er Kurt telegraphisch davon benachrichtigt hatte, erwartete ihn der Leutnant auf dem Bahnhof.
Bornstein kochte vor Grimm, nachdem er Kurt gehört hatte. Dennoch nahm er sich Zeit. Seinen letzten Trumpf durfte er nicht leichtsinnig ausspielen.[180]
Um acht Uhr hatte sie diesen Menschen zu sich bestellt. Er würde warten bis dahin. In flagranti würde er sie ertappen. Und dann, dann sollte reiner Tisch zwischen ihnen gemacht werden. Er hielt dieses Leben nicht mehr länger aus. Entweder oder. Biegen oder Brechen. Sie hatte ihn lange genug gefoppt. Seine Geduld war zu Ende.
Um ein viertel auf neun schritt er durch den Laden, ohne den Gruss des blonden Mädchens zu erwidern, gerade auf das türkische Zimmer zu, in dem Lena ausnahmslos ihre Besuche zu empfangen pflegte. Das Mädchen rief ihm etwas nach, was er nicht verstand. Er hörte auch gar nicht auf sie. Er riss die Thür auf. Das Zimmer war leer.
Da erst wandte er sich zu der jetzt dicht an seiner Seite Stehenden um.
Sie erschrak vor dem Ausdruck seines sonst so gutmütigen phlegmatischen Gesichts. Wie Wetterleuchten zuckte es darüber hin. Das spärliche rötliche Haar unter dem weit aus der Stirn zurückgeschobenen Hut schien sich förmlich zu sträuben.
Mit eisernem Griff umfasste er die Hand des Mädchens.
»Wo ist Fräulein Weiss? Lügen Sie nicht, ich rate es Ihnen.« Weit stiess er sie von sich und spuckte in einem grossen Bogen vor ihr aus.
»Pfui, Sie – Sie Gelegenheitsmacherin Sie!«
Das dreiste rohe Geschöpf zitterte an allen Gliedern. Sie glaubte nicht anders, als dass Bornstein plötzlich wahnsinnig geworden sei.
»Fräulein ist schon in ihrem Schlafzimmer. Sie wollte früh schlafen gehen. Sie sagte, sie wäre sehr müde!«
Er lachte laut und höhnisch auf.
»Wie Du schlau bist, Kröte! Aber es hilft Dir nichts. Glaubst Du, ich wüsste nicht, dass jemand bei ihr ist? Marsch, mach' Platz, ich will hinein!«
Er stiess sie zur Seite wie eine giftige Natter und stürzte durch den kleinen Gang, der von dem Laden zu Lenas Wohnung führte. Die Verbindungsthür war schon verschlossen. Er riss an der Klingel, einmal, zweimal. Als nicht gleich jemand kam, donnerte er mit den Fäusten dagegen.
Jetzt wurde der Riegel zurückgeschoben. Lenas Köchin stand vor ihm.
Er schob sie bei Seite und schlug die Thür hinter sich zu.
»Wo ist das Fräulein?« Ganz heiser war er vor Wut.[181] Die grossen runden Augen quollen ihm förmlich aus dem Kopf.
Das Mädchen, eine dumme, gutmütige Person, blieb ganz arglos.
»So viel ich weiss, ist das Fräulein schon beim Auskleiden.«
Er stürzte an ihr vorbei auf Lenas Schlafzimmer zu. Da erst sah ihm das Mädchen mit grossen, angsterfüllten Augen nach. Auch sie glaubte nichts anderes, als dass der Herr plötzlich den Verstand verloren habe.
Als Bornstein die Thür erreicht hatte, wurde sie auch schon von Innen geöffnet.
Lena trat auf die Schwelle in einem scheinbar rasch übergeworfenen, losen weissen Morgengewand, das prachtvolle schwarze Haar aufgelöst im Nacken. Sie zog die Thür rasch wieder hinter sich zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und sagte mehr erstaunt als geärgert:
»Was soll denn der Lärm bedeuten? Wo kommen Sie plötzlich her, Bornstein?«
Ihre Ruhe empörte ihn noch mehr. Dabei war sie so verführerisch schön in ihrem nachlässig übergeworfenen Anzug, der ihre ganze blühende Jugend ahnen liess, dass er den letzten Rest von Fassung verlor. War er der Narr dazu, einem anderen zu gönnen, was er selber nie besessen hatte!
Er packte Lena beim Arm und versuchte sie von der Thür zurückzureissen.
»Mach' Platz«, schrie er, weiss vor Wut. Als sie sich nicht rührte, stiess er sie bei Seite und streckte die Hand nach der Thürklinke aus.
Aber sie war schneller als er. Mit einer raschen Bewegung drehte sie den Schlüssel im Schloss um, zog ihn ab und liess ihn in ihre Tasche gleiten.
»Wirst Du gleich öffnen«, knirschte er.
Sie sah ihn von oben bis unten mit einem grenzenlos verächtlichen Blick an.
»Hab' ich Ihnen je mein Schlafzimmer geöffnet? Wie soll ich heute dazu kommen?«
»Mir nicht, aber einem andern«, schrie er bebend vor eifersüchtiger Wut. »Mach' auf, oder ich schlage Dich tot!«
Sie zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn selbst ins Schloss.
»Bitte«, sagte sie ruhig.
Er sah sie verblüfft an. Einen Augenblick schwankte er, ob er von seinem Verlangen zurücktreten sollte, dann[182] drehte er den Schlüssel im Schloss und öffnete die Thür. Pah! Diese geheuchelte Ruhe war nichts als eine Finte, ihn auf andere Fährte zu locken. Aber er war nicht so dumm, darauf hereinzufallen. Ohne Zweifel hielt sie den Elenden in ihrem Schlafzimmer versteckt. Gnade ihm und ihr!
Er stürzte hinein, besinnungslos mit vorgestrecktem Kopf wie ein Hund, der einem Wild auf den Fersen ist. Mit untergeschlagenen Armen stand sie überlegen lächelnd dabei. Innerlich frohlockte sie, dass es so gekommen war. Dies war Freiheit, war Erlösung.
Er durchstöberte jede Ecke, jeden Winkel, der einen Versteck hätte bieten können. Nur an ihr unberührtes Lager wagte er sich nicht heran.
Nichts, nirgends auch nur eine Spur.
Sie wartete ruhig, bis er fertig sein würde. Sie regte sich nicht und sprach kein Wort. Nur der Spott um ihren Mund sprach eine beredte Sprache.
In demütiger, gebeugter Haltung kam er zu ihr zurück.
Er kroch mehr, als er ging.
»Verzeih' mir, Lena, Kurt hat mich rasend gemacht – er sagte – er glaubte –«
Er hob den Blick zu ihr auf, aber ihre ihm begegnenden Augen sahen ihn so verächtlich an, dass die Rede ihm stockte. Er verbeugte sich und schritt stumm über die Schwelle. Als er aus dem Zimmer war, rief sie ihn noch einmal an:
»Wir sind nach diesem wohl fertig mit einander, das werden Sie selbst einsehen.«
Er wollte etwas sagen, aber sie unterbrach ihn rasch. »Bedanken Sie sich bei Ihrem Freunde dafür, nicht bei mir. Und nun, gute Nacht, ich bin müde.«
Sie zog die Thür nachlässig ins Schloss. Er hörte noch, wie sie den Riegel vorschob. Wie ein geprügelter Hund schlich er davon.
Erst draussen machte er seinen Gefühlen Luft. Ohne auf die Menschen zu achten, die in dichten Scharen die Potsdamer Strasse belebten, hob er die Faust auf und schrie laut:
»Warte Kurt, den Freundschaftsdienst sollst Du mir büssen!«
Lena entkleidete sich sehr langsam, nachdem sie die Ordnung in ihrem Zimmer wieder hergestellt hatte. Ein befriedigtes Lächeln umspielte ihren vollen Mund.
Als sie im Bett lag, nahm sie einen zusammengelegten, beschriebenen Zettel von ihrem Nachttisch. Es war ein Gruss[183] von Franz. Er hatte ihn als Antwort auf den Brief geschickt, in dem sie ihre Verabredung von heut auf morgen verlegt hatte.
Diese Veränderung, von einer Laune diktiert, war ihr zum Schicksal geworden. Der Würfel war gefallen und, wie es schien, wieder einmal zu ihren Gunsten. Seit sie Franz wiedergesehen, hatte sie nach einem Bruch mit Bornstein gelechzt.
Behaglich streckte sie sich in ihren weichen Kissen aus. Ein langweilig gewordenes Buch war bei Seite geworfen, ein neues aufgeschlagen worden. Würde es auf die Dauer fesselnder sein?
Bornsteins Versuche, Lena wiederzusehen, waren sämtlich fehlgeschlagen. Uneröffnet kamen seine Briefe zurück. Er raste, aber es half ihm nichts. Sie blieb unerbittlich.
Eine Woche, nachdem er den Eintritt zu Lenas Schlafzimmer erzwungen hatte, wurde ihm durch einen Bankboten das Lena vorgestreckte Kapital samt den noch fälligen Zinsen überbracht.
Die Abrechnung stimmte auf den Pfennig.
Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie das zusammenhängen könne. Er fand keine Erklärung, keinen Zusammenhang. Aber bereits die nächste Post brachte dem völlig Verblüfften, wonach er vergeblich gesucht, die Aufklärung in Form einer geschmackvoll ausgestatteten Anzeige:
Lena Weiss
Franz Krieger,
Grosskaufmann,
empfehlen sich als Verlobte.
Berlin, im April 1899.
Er zerriss das Blatt in tausend kleine Fetzen und zertrat es unter den Füssen. Seine Wut kannte keine Grenzen. Zum erstenmale in seinem Leben hatte er bei einem Weibe verspielt.
Als Lotte von der Verlobung erfuhr, ward ihr bitter weh ums Herz. Aber hatte sie es nicht selbst so gewollt? War es nicht schliesslich am besten so, da der Freund ihr ja doch lebenslang unwiederbringlich verloren war? Gebe Gott, dass Lena ihn glücklich machte!
Sie hatte sich gerade angekleidet, um zu Luischen hinauszufahren,[184] als Lenas flüchtig hingekritzelter Brief mit der bedeutsamen Nachricht gekommen war. Einen Augenblick dachte sie daran, ihren Besuch in Schmargendorf aufzuschieben, so müde und schwer waren die Glieder ihr plötzlich geworden. Aber nach kurzem Kampf raffte sie sich auf. Bei Luischen war ihr Platz. Sobald es ihr Kind anging, musste sie jederzeit bereit sein. Diese Liebespflichten durften sie niemals müde finden. Sie liebte das Kind nur um so inniger noch, seitdem sein Dasein ihr auch den letzten Freund gekostet hatte.
Am nächsten Nachmittag suchte Lotte Lena auf, um ihr ihre Glückwünsche zu bringen. Sie fand sie allein. Franz war durch die Einrichtung des Geschäfts noch immer sehr stark in Anspruch genommen.
Sie war nicht so heiter, als Lotte es wohl erwartet hatte. Kühl und trocken sprach sie sich aus, als ob es sich um den Abschluss eines wohlüberlegten Geschäfts, nicht aber um Neigung und Liebe gehandelt habe. Mit Genugthuung erzählte sie, dass Franz sie von allen Verpflichtungen gegen Bornstein sofort losgelöst habe, wie es aber mit ihrem Geschäft nun werden solle, ob es nach dem Südosten verlegt oder hier bleiben solle, das sei noch ein streitiger Punkt zwischen ihnen.
Lotte sah die Schwester mit grossen, verwunderten Augen an.
»Wie denn? Du willst Dein Geschäft behalten, Lena, auch wenn ihr verheiratet seid?«
»Aber natürlich. Glaubst Du, ich wollte meine teuer erkaufte Selbständigkeit aufgeben? Bloss die Frau meines Mannes sein? Das hielte ich nicht acht Tage aus.«
»Und was sagt Franz dazu?« fragte Lotte kleinlaut.
Lena lachte.
»Zuerst machte er ein schrecklich dummes Gesicht, so wie früher, Lotte, weisst Du noch, wenn ich etwas besonders Verrücktes ausgeheckt hatte und dann davonlief und ihn stehen liess, weil er doch nicht hätte mitthun können. Nach und nach hat er's aber eingesehen, dass ich eine viel zu moderne Frau bin, um mir an einer langweiligen Wirtschaft genügen zu lassen. Ganz ausgefochten aber ist unser Streit noch immer nicht. Er will, ich soll mit dem Geschäft nach seiner elenden Gegend übersiedeln, ich will natürlich hier bleiben. Ist es nicht schon schlimm genug, dass man in diesem ordinären Stadtteil wohnen muss? Nicht um die Welt verleg' ich mein Geschäft dahin. Abgesehen von allem Uebrigen, würde mir ja meine ganze Stammkundschaft flöten gehen. Na, ich werde ihn schon noch rumkriegen.«[185]
Lotte war sehr nachdenklich geworden.
»Wenn Du Deinen Willen durchsetzst, Lena, werdet Ihr Euch ja den ganzen Tag kaum sehen?«
Lena lachte wieder.
»Du bist gerade so spiessig wie Franz. Ich glaube wirklich, ihr beide hättet doch besser zu einander gepasst. Deswegen brauchst Du nicht rot zu werden, Lotte. Jetzt habe ich ihn einmal und behalte ihn; trotz alledem bin ich nämlich schrecklich verliebt in ihn. Also wovon sprachen wir gerade? Richtig, dass wir uns auf diese Weise den ganzen Tag nicht sehen würden. Der reine Unsinn. So was könnt Ihr auch nur behaupten. Sehr praktisch habe ich mir schon alles ausgedacht. Vor allen Dingen werden Räder angeschafft. Du weisst, Bornstein hat es nie haben wollen, sonst hätte ich längst geradelt. Auf diese Weise brauche ich nicht mehr als gute zehn Minuten vom Moritzplatz bis hierher. Morgens um neun fahre ich ab und um fünf – wir machen natürlich englische Tischzeit – radle ich wieder herein. Wenn dann was besonderes vorliegt, kann ich abends immer noch 'mal heraus. Hat Franz Lust und Zeit, kann er mich ja dann begleiten. Pass nur auf, er gibt schon nach, und schliesslich gefällt es ihm selbst ganz gut, dass wir nicht den ganzen Tag zusammenhocken. Für eine Ehe, in der nicht jeder seine Freiheit hat, danke ich bestens.«
Lotte wollte gerade eine Antwort geben, die im ausgesprochensten Gegensatz zu Lenas Anschauung gelautet haben würde, als Franz eintrat.
Bei Lottes unerwartetem Anblick stutzte er einen Augenblick. Eine grosse, peinliche Verlegenheit schien Herr über ihn werden zu wollen. Aber dann warf er sich trotzig in die Brust.
Sie selbst hatte ihn ja in Lenas Arme getrieben. Und als ob er ihr hätte beweisen wollen, wie wohl ihm darin sei, herzte und küsste er seine Braut, dass Lotte sich errötend abwandte. –
Die Hochzeit war für Anfang Juni festgesetzt worden, bis dahin konnte Lenas Ausstattung fertig sein und Franz' Geschäft einen einigermassen geregelten Gang gehen.
Auf etwas anderes brauchten sie nicht zu warten.
Nur im kleinsten Kreise sollte die Hochzeit gefeiert werden. Der Vater, Lotte, Frau Wohlgebrecht als Anstandsdame, Clementine und Elisabeth von Strehsen und die entsprechende Anzahl Kavaliere für die Damen waren geladen. Lena hätte Kurt gern dabei gehabt, aber der hatte[186] sich seit jenem Abend vor der Katastrophe mit Bornstein nicht wieder gezeigt. Sie hatte ihm durch Elisabeth sagen lassen, sie hege nicht den geringsten Groll gegen ihn, dass er das schuldige Werkzeug zu ihrer und Bornsteins Trennung geworden sei. Dennoch blieb er von der Bildfläche verschwunden. Eines Abends, kurz vor der Hochzeit, als Elisabeth draussen bei Lena sass, berichtete sie unter Thränen den Zusammenhang.
Bornstein hatte seine Hand völlig von Kurt abgezogen. Er hatte es ihm nicht vergeben können, dass er ihn zu dem heftigen Auftritt mit Lena gereizt hatte. Da Kurts Verhältnisse damals gerade ziemlich glatt gewesen waren – Bornstein hatte kurz zuvor ziemlich häufig bluten müssen – hatte er den Dienst auf der Stelle quittiert. Die Mutter habe darauf gedrungen. Sie verlangte, dass ein Strehsen wenigstens ohne Schulden abschnitte. Wochenlang sei er ohne Beschäftigung, ohne Verdienst umhergelaufen, jetzt habe Kurt endlich eine bescheidene Stellung auf einem Bankbureau gefunden. Aber er sei ganz geknickt, der arme Junge, und liesse sich nirgends sehen. Im Grunde sei es, Lena möge ihr das nicht übelnehmen, eine bodenlose Schufterei von Bornstein, denn was habe Kurt dann eigentlich anderes verbrochen, als Bornsteins Aufträgen gemäss gehandelt?
»Die Mutter ist ganz verzweifelt«, fuhr Elisabeth fort, »Kurts Freundschaft mit Bornstein war ihr letzter Halt. An Papa hat sie gar keine Stütze mehr. Er ist menschenscheuer und stumpfsinniger denn je. Die Kreuzzeitung und die Rangliste kommen kaum noch aus seinen Händen. Unser Kleiner soll nun auch zu Michaelis aus dem Korps heraus und irgendwo in die Lehre gesteckt werden. Der arme Junge! Das werden böse Zeiten werden! Aber Mama lässt nicht mit sich reden. Sie ist wie umgewandelt. Früher schien ihr der Soldatenstand die einzig mögliche Carriere für einen Strehsen. Heute hat sie ein förmliches Grauen davor bekommen. Für unseren Graudenzer hoffen wir ja auf die Gnade seines hohen Paten, des Prinzen Leopold. Mama will darum einkommen, dass ihm aus der Privatschatulle des hohen Herrn ein Zuschuss bewilligt wird.«
Lena war es sehr peinlich, dass sie indirekt die Schuld an dem völligen Niedergang der Strehsens trug. Aber was konnte sie dagegen thun? Höchstens den beiden alternden Mädchen ab und zu etwas zukommen lassen.
Bornsteins Handlungsweise begriff sie ganz gut, ja sie gefiel ihr sogar. Es lag etwas Temperamentvolles darin,[187] was sie sonst an Bornstein vermisst hatte. Jedenfalls war es die interessanteste Situation, die er zu Wege gebracht hatte. Das söhnte sie ein wenig mit ihm aus.
Franz hatte sie in der ersten Zeit unausgesetzt über ihre Beziehungen zu Bornstein ausgefragt. Lena hatte es nicht anders erwartet und ihm gesagt, was sie für gut befunden hatte. Im Grunde hatte sie ihm ja nichts zu verheimlichen, aber wozu ihn in alles einweihen? Das konnte für später, wenn es ihm einmal einfallen sollte – und was fiel einem Manne nicht ein? – Schlüsse von der Vergangenheit auf die Gegenwart zu ziehen, am Ende unbequem werden, und Lena wollte keine Unbequemlichkeiten mehr. Mehr als genug hatte sie davon gehabt. Als Frau wollte sie unbeanstandeter noch denn als Mädchen, ihr Leben geniessen, nach allen Richtungen hin. Von Mäkeleien und Nörgeleien wollte sie nichts mehr wissen.
Und Franz mäkelte und nörgelte nicht. Er that ihr jeden Willen und war es zufrieden, wenn sie ihm ein heiteres Gesicht zeigte und er sich an ihren Liebkosungen berauschen durfte. Sie waren das einzige, was ihm darüber forthalf, dass er gethan hatte, was er niemals hätte thun dürfen, dass er sich im Rausch einer kurzen Stunde ernsthaft an Lena gebunden hatte. –
Mit blühenden Flieder- und Schneeballbüschen, mit den ersten knospenden Rosen zog der Juni ins Land. Für den sechsten war die Hochzeit bestimmt. Am vorletzten Tage noch kam eine Absage vom Vater. Er konnte sich nicht entschliessen, sein behagliches Dasein in Karstens Garten auch nur auf ein paar Tage zu unterbrechen. »Er sei ein alter Mann und passe mit seinem Stelzfuss und seiner Pfeife – von seinem Korn sagte er nichts – nicht in eine feine Hochzeits-Gesellschaft. Die Töchter möchten ihm nicht böse sein.«
Lena kam diese Absage sehr gelegen. Sie hatte den Vater überhaupt nur auf Lottes und Franz' dringendes Zureden eingeladen.
Lotte aber war sehr betrübt. Den alten Mann einmal wiederzusehen, war ihr inniges Herzensbedürfnis geworden. Franz brummte und machte ein missmutiges Gesicht. Er erklärte den Alten für einen ausgemachten Egoisten.
Die Hochzeit verlief still und sehr wenig nach Lenas Sinn. Sie hatte an allem auszusetzen. Das Menu war nicht gut zusammengestellt. Franz und Lotte waren in ganz überflüssigem Masse gerührt. Eine Hochzeit war doch am Ende kein Leichenschmaus.[188]
Clementines und Elisabeths unerlaubt schlechte Toiletten brachten sie zur Verzweiflung, ebenso Frau Wohlgebrechts breite, behäbige Redseligkeit. Das einzig erträgliche waren die drei Kavaliere der unverheirateten Damen, die Lena nach eigenem Geschmack gewählt hatte.
Das kurze Diner schien kein Ende nehmen zu wollen. Endlich war man bis zum Eis gelangt. Gleich danach wollte das junge Paar aufbrechen. Franz machte Anstalten, Lotte ein Wort des Abschieds zu sagen. Sein Groll gegen sie war längst geschwunden. Der Trotz, mit dem er sich gewappnet hatte, längst gelöst. Was konnte diese feine Seele dafür, dass sie ihn nicht hatte lieben können? Rührend lieblich sah sie heute aus in ihrem schlichten weissen Kleidchen mit den Rosenknospen im Gürtel, die so blass waren wie ihr schmales Gesichtchen, aus dem die grossen graublauen Augen wie zwei milde Sterne strahlten. Nur einen flüchtigen Händedruck erhaschte er. Lena liess ihm zu einem Abschiedswort nicht Zeit. Sie trieb, um endlich aus der ihr unerträglich langweiligen Gesellschaft herauszukommen.
»Vielleicht ist es besser so«, dachte Franz trübsinnig. Das beste vielleicht, er sah sie überhaupt niemals wieder.
Mit bangen, traurigen Augen blickte Lotte den Davoneilenden nach. Sie hatte sich für stärker gehalten. Sie hatte nicht geahnt, dass dieser letzte entscheidende Schritt, der sie auf immer von Franz trennen musste, ihr wie ein schneidendes Schwert durch die Seele gehen würde.
Eine kurze Weile hielt sie sich mit übermässiger Anstrengung aufrecht. Dann, mit einem gestammelten Vorwand gegen ihre Nachbarn, entfernte sie sich vom Tisch. Sie wollte zu Luischen hinaus, die Thränen, die ihr heiss und trocken in den Augen brannten, ausweinen bei ihrem Kinde.
Die Hochzeitsfeier hatte in Lenas Wohnung stattgefunden.
Als Lotte jetzt durch den Laden schritt, um so schnell wie möglich ins Freie zu gelangen, fühlte sie sich am Arm zurückgehalten.
»Wollen Sie nicht einen Augenblick auf mich warten, Herzchen? Ich komme gleich mit!«
Lotte zwang sich zu einem zustimmenden Lächeln. Sie konnte die gute Frau Wohlgebrecht nicht zurückweisen, so schwer es ihr auch in diesem Augenblick wurde.
Frau Wohlgebrecht war im Umsehen fertig und an ihrer Seite.[189]
»Lassen Sie sich ja nicht stören, Kindchen, wenn Sie etwa einen bestimmten Weg vorhaben. Ich bin für den Tag ganz frei und begleite Sie mit Vergnügen.«
Lotte wurde rot und verlegen. Es kam ihr so vor, als ob Frau Wohlgebrecht mit dieser Bemerkung etwas anzügliches habe sagen wollen.
Oder war es nur ihr schlechtes Gewissen, das sie so misstrauisch machte?
Als Lotte nicht antwortete, blieb Frau Wohlgebrecht stehen und sah ihr freundlich in die Augen. Ein plötzlicher Gedanke schien ihr gekommen zu sein.
»Wissen Sie auch, Herzchen, dass ich Ihnen noch was schuldig bin?«
Lotte schüttelte den Kopf.
»Doch, die Spazierfahrt, die wir im Januar zur Feier Ihrer Rekonvaleszenz machen wollten und die Sie dann hinter meinem Rücken mit Frau Korn gemacht haben, die holen wir heute nach. Passen Sie auf, an diesem schönen Nachmittag werden wir mehr Freude daran haben, als an dem ganzen langweiligen Hochzeitsdiner.«
Sie winkte, ohne Lottes Antwort abzuwarten, einen Taxameter über die Strasse herüber.
»Wo wollen wir hin? Ich denke nach Hundekehle. Der Kutscher kann uns über Schmargendorf fahren, das ist der nächste Weg von hier.«
Lotte stotterte einen schwachen und verlegenen Widerspruch, von dem Frau Wohlgebrecht nichts zu verstehen schien, denn sie nahm ruhig in der Droschke Platz und sagte dem Kutscher Bescheid. Dann lehnte sie sich bequem in die Kissen zurück und nahm Lottes Hand zärtlich in die ihre.
»Ich habe nämlich so eine Idee, Kindchen, als ob Sie auch gern irgendwo herausgewollt hätten. Sehen Sie mir 'mal ehrlich in die Augen! Ist es nicht so?«
Lotte machte einen vergeblichen Versuch etwas zu erwidern, aber sie brachte kein Wort heraus.
Frau Wohlgebrecht fuhr ihr mit der Hand liebkosend über das heiss gewordene Gesicht.
»I lassen Sie man, Kindchen. Sie brauchen mir's ja nicht zu sagen, wenn Sie nicht wollen. Hier wenigstens nicht bei dem Gerumpel, wo man doch kein Wort versteht. Vielleicht geht's draussen besser, wo's still und friedlich ist. Wie wär's denn, wenn wir in Schmargendorf Station machten? Ihre Freundin, Frau Korn, übrigens ein Prachtexemplar von Frau, schwärmt mir immer von dem netten[190] Gärtchen mit den Fliederbüschen vor, das ihre Bekannte, die Tischlersfrau, draussen hat. Da könnten wir vielleicht 'mal reingucken, Lottchen? Der Flieder blüht grade jetzt so schön, und in der Fliederlaube plaudert's sich's gewiss nicht schlecht von allerlei Dingen, über die man sonst nicht gern spricht, und die man einer alten Frau bisher recht überflüssiger Weise verheimlicht hat. Was meinen Sie, Herzenskind, wollen wir zu den Tischlersleuten fahren?«
Lotte hielt mit beiden Händen Frau Wohlgebrechts Hand umschlossen. Sprechen konnte sie nicht. Ganz still sass sie da wie vor einer Offenbarung. Träumte sie denn oder war es Wahrheit? Diese Frau kannte ihre Schuld und sie verwarf sie nicht? Sie hielt zu ihr und sagte ihr in der denkbar zartesten Weise: »Führe mich zu Deinem Kinde!«
Hatte Gerhart das ängstlich gehütete Geheimnis preisgegeben? Hatte Frau Korn es ihr anvertraut? Hatte sie sich selbst verraten? Gleichviel. Was that's, durch wen ihre Schuld offenbar geworden, wenn die Seelengrösse dieser Frau sie nicht verdammte? Wenn ihre grundlose Güte ihr die stützende, schützende Hand reichte?
Wilmersdorf und Friedenau hatten sie hinter sich. Jetzt bogen sie in die breite Chaussee ein, die geraden Weges durch Schmargendorf in den Grunewald führt. Vor ihnen lag das bläulich dunkle Waldland, zur Rechten und Linken Felder, deren bereits dunkelgrün gefärbte Halme sich in dem sanft darüber hingehenden Hauch des Juniwindes neigten. Die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel und spiegelte sich mit goldenen Reflexen in den Fensterscheiben vereinzelter Gehöfte, in den kleinen stehenden Wassertümpeln zwischen den Aeckern, hinter den sie durchbrechenden niederen Hecken.
Lotte legte den Arm um Frau Wohlgebrechts Schulter und flüsterte:
»Wir werden bald dort sein. Sie können es schon sehen. Dort drüben, rechts von der Strasse, das kleine graue Schieferdach zwischen den dichten dunkeln Büschen.«
Frau Wohlgebrecht drückte Lottes Hand. Dann schwiegen sei beide wieder, bis der Taxameter in der Nähe des Hauses hielt.
»Wir haben uns entschlossen hier zu bleiben«, sagte Frau Wohlgebrecht zu dem Kutscher und lohnte ihn ab.
Dann legte sie ihren Arm in Lottes und liess sich zu der Wohnung der Tischlersleute führen.
Die Frau, die Lotte wohl erwartet haben mochte, da sie[191] oft um diese Zeit herauskam, stand schon mit Luischen im Arm vor dem niederen grünen Staket, das den kleinen Garten umgab.
Jauchzend und lallend streckte das Kind die Arme nach Lotte aus. In tiefer Bewegung drückte sie es einen Augenblick an die Brust, dann reichte sie es Frau Wohlgebrecht, die es auf die Stirn und die blonden Löckchen küsste und dann lange und prüfend betrachtete.
»Gottlob«, sagte sie, Lotte das Kind zurückgebend, »es gleicht Dir auf ein Haar und in keinem Zuge diesem – diesem –« Sie sprach nicht weiter, sondern reichte Lotte die Hand.
»Ich sage jetzt Du zu Dir, Lotte, Du bist von jetzt ab so gut wie meine Tochter. Was er mir sein sollte, seid ihr mir nun, Du und dieses Kind.«
Dann gingen sie, Lotte mit dem jauchzenden Luischen voran, nach der Fliederlaube.
Als sie nach einer Stunde ins Haus zurückkehrten, um das Kind zu Bett zu bringen, wusste Frau Wohlgebrecht alles, was ihr eigenes Herz und Frau Korns Andeutungen ihr bisher noch verschwiegen hatten. Sie hatte Lotte erzählen lassen und sie nur selten unterbrochen. Zum Schluss nur hatte sie gesagt:
»Wenn der Vater Deines Kindes ein anderer wäre, als Gerhart Schmittlein, würde ich auf eine Heirat dringen. So wie es ist – Du siehst, Kind, ich schneide damit in mein eigenes Fleisch – ist es besser, vielleicht gut, dass es so gekommen ist. Du und das Kind, Ihr kommt zu mir. Ihr seid und bleibt meine Familie. Wie sich das alles am besten einrichten lässt, wollen wir in den nächsten Tagen besprechen. Und nun gieb mir das kleine Ding noch 'mal in den Arm, lange genug hast Du's mir vorenthalten.« –
Franz und Lena hatten trotz der dauernd schönen Frühsommertage ihre auf einige Wochen berechnete Hochzeitsreise bedeutend abgekürzt. Ueber die Gründe schwiegen sie. Vielleicht war es nur Geschäftseifer gewesen, der sie so bald zurückgetrieben hatte, wenigstens stürzten sie sich beide mit fast krankhafter Energie in ihre Berufsthätigkeiten.
Lena hatte selbstverständlich ihren Willen durchgesetzt und war mit ihrem Geschäft in der Potsdamerstrasse geblieben. Gegen die englische Tischzeit aber hatte Franz energisch Einspruch erhoben. Da er doch um fünf oder sechs Uhr nicht Geschäftsschluss machen konnte, hatte diese Einrichtung[192] keinen Sinn für ihn und lief überdies seiner ganzen Lebensweise zuwider.
Da nun auch Lena ihre gewohnten Geschäftsstunden von neun Uhr morgens bis zwei Uhr mittags und von fünf Uhr nachmittags bis abends um neun, ja oft um zehn Uhr innehielt, blieb der Verkehr der jungen Eheleute auf die Mahlzeiten und die Sonntage beschränkt.
Franz fühlte sich sehr unbehaglich bei diesem Leben. Er war verheiratet und hatte doch keine eigentliche Häuslichkeit. Nichts von alledem, was er früher für eine Ehe erträumt hatte, erfüllte sich ihm. Es fehlte ihm die liebende[193] Gefährtin, die Behagen um ihn her verbreitete, wenn er, von der Arbeit ermüdet, in seine Wohnung hinaufstieg. Es fehlte ihm die sorgende Hausfrau, die sich um sein leibliches Wohl und Wehe kümmerte, die zärtliche Freundin, die teilnahm an den Sorgen und Freuden des Geschäfts. Was fragt ein Mann wie er nach einer modernen Frau, die ihren Kopf d'rauf setzte, selbst ihren Mann zu stehen? Lena hatte es nicht mehr nötig zu verdienen, und damit fiel für Franz jeder Grund zur Aufrechterhaltung ihres eigenen Geschäftes fort.
Anfangs hatte er nicht den Mut gehabt, auf diesen Punkt, der vor der Ehe so viel und stets zu seinen Ungunsten erörtert worden war, zurückzukommen. Noch stand er zu sehr unter dem Banne von Lenas Persönlichkeit. Er fürchtete sich davor, durch ein Verlangen, das er stellte, den Zauber der wenigen Liebesstunden zu zerstören. War er dahin, was blieb ihm noch? So verschob er es von Woche zu Woche, ihr Vorstellungen zu machen, sie zu vermögen, wenigstens einen Teil des Tages sich ihm und ihrem Hause zu widmen.
Endlich, an einem Sonntag, als Lena selbst anfing, über den Zeitaufwand und die Anstrengung zu klagen, die der weite Weg trotz des Rades bereitete, entschloss er sich zu einem offenen Wort. Lena sah ihn zuerst an, als ob er plötzlich chaldäisch gesprochen und verlangt hätte, dass sie ihn verstehen solle. Dann fuhr sie auf.
»Was denn, noch weniger soll ich im Geschäft sein? Was ich so mühsam begonnen habe, soll ich nun, da etwas erreicht ist, bei Seite werfen? Einen netten Begriff hast Du von mir. Im übrigen, mein Lieber, hast Du mich wirklich nicht verstanden. Als ich eben über den Zeitverlust infolge des weiten Weges klagte, wollte ich nicht etwa damit sagen, dass ich weniger, sondern ganz im Gegenteil, dass ich mehr in meinem Geschäft sein wolle, und es zu diesem Zweck für sehr wünschenswert halte, dass wir die Wohnung hier aufgeben und hinausziehen. Welcher anständige Mensch wohnt heute überhaupt noch in der Nähe des Moritzplatz!«
Während sie sprach, hatte sich sein Gesicht immer mehr verfinstert. Da sie viel zu bequem war, um Streit zu suchen, machte sie, sobald sie die Veränderung in seinen Zügen sah, eine scherzhafte Bemerkung und beugte sich zu ihm herüber, um ihn zu küssen. In ihrer sieggewohnten Weise glaubte sie die Sache damit abgethan. Er aber wich ihrer Liebkosung aus und verliess das Zimmer, ohne ein Wort zu erwidern.[194]
Er stieg die Treppe zu seinem Geschäftslokal hinunter und schloss sein Privatbureau auf.
Dann sank er stöhnend, das Gesicht in beiden Händen vergrabend, in einen Sessel.
Mein Gott, was hatte er gethan! Wie hatte er sich hinreissen lassen können, dieses Mädchen zu heiraten, das ihn nicht einmal liebte, wie er es zu Anfang geglaubt und damit seine eigenen Bedenken ertötet hatte. Dieses Mädchen, das nicht des kleinsten Opfers, nicht des kleinsten Zugeständnisses fähig war, das seinen eigenen Weg ging, als ob er überhaupt nicht auf der Welt gewesen wäre! Lena liebte ihn nicht. Von der ersten Stunde ihrer Ehe ab hatte er es gewusst. Warum aber hatte sie die Küsse, mit denen er sie im Sinnentaumel geküsst, um seine unselige Liebe zu Lotte darin zu ersticken, für ernste Werbung genommen? Warum diese Küsse durch Worte ergänzt, die er nie gesprochen, nie gedacht hatte?
Wenn er es heute recht überlegte, hatte nicht er um Lena, nein, Lena hatte um ihn geworben. Aber warum, warum? Sie liebte ihn ja nicht, hatte ihn ja niemals geliebt. Täglich, stündlich bewies sie es ihm. Was er für Liebe gehalten, war auch bei ihr nichts als ein Taumel gewesen, in dem sie einander fortgerissen hatten. Warum hatte sie ihn aber heiraten wollen? Sie war ja doch nicht die Frau, die es für moralisch geboten hält, ein paar heisse Küsse gleich durch die Ehe legitimieren zu lassen? Sie, die so gern das moderne, über alle Vorurteile erhabene Weib spielte?
Da plötzlich traf den verzweifelt Grübelnden ein Gedanke, jäh, grell, wie ein Blitzstrahl. Wie, wenn Lena Gründe geleitet hätten, die weit ab von einer Neigung zu ihm lagen, wenn sie ihn nur gegen einen andern hatte ausspielen wollen, dessen sie überdrüssig geworden war, gegen diesen Bornstein, von dem er sie hatte loskaufen müssen mit pekuniären Opfern, die ihn für den Augenblick fast erdrückt hatten?
Oder war sie am Ende doch nicht die kluge, kühle Frau gewesen, für die er sie immer gehalten hatte, die mit allen andern gespielt und nur mit ihm Ernst gemacht hatte?
Er sprang auf und stiess den Stuhl, in dem er gesessen hatte, weit hinter sich zurück. Wenn das wahr wäre, wenn dieses Mädchen ihn zum Narren gehalten hätte, ihn, den dummen Kleinstädter, der blind und blöde auf ihre Reize hereingefallen war, wenn sie ihn nur so rasch in die Ehe hineingetrieben hätte, weil – weil ein anderer vor ihm –![195] Er schlug sich vor den Kopf. Er raste. Er reckte die Fäuste drohend in die Luft. Er war wie von Sinnen. Dann plötzlich kam eine grosse Ruhe über ihn. Wohin hatte er sich denn verirrt? Hatte er etwa ein Recht, gegen Lena zu toben, selbst wenn es so war? Was hatte er denn anders gethan, als sie schmachvoll betrogen, da er sie mit der Liebe zu Lotte im Herzen geheiratet hatte?
Eisig kroch ihm diese Erkenntnis zu Herzen. Nicht einmal das Recht stand ihm zu, nach ihrer Schuld zu forschen, oder aber, wenn er sie wirklich gefunden hätte, darüber zu Gericht zu sitzen.
Nichts blieb ihm, nichts, als das selbstverschuldete Elend zu tragen, den Makel, wenn ein solcher auf der Ehre seines Hauses lag, sitzen zu lassen, ungesühnt, ungerächt. –
Lena hatte die ganze Angelegenheit nur als eine Laune ihres Mannes betrachtet. Er konnte ja am Ende nicht ernsthaft daran denken, dass sie zu Haus sitzen sollte und auf ihn warten, bis er geruhte, vom Geschäft heraufzukommen, um dann als unterwürfige Sklavin Gott weiss was für niedere Dienste für ihn zu verrichten.
Mit der veralteten Anschauung, dass die Frau nur eine höhere Magd des Mannes sei, hatte man ja, in Berlin wenigstens, gründlich aufgeräumt. Wenn Franz noch so kleinstädtische Anschauungen hatte, musste er eben versuchen, sie sich abzugewöhnen. Gelang es ihm nicht, blieb ihm nichts übrig, als den Schaden zu tragen.
Als Lena aber am Ende einsah, dass Franz die Sache wirklich ernst und unbequem schwer nahm, zuckte sie die Achseln und ging erst recht ihre eigenen Wege. Es war ihr um so leichter gemacht, Franz zu trotzen, als sich jetzt, nach dem Herbst zu, ihre alte Stammkundschaft wieder bei ihr einfand und damit die Theestunden in ihrem türkischen Boudoir wieder ihren Anfang nehmen konnten. Da war sie wenigstens vor Langerweile und Vorwürfen sicher. Dass ihre alten und jungen Verehrer jetzt, seit sie Frau war, ihr nur um so ungenierter den Hof machten, war das einzige, was ihr die Ehe erträglich machte. Sie hatte ja auch gar nichts anderes mit dieser Heirat bezweckt, als Frau zu heissen und sich freier noch bewegen zu können denn als Mädchen. Dass Franz, den sie blind verliebt und zu allem willig geglaubt hatte, Kritik übte und persönliche Ansprüche geltend machte, war ihr freilich völlig gegen den Strich. Nun, eine Ehe war am Ende keine Zuchthausstrafe auf Lebenszeit. –[196] Lotte und Frau Wohlgebrecht waren in den Vorbereitungen für ihr zukünftiges gemeinsames Leben, das um Anfang Oktober beginnen sollte, schon sehr weit vorgeschritten. Bald nach ihrem ersten gemeinsamen Besuch an Lenas Hochzeitstag bei Luischen hatte Frau Wohlgebrecht Lotte ihren Plan entwickelt. »Mein Mädelchen«, hatte sie ihr gesagt, »die Sache wird folgendermassen gemacht, und wenn's nicht der liebe Herrgott selber ist, wollen wir mal den sehen, der uns einen Strich durch die Rechnung macht. Ich gebe das Geschäft hier auf – red' Du mir nur da nichts dagegen, für mich ist es ein Glück, wenn ich von hier fortkomme. Ich bin viel zu unmodern für Berlin und komme hier ebenso wenig auf einen grünen Zweig wie Du. Ausserdem verpussele ich hier mit den teuren Spesen und so weiter viel zu viel Geld, denn wenn ich ja auch, Gott sei Dank, ein bischen was zuzusetzen habe, für unser Luischen soll doch auch mal was übrig bleiben. Na, dank' mir nur heute nicht schon, Lotte, einstweilen denk' ich noch nicht ans Abfahren, wo ich eben erst Mutter und Grossmutter geworden bin. Ich suche hier in der Mark was für uns, ein nettes Städtchen, hübsch und freundlich gelegen, nicht zu gross und nicht zu klein, wo sich für ein paar ordentliche Frauensleute, wie wir es sind, noch Arbeit und Verdienst findet. Denn arbeiten und verdienen musst Du natürlich auch, mein Schäfchen, den ganzen Tag mit Luischen rumspielen, das giebt es nicht. Wir mieten eine kleine Parterrewohnung mit einem netten Gärtchen für unsere Puppe. Rechts machst Du Dein Putzgeschäft auf – was Du für Deine einstige Heimat gekonnt, wirst Du ja für Deine künftige auch wieder leisten können, dies verdeixelte Berlin dazwischen, durch das wird ein dicker Strich gemacht – links wird eine Leihbibliothek etabliert. Meinen Gehilfen – dafür, dass Gerhart ihn besorgt hat, ist er wirklich ein merkwürdig anständiger Kerl – nehme ich einstweilen mit, bis alles im Gange ist. Ich habe schon mit ihm darüber gesprochen. Später führe ich das Geschäft wieder allein wie früher, ehe der Junge, der Gerhart, zu mir kam. Tagsüber wird gearbeitet, das Luischen gewartet und erzogen, abends sitzen wir dann gemütlich in unserem Wohnzimmerchen zusammen, im Sommer in unserer Fliederlaube – eine Fliederlaube müssen wir unbedingt haben, schon zur Erinnerung an Schmargendorf –, dann wird geplaudert und gelesen, und ich wette, es soll in der ganzen Stadt keine glücklichere Familie geben als die unsere.«
Was hätte die beglückte Lotte auf diesen Plan an ders sagen sollen, als danken und wieder danken und sich geloben, dieser Frau ihre Gutthaten zu lohnen bis an das Ende[197] ihrer Tage. – Mit Luischen beisammen sein dürfen den ganzen lieben langen Tag, ihr Bettchen nachts neben dem ihren haben, wieder arbeiten können mit der Aussicht auf einen bescheidenen Erfolg, die beste mütterliche Freundin in einer geordneten Häuslichkeit sich zur Seite wissen, den Leuten wieder frei in die Augen sehen dürfen, womit hatte sie ein so grosses, friedlich-schönes Glück verdient?
Schon die Vorfreude wirkte auf Lotte wie stärkende Medizin. Sie bekam wieder mehr Farbe, ihr Gang wurde freier und elastischer, auch ein wenig runder schien sie wieder werden zu wollen.
Frau Korn beobachtete das alles mit einem lachenden und einem weinenden Auge. So sehr sie von ganzer Seele Lotte die gute Zeit gönnte, die ihr bevorzustehen schien, die Trennung kam ihr doch gar zu sauer an. Da sie an Lottes Wohlthäterin ihren wehmütigen Zorn doch unmöglich auslassen konnte, ging alles auf Rechnung des »infamigten Schwarzkopfs«!
Wenig genug bekam Frau Korn ihren früheren Schützling jetzt noch zu sehen. Lotte war immer geschäftig und viel unterwegs. Bald in der Zimmerstrasse, um Frau Wohlgebrecht zur Hand zu gehen, bald bei Luischen draussen, bald eifrig in ihren engen vier Wänden an der Nähmaschine. So weit es reichte, wollte sie ihre und Luischens Wäsche und Garderobe noch vervollständigen, damit Frau Wohlgebrecht mit ihrer neuen Familie doch ein bischen Ehre einlegen konnte.
Eines Abends um die Mitte September, Lotte nähte gerade an einem roten Kittelchen für das Kind, wurde an ihrer Klingel gezogen.
Das kam jetzt so selten vor, dass sie ordentlich erschrak. Wer konnte noch so spät zu ihr kommen? Als sie die Thür öffnete, stand Franz vor ihr.
Zum erstenmal seit jenem Regentage im Februar, als sie seine Liebe hatte zurückweisen müssen, trat er wieder über ihre Schwelle.
Sie begrüssten einander herzlich, doch nicht ohne Verlegenheit. Nach den ersten Worten schon stockte ihr Gespräch. Franz stand neben dem Tisch, an dem Lotte gearbeitet hatte, und drehte den Hut unschlüssig in der Hand. Lotte hatte sich gesetzt und mechanisch das Kittelchen für Luischen wieder zur Hand genommen. Sie fühlte, dass sein Blick schwer und traurig auf ihr ruhte.[198]
»Willst Du Dich nicht setzen, Franz?« fragte sie endlich.
»Wenn Du erlaubst, auf einen Augenblick, Lotte.«
Er sah sich im Zimmer um, wo schon allerhand gepackte Kisten und Kasten umherstanden.
»Ich höre – Du selbst hast Dich ja nie bei uns sehen lassen – Du gehst fort von Berlin. Da wollt' ich Dir doch wenigstens Lebewohl sagen.«
Sie sah nicht von ihrer Arbeit auf. Seine Stimme klang so traurig, dass sie sich fürchtete ihn anzusehen.
»Hat Lena es Dir gesagt? Ich schrieb es ihr vor ein paar Wochen.«
»Lena? Nein. Ja, Lotte, weisst Du denn nicht –?« »Was Franz?« Sie sah ihn nun doch an, erschreckt und ahnungsvoll.
»Lena und ich haben uns getrennt!«
Sie streckte die Hand nach der seinen aus.
»O mein Gott, Franz! Armer Franz!«
Er legte seine heisse Stirn einen Augenblick auf ihre schlanken kühlen Finger. Dann richtete er sich schnell wieder auf.
»Ja, wir haben uns getrennt. Es musste sein. Es ging nicht mehr.«
Lotte sah angstvoll zu ihm auf.
»Ist etwas besonderes vorgefallen?«
Ein furchtbarer Schreck war ihr durch die Glieder gefahren. Sie dachte an Bornstein. Wenn Lena Franz betrogen hätte!
Franz schüttelte den Kopf.
»Nein, nichts besonderes.«
Er sprach immer in derselben stillen, resignierten Art. »Nur Lena wollte in allen Dingen ihren eigenen Weg gehen. Sie wollte niemals für mich und das Haus, stets nur für ihr Geschäft da sein. Das wurde schlimmer von Tag zu Tag, und als ich erst anfing, ihr Vorhaltungen zu machen, war es ganz vorbei. Eines Abends kam sie nicht mehr nach Haus. Ihr Geschäft erfordere, dass sie dort wohne, schrieb sie mir – und da, da war es aus mit meiner Geduld, mit allem –«
Er unterbrach sich und brütete stumm vor sich hin.
Um den Versuch zu machen, ihn zu trösten, sprach Lotte mit ihrer sanften Stimme auf ihn ein.
»Wie das nur so kommen konnte! Du solltest es noch einmal mit ihr versuchen, Franz. Lena hatte sich wirklich[199] so sehr zu ihrem Vorteil verändert, sie war eine ganz, ganz andere geworden, die besten Hoffnungen hatte ich für Euer Glück!«
»Zum Vorteil verändert!« Er lachte bitter auf. »So lange sie ein Leben führte, so lange sie geniessen konnte nach ihrem eigenen trotzigen Sinn, so lange war sie zum Vorteil verändert, ja. Sobald es aber galt, auch einmal an einen andern zu denken, kehrte sie ihren alten Egoismus, der mich an dem Kinde schon so abgestossen, ihre kalte, selbstsüchtige Natur wieder heraus.
Ich habe lange nach anderem gesucht, ja selbst nach einer Schuld. Ich bin davon zurückgekommen. Lena hat vor ihrer Ehe gewisse Grenzen niemals überschritten, dazu ist sie zu berechnend, sie wird es auch aller Voraussicht nach niemals thun. Aber sie wird auf die Dauer jeden unglücklich machen, sich selbst am meisten, wenn sie ihrer so hochgeschätzten Unabhängigkeit, ihrer begehrlichen Genusssucht erst überdrüssig geworden sein wird. Du kennst mich, Lottchen, ich bin ein einfacher Mensch und seit ich Dich verloren habe, mache ich noch weniger Ansprüche ans Leben als sonst, aber was Lena mir zugemutet, darüber kommt kein Mann fort, wenn er einer ist.« Er hielt einen Augenblick inne, dann brach es aus ihm hervor, wie ein glühender, lang zurückgedämmter Strom.
»O, Lotte, Lotte, warum konntest Du mich nicht lieben!«
Er war zu ihren Füssen niedergesunken wie gefällt. Den Kopf hatte er in ihre Hände gelegt, und Thränen, bittere, qualvoll heisse Thränen tropften aus seinen Augen auf ihre Hände herab.
Regungslos sass Lotte da, mit bleichem über ihn gebeugtem Antlitz. Ihre Seele kämpfte einen schweren Kampf.
Durfte sie länger schweigen? War sie diesem Mann, der da zerbrochen vor ihren Füssen lag, zerbrochen durch ihre Schuld, nicht die volle Wahrheit schuldig? Sie musste sprechen auf die Gefahr hin, seine Liebe, seine Achtung zu verlieren.
»Franz«, bat sie leise, kaum hörbar, »lieber Franz, steh' auf. Ich bin nicht wert, dass Du vor mir kniest.«
Er erhob sich langsam und sah ihr ins Gesicht. Ihre Stimme hatte so wundersam zärtlich geklungen, wie er sie nur in seinen verschwiegensten Träumen gehört hatte, all die vielen Jahre lang, in denen er sich mit dem Gedanken getragen hatte, sie einst zu der seinen zu machen.[200]
Langsam liess er sich wieder auf den Stuhl, dicht an ihrer Seite fallen, ihre Hände behielt er fest in den seinen.
»Damals, Franz, damals als Du zu mir kamst und ich Dir hier an dieser Stelle sagte, warum ich nicht Dein Weib werden könne – da – da –«
»Da Lottchen?«
Sie senkte das blonde Haupt.
»Da habe ich Dich belogen, Franz.«
»Belogen?«
»Es war nicht wahr, dass ich Dich nicht liebte. Ich liebte Dich aus tiefster, tiefster Seele –«
»Lotte!« Er schrie es mehr als er es sprach, halb jubelnd, halb verzweifelnd, und wollte sie an seine Brust ziehen.
Sie aber stiess ihn heftig zurück.
»Lass, lass, rühr' mich nicht an, Du wirst mir's danken, dass ich's Dir versagte. Ich liebte Dich, ja – aber ich durfte Dein Weib nicht werden, weil – weil ich einem andern gehört hatte!«
Er stöhnte laut auf wie ein verwundetes Tier.
»Und, und dieser andere?«
»Hat mich verlassen und vergessen –« Sie hob das rote Kittelchen auf, an dem sie genäht hatte, und sagte mit einer wilden Energie:
»Und dies, dies ist für mein Kind!«
Franz erhob sich schwerfällig, müde und stumm, wie ein alter Mann.
Sie war darauf gefasst, dass er sie ohne Lebewohl verlassen würde. Aber er machte keine Anstalten zu gehen. Langsam, mit schweren Tritten und gesenktem Haupt, schritt er im Zimmer auf und ab. Nach einer Weile, die ihr endlos dünkte, blieb er vor ihr stehen. Mit zusammengezogenen Brauen fragte er:
»Warum hast Du mir damals nicht die Wahrheit gesagt?«
»Ich war krank, elend und ganz verlassen. Ich fürchtete, Du würdest mich verachten, Franz, wenn Du es hörtest, und das, das hätte ich damals nicht ertragen.«
»Und jetzt?«
Fast atemlos stiess er es heraus.
Sie zögerte einen Augenblick, dann flüsterte sie:
»Als ich Dich so unglücklich sah, glaubte ich Dir die Wahrheit schuldig zu sein, selbst auf die Gefahr hin, dass Du – dass Du mich –«
Er unterbrach sie heftig.[201]
»Sprich das Wort nicht noch einmal aus, es entwürdigt Dich und mich. Ich bin ein kleiner, sehr einfacher und beschränkter Mensch, Lotte, das habe ich, seit ich in Berlin bin, erst so recht einsehen gelernt. So beschränkt aber bin ich denn doch nicht, dass ich nicht wüsste, dass es die Gründe sind, die die That zu einer schuldigen oder schuldlosen machen. Ich kenne Deine Geschichte nicht, aber ohne sie zu kennen, weiss ich, dass Du ein Opfer und zwar ein schuldloses bist. Unterbrich mich nicht. Mein Kopf ist schwer und wirr, ich verliere sonst wieder den Faden, und das eine wenigstens möchte ich Dir noch sagen, dass meine Liebe zu Dir unverändert die gleiche ist, und dass, wenn Du mir damals die Wahrheit gesagt hättest, es keinen Grund für mich gegeben hätte, Dich und das Kind nicht an mein Herz zu nehmen.«
Er beugte sich über die still Weinende und küsste sie sanft auf die Stirn.
»Gott schütze Dich, Lottchen, Dich und Dein Kind. Und wenn Du mich einmal brauchen solltest, so rufe mich. Ich werde immer für Dich da sein. Immer, hörst Du, immer!«
Er nahm sie still in seine Arme und fuhr ihr mit der Hand sanft liebkosend über das krause blonde Haar. Dann schritt er durch die schmale, niedrige Thür hinaus, wortlos, lautlos wie ein Schatten. –
Die Uebersiedelung hatte stattgefunden. Alles war genau nach Frau Wohlgebrechts Programm vor sich gegangen. In der netten Parterrewohnung mit dem friedlichen Gärtchen dahinter, in dem noch jetzt – um die Mitte Oktober – eine Fülle von späten Sommerblumen blühten, war es nicht schwer sich heimisch zu machen.
Lotte war denn auch sehr schnell mit den Einrichtungen für sich und Luischen fertig geworden. Ihr Arbeitsstübchen war zwar lange nicht so geräumig wie das in der Zimmerstrasse, dafür hatte es aber einen hübschen Blick auf die das Städtchen umsäumende bewaldete Hügelkette, und wenn die Thür offen stand, konnte sie in dem kleinen Nebengemach des Kindes Bettchen stehen sehen, seinen Schlummer bewachen, es aufnehmen, wenn es munter wurde und ihr zu Füssen auf einem bunten Deckchen spielen wollte. Welch ein neues, nie gekanntes Glück war das alles für sie!
Nicht so schnell wollte es mit der mühsameren Einrichtung der Leihbibliothek vor sich gehen, trotz der Tüchtigkeit des jungen Gehilfen.[202]
Lotte half, wo immer sie konnte, so auch heut an einem schönen klaren Nachmittag, an dem die Sonne so warm ins Zimmer schien, dass Luischen wohl verwahrt in ihrem Wägelchen, am offenen Fenster spielen durfte.
Nachdem man ein paar Stunden gearbeitet hatte, meinte Frau Wohlgebrecht, es sei nun genug für heut. Bis Ende der Woche würde man ja wohl durchkommen, und wenn sie am Montag das Geschäft eröffnen könnte, sei es Zeit genug. Lotte möge ihr den Gefallen thun und sich einen Packen Bücher herüber bringen lassen, den sie da auf dem Fensterbrett bei Seite gelegt habe. Sie habe so eine Ahnung, als ob das wieder 'mal Makulatur sei, die gar nicht erst eingeräumt zu werden brauche. Es fände sich ja leider unter ihren Beständen ein Wust von Dingen, die für das hiesige Publikum gar nicht in Frage kämen. Zum Beispiel all der übermoderne Kram, in den Gerhart so viel schönes Geld hineingesteckt habe. Hier würde hoffentlich kein Mensch nach solchem Krempel fragen. Lotte möge sich eine Privat-Bibliothek davon anlegen, wenn sie wolle.
Nachdem Luischen zu Bett gebracht war und Lotte sich eben an das Auspacken der Bücher machen wollte, klopfte Frau Wohlgebrecht an die Thür, um Lotte herüber zu holen.
»Das Aussuchen kannst Du nach dem Abendbrod noch besorgen. Jetzt musst Du erst einmal sehen, wie gemütlich es heut drüben bei mir, das heisst bei uns ist, denn Du weisst, das Wohnzimmer gehört uns beiden. Das alte schwarze Rosshaarsofa sieht hier gar nicht so schäbig und altmodisch aus wie in Berlin, und auch die anderen alten Scharteken machen sich hier viel besser. Vielleicht ist auch die wundervolle Abendbeleuchtung daran schuld, dass mir das alles heut so besonders gut gefällt. Sieh nur, wie wunderbar der Himmel gefärbt ist, da drüben links, hinter dem kleinen Buchenberg, so heisst er ja wohl, muss die Sonne gerade untergegangen sein.«
Es war wirklich ein hübscher Anblick, dies altmodische, von dem letzten warmen Licht des Tages erfüllte Zimmer mit dem freien Blick in eine liebliche Landschaft hinaus. Lotte aber hatte das Gefühl, als ob Frau Wohlgebrecht sie nicht um dieses Anblicks willen gerufen, sondern dass sie irgend etwas auf dem Herzen habe und ihre ganzen umständlichen Schilderungen nichts als eine gutmütige Verlegenheit gewesen seien.
Sie legte den Arm zärtlich um die Schulter der kleinen Frau, und sich ein wenig zu ihr niederbeugend, sagte sie:[203] »Du hast mir was zu sagen, nicht wahr, Tantchen?«
Die Alte schüttelte zuerst den Kopf, dann nickte sie und fasste in ihre Tasche.
»Wenn Du mir versprichst, Dich nicht zu ärgern oder gar zu betrüben – es – es handelt sich um Gerhart.«
Lotte lächelte.
»Das versprech' ich Dir gern. Du weisst ja, was Gerhart betrifft, giebt es nichts mehr, das mich erregen könnte.«
Frau Wohlgebrecht sah Lottchen einen Augenblick prüfend an, als ob sie ihren Worten keinen rechten Glauben schenke.. Als sie bemerkte, dass das Mädchen wirklich ganz ruhig blieb und nicht einmal die Farbe wechselte, zog sie ein stark zerknittertes Zeitungsblatt aus der Tasche. Dann setzte sie sich ans Fenster und strich den Bogen umständlich auf den Knieen glatt.
»Dies ist mir von Berlin aus nachgeschickt worden. Es war ans Geschäft adressiert. Wahrscheinlich eine Bosheit von einem lieben Kollegen. Gerhart selbst würde schwerlich eine solche Kritik über sich schicken.« Frau Wohlgebrecht tätschelte liebkosend Lottes Hand.
»Du wirst Dich schon drein finden müssen, mein Schäfchen, der Ruhm, für den Du Dich geopfert hast, hat nicht lange vorgehalten. Ich dacht's mir wohl. Das ist immer 'ne windige Sache, wenn der Mensch erst einen andern niedertreten muss, um in die Höhe zu kommen. Na, nun hör' 'mal zu, was da geschrieben steht in der Münchener Allgemeinen nämlich. Es ist sehr gelehrt. Allzuviel versteh' ich nicht davon und Du vielleicht auch nicht, aber immerhin ist es doch gut, wenn man so ungefähr darüber Bescheid weiss, was von dem Jungen zu erwarten ist.«
Frau Wohlgebrecht rückte ihre Brille zurecht und las:
»Gestern Abend ging im Theater der Intimen, nachdem das Hoftheater, das Schauspielhaus und das Gärtnerplatztheater das Stück zurückgewiesen hatten, Gerhart Schmittleins dreiaktige Lebenskomödie: »Die Seelenfresser« in Scene. Um es von vornherein festzustellen: die Seelenfresser waren eine grosse literarische Enttäuschung, die nicht ohne tiefere Bedeutung ist. Schmittlein, der erfolgreiche Dichter des »Frühlingsdramas«, scheint nach dem gänzlichen literarischen Fiasko seiner »Seelenfresser« auch jener weitverbreiteten Species der jungdeutschen »Moderne« zugezählt werden zu müssen, die, wenn ihr sehr bescheidenes Können sich mit dem Zufall eines stark individuellen Empfindens paart, es zu einem glücklichen Wurf zu bringen pflegt, ohne diese[204] massgebenden Faktoren aber niemals wieder einen literarischen Höhepunkt erreicht. Wenn dabei der Dichter nur für seine eigene Person zu Schaden käme, würde die Sache belanglos sein. Dem ist aber leider nicht so. Wir haben es wiederholt erlebt, dass diese modernen Jünglingsdichter mit dem rauschenden Erstlingserfolg geradezu zum Krebsschaden für die Entwicklung unserer dramatischen Literatur werden, denn sie sind es zumeist, die sich für ihre Retter – anfangs die anerkannten, dann die verkannten – halten und gefährliche Schule machen.
Die »Seelenfresser« behandeln, man könnte sagen selbstverständlich, wie das Frühlingsdrama, das Hohelied der jungdeutschen Schule, die freie Liebe. Aber der Stoff wollte gestern nicht zünden. Trug einzig die mangelhafte Arbeit schuld? Ist man des Themas schon überdrüssig geworden, oder gewinnt selbst in den Kreisen dieses mehr als angekränkelten Publikums die gesunde Erkenntnis Raum, dass der erbitterte Kampf der freien Liebe gegen die Ehe am Ende aller Enden ein ebenso lächerlicher als vergeblicher ist? Gerade der weibliche Teil des Publikums, der mit frenetischem Beifall das Stück zu halten suchte, sollte sich's endlich gesagt sein lassen, wie sehr er sich mit dieser Identifizierung der Theorie von der freien Liebe ins eigene Fleisch schneidet. Wenn die Institution der Ehe nicht existierte, sie müsste geradezu erfunden werden, und zwar vor allem zum Schutz für diese freien Liebespriesterinnen. Ich möchte wohl wissen, wie viele dieser frenetischen Beifallsklatscherinnen nicht nach dem Standesamt schreien würden, sobald sie die Folgen dieser verlockenden freien Liebe an sich selbst erfahren müssten. Und diese Verherrlichung des Undurchführbaren, diese blasse, niemals in eine gesunde Praxis umzusetzende Theorie, nennt sich das moderne Wirklichkeitsdrama!
Frau Wohlgebrecht legte die Zeitung ebenso umständlich zusammen, wie sie sie auseinandergefaltet hatte.
Dann stand sie auf und küsste Lottchen, die noch immer mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt stand.
»Weisst Du Kind, so weit ich es verstehe, hat der Mann, der das geschrieben hat, recht. Aber am Ende, es giebt auch Ausnahmen, Lottchen, die nicht nach dem Standesamt schreien und gut daran thun.«
Sie drückte ihr noch einmal die Hand und ging dann geräuschlos aus dem Zimmer.
Eine Weile blickte Lotte noch nachdenklich vor sich hin. Dann verliess auch sie den inzwischen dämmerig gewordenen Raum und ging hinüber an ihre Arbeit.[205]
Das erste, was ihr entgegenfiel, als sie das Buchpacket öffnete, war der Gedichtband, den Gerhart ihr am ersten Abend ihrer Bekanntschaft aus der Bibliothek mitgegeben hatte.
Sie schlug die Verse auf, die sie damals so schwer bedrückt und geängstigt hatten, die ihr dann noch einmal an einem schwülen Sommerabend vor Lenas Blumenfenster so wirr durch den Kopf geflogen waren, und las die grausame Prophezeihung still für sich:
»Die Not im löch'rigen Gewande,
Zertritt die Perle der Moral;
Das Los der Armut ist die Schande,
Das Los der Schande das Spital!
Ja, jede Grossstadt ist ein Zwinger,
Der rot von Blut und Thränen dampft,
Drum hütet Euch, ihr armen Dinger,
Denn diese Welt hat schmutz'ge Finger,
Weh', wem sie sie ins Herzfleisch krampft.«
Dann stand sie auf und trat leise an das Bett ihres Kindes. Sie beugte sich über den kleinen blonden Lockenkopf und küsste ihn, und langsam, langsam sank sie neben dem kleinen Bettchen in die Kniee.
»Ich bin gerettet worden«, flüsterte sie, »ehe ich ganz verloren gegangen. Dich aber will ich halten, dass Du keiner Rettung bedarfst. Das sei die Sühne für meine Schuld.«
Und erhobenen Hauptes schritt sie von dem Kinde fort an ihre Arbeit zurück.
Ausgewählte Ausgaben von
Großstadt
|
Buchempfehlung
Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«
74 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro