[496] Maria hielt allein die erste Nachtwache bei ihren Toten. Man hatte die Hand des Kindes aus der seines Vaters nicht zu lösen vermocht, und so ruhten sie nebeneinander auf einem Lager und sollten auch in einem Sarge ruhen. Ihre bleichen Gesichter trugen keine Spur des letzten schweren Kampfes. Maria hielt die beiden umfangen. Sie lag an sie geschmiegt, bleich und stumm wie sie, aber ohne ihren Frieden. Einen Trost nur hatte sie in ihrer Vernichtung und empfand ihn, während sie ihr Haupt an das stille Herz drückte, an dessen lebensfreudigem Schlag all ihr Glück gehangen.
Wohl ihr, daß ihm das Bitterste erspart, daß sein Glaube an sie unerschüttert geblieben war bis ans Ende. Dank der geheimnisvollen Kraft, die das Wort, das ihn elend gemacht hätte, sooft sie es aussprechen wollte, zurückgedrängt in ihre Brust. Nun war er eingegangen zur ewigen Ruhe, unerschüttert in seiner seligen Zuversicht.
Im anstoßenden Zimmer befand sich Lisette und unterdrückte ihr Schluchzen, um von der Herrin nicht gehört und fortgewiesen zu werden. Einmal wagte sie sich leise bis zur Tür heran und spähte durch das Schlüsselloch.
Maria saß neben dem Bette, unbeweglich in den Anblick der Ihren versunken, mit einem Ausdruck von so herzzerreißender Trauer, daß Lisette zurückfuhr. – Nein, das ertrug sie nicht, das konnte sie nicht sehen ...
Am Morgen endlich pochte sie und trat, als nach einer Weile keine Antwort kam, ungeheißen bei ihrer Gebieterin ein, rief sie an und sagte: »Es ist Tag!«
Maria schreckte auf: »Schon Tag?«
»Ja, mein armes Kind; und du mußt fort. Die Herren sind da ... Du weißt – und der Graf Wilhelm.«
Der hatte mit Helmi an der Tür gestanden. Seine Augen waren rot und geschwollen, seine Lippen zuckten. Er konnte nicht sprechen und lehnte sich hilflos an seine Frau. Der Doktor und Willi kamen, und hinter ihnen trat schüchtern Erich ein, der mit beiden Händen einen großen Strauß weißer Rosen festhielt.
»Der Gärtner hat mir gesagt, ich soll das dem Hermann bringen«, sprach er zu seiner Mutter. »Hermann, da hast du.«
Er legte die Blumen auf das Bett, und auf dessen Rand gestützt, hob er sich, so hoch er konnte, und streckte den Hals und spitzte die Lippen, um seinen Bruder zu küssen. Doch[496] erreichte er ihn nicht und fragte: »Warum hast du heute nicht bei mir geschlafen?« – Jetzt erblickte er den Vater, der sich auch nicht rührte, dessen Augen auch geschlossen waren ...
Ganz bestürzt trat er zurück. »Warum schlafen sie so lange?« rief er plötzlich aus. »Sie sollen aufwachen, Mutter, sag ihnen, daß sie aufwachen sollen!«
Maria beugte sich zu ihm nieder und schloß ihn in ihre Arme. Die ersten Tränen, die sie seit gestern geweint hatte, fielen auf das Haupt ihres Söhnchens.
Wilhelm nahm es auf sich, Gräfin Agathe die Kunde des furchtbaren Verlustes, den sie erlitten hatte, selbst mitzuteilen. Helmis Bitten brachten ihn dazu. Sie wollte ihn fort haben von der Unglücksstätte, ihn zwingen, in der Ausübung einer schweren Pflicht Herr seines Schmerzes zu werden.
Früher, als man gedacht hatte, kehrte er zurück. Er war Tag und Nacht gefahren, teils Lokalbahnen benutzend, teils mit Bauernpferden, und meldete die Ankunft der Gräfin für den nächsten, den Morgen der Beisetzung an.
»Wie hast du sie gefunden?« fragte Maria abgewandten Blickes.
»Rätselhaft – eine Heilige oder ein Stein«, erwiderte Wilhelm und erzählte, daß die Gräfin noch in der Kirche war, als er um neun Uhr früh in Dornachtal ankam. Der neue Beichtvater, ein junger, hochgewachsener, streng aussehender Herr, empfing ihn und nahm seine Unheilsbotschaft mit kaltem Erstaunen auf. Er hatte den Herrn Grafen nicht gekannt, nur von ihm gehört. In dem Moment haßte ihn Wilhelm; im nächsten hätte er ihm um den Hals fallen mögen, weil er sich anbot, die alte Dame auf die Nachricht des Unglücks, das sie getroffen hatte, vorzubereiten. Wilhelm wartete im Zimmer des Geistlichen, der ihn rufen lassen sollte, sobald es Zeit war ... Das geschah nach einer halben Stunde ... Großer, guter Gott! – Sie saß ruhig in einem hochlehnigen Fauteuil, der Geistliche auf einem Sessel neben ihr, die Augen gesenkt, ein triumphierendes Lächeln auf seinen kargen Lippen. Die Gräfin, weiß wie ein Linnen, hielt einen Rosenkranz zwischen ihren Fingern, die völlig leblos aussahen.
»Dank«, sprach sie, »daß du dich selbst hierherbemüht hast«, ließ Maria bitten, sie zu erwarten, und ersuchte ihn, sich nicht aufzuhalten, sie wisse, wie notwendig er in Dornach sei. Ihr[497] Wagen, der ihn nach dem Frühstück zur Bahn bringen solle, sei bereit.
Kein Wort von ihrem Sohne, von ihrem Enkel. Erst als Wilhelm Abschied nahm, fragte sie nach Erich und flüsterte mit einem dankbaren Aufschlagen der Augen zum Himmel: »Den hat mir Gott gelassen!«
Bei diesen Worten zuckte Maria zusammen und schlug die Hände vor das Gesicht.
Bald nach Wilhelm war Graf Wolfsberg eingetroffen, gebeugt, gealtert. Wenige Menschen durften sich rühmen, seine Liebe zu besitzen; die beiden, die morgen begraben werden sollten, hatte er geliebt. Aber auch die Veränderung, die mit seiner Tochter vorgegangen war, ergriff und erschütterte ihn. Er hörte nicht auf sie angstvoll zu betrachten, erwies sich hilfreich, stand ihr bei in ihrem traurigen Totendienst. Einmal zog er sie plötzlich an sein Herz, so zärtlich wie am Tage vor ihrem Scheiden aus dem Vaterhaus: »Lebe«, sprach er, »du hast auf Erden noch etwas zu tun.«
Sie erhob den Blick zu ihm und erwiderte entschlossen: »Ja, Vater, ja!«
Gräfin Agathe wurde von Wolfsberg und Maria unter dem Portal erwartet. Sie stieg aus dem Wagen und nach stummer Begrüßung, jede Unterstützung abwehrend, die Treppe hinauf. Oben wandte sie sich geradenwegs dem Kapellenzimmer zu, in dem seit Jahrhunderten die Grafen von Dornach ihre letzte Rast hielten.
Der schwarz ausgeschlagene Raum war dicht gefüllt mit weinenden, schluchzenden Menschen. Als die alte Dame eintrat, war's, als ob ein Eishauch die Luft durchwehe; alle Tränen stockten, nicht eine Klage mehr wurde laut.
Aufrechten Ganges, hoheitsvolle Ergebung in den strengen Zügen, wohnte die Gräfin den Trauerfeierlichkeiten bei. Erstarrt in ihrem Gram, klagte sie nicht, verlangte nicht nach einer Schilderung des Ereignisses, das ihr den Sohn und den Enkel geraubt hatte. »Der Herr hat sie gegeben, der Herr hat sie genommen, der Name des Herrn sei gelobt«, war alles, was sie sich und ihrer Schwiegertochter zum Troste sagte. Aber sie setzte hinzu: »Der gleiche Schmerz verbindet.« Sie ließ Maria fühlen, daß die geliebte Gattin ihres Sohnes ihr auch nach dessen Tode wert geblieben war.
Tante Dolph hatte sich in den jüngstverflossenen Tagen unsichtbar[498] gemacht. Doktor Weise mußte ihr absolute Ruhe und Luftveränderung verordnen.
In ihr ging etwas Ungewöhnliches vor – sie wurde bei der Erinnerung an den kleinen Hermann von Wehmut erfaßt, nicht heftig allerdings, aber doch beängstigend für die alte Egoistin, wie ein Unwohlsein für einen Menschen, der immer gesund war. Sie gestand es ihrem Bruder und verhehlte ihm auch nicht ihren leisen Groll gegen Maria, deren Unglück das Mitleid herausforderte – ein der Gräfin unbequemes Gefühl.
»Mich mitzufreuen, nicht mitzuleiden bin ich da. Warum soll die Traurigkeit sich ausbreiten?... Ich weiche ihr aus. Wenn das abscheulich gefunden wird, muß ich mich darein fügen. Kann ich für meine Natur? Die Rebe weint, die Distel nicht«, sagte sie und reiste ab.
In dem schwer heimgesuchten Hause, dem sie den Rücken gekehrt, gab es aber doch einen Glücklichen. Das war Erich; selig ging er umher wie ein aus der Verbannung in das ersehnte Heimatparadies Zurückgekehrter. Seine Mutter liebte ihn jetzt, wie sie den armen Hermann liebte, der noch immer schlafen mußte. Sie hob ihn auf ihren Schoß und überhäufte ihn mit Zärtlichkeiten.
Und das Kind, in wonniger Überraschung, ein wenig verlegen, ließ in stillem Entzücken all diesen Liebessegen über sich ergehen.
Einmal nahm sie ihn mit in die Gruft, und vor der mit Kränzen behangenen Nische, die den Sarg ihres Mannes und ihres Erstgeborenen barg, kniete sie nieder.
»Erich«, sprach sie, seine beiden Händchen in ihre Hände fassend, »Erich, du wirst groß werden und gut und gescheit. Dann sollst du an deine Mutter denken und an das, was sie dir heute sagt.«
Der Kleine lehnte seine Stirn an ihre Wange: »Was sagt sie?«
»Sieh dich um. Wo sind wir?«
»In der Gruft.«
»Und wer schläft in der Gruft?«
»Mein Vater und mein Bruder.«
»Und noch viele, viele ihnen verwandte, gute Menschen. Merke dir, Erich, vergiß es nicht, erinnere dich, wenn du groß sein wirst, wo und wann deine Mutter dir gesagt hat: Verzeih mir, mein Kind ... verzeihe mir! – Wirst du dir das merken, Kind?«[499]
Erich schlang seine Arme um ihren Hals und antwortete fest und zuversichtlich: »Er merkt sich's.«
Als sie ins Schloß zurückkehrten, kam Wolfsberg ihnen entgegen.
»Es ist Zeit«, sagte er zu Maria. »Deine Schwiegermutter und Wilhelm erwarten dich. Wenn du aber nicht stark genug bist ...«
Sie unterbrach ihn: »Ich habe mir Stärke geholt«, übergab den Knaben der seiner harrenden Wärterin und ging mit ihrem Vater nach den Zimmern der Gräfin.
Das Testament des Verstorbenen war vor der Beerdigung in Gegenwart Wilhelms und Wolfsbergs mit den üblichen Förmlichkeiten eröffnet worden. Sein Hauptinhalt war eine Huldigung für Maria, und Wolfsberg hatte gezögert, ihr den ergreifenden Wortlaut dieser letzten Botschaft mitzuteilen. Heute, am dritten Tage nachdem Hermann zur ewigen Ruhe bestattet worden, sollte es geschehen. Seine Mutter hatte den Wunsch ausgesprochen, Zeugin zu sein.
Die Gräfin empfing Maria und Wolfsberg im Salon ihrer Witwenwohnung im Schlosse. Ein hohes Gemach mit gelblichen Stuckwänden, großen Marmorkaminen, bis zur Decke reichenden Spiegeln in kannelierten Goldrahmen und steifer Empireeinrichtung. Die Fenster, die einen weiten Ausblick über den Park gewährten, standen offen, und hereindrang das Licht der untergehenden Sonne und die würzige Luft, die vom Walde hergestrichen kam.
Einen düsteren Gegensatz zu diesem freundlichen Raume bildete die alte Dame mit ihren schwarzen schleppenden Gewändern, mit dem aschfahlen Angesicht, dem die Leiden und Seelenkämpfe der letzten Tage tiefe Spuren eingeprägt hatten.
Sie erhob sich ein wenig aus ihrer Sofaecke, als Maria auf sie zukam, und streifte dabei ein kleines Bauer mit einem ausgestopften Vögelchen auf den Boden hinab. Ehe jemand ihr zuvorkommen konnte, hatte sie sich danach gebückt und das Spielzeug wieder auf seinen früheren Platz gestellt.
»Erich hat es herübergebracht«, sprach sie, »und vergessen, als du ihn rufen ließest.«
Maria ergriff die Hand, die sie ihr reichte, beugte sich tief, küßte sie innig und heiß und zog sie immer wieder an ihre Lippen, als ob es ein schweres Scheiden gelte.
»Nun, mein Kind, nun«, ermahnte die Gräfin, »Fassung, ich[500] bitte dich. Wir wollen die Worte des teuern Vorangegangenen hören, standhaft wie Glaubende und Hoffende.«
Wilhelm hatte die Zeit über stumm dagesessen, in das Schriftstück vertieft, das er vorlesen sollte.
»Beginne«, sagte die Gräfin.
Er rückte seinen Sessel näher zu ihr. Ihm gegenüber hatte sich Maria niedergelassen. Ihr Vater nahm Platz an ihrer Seite.
Wilhelm las mit bewegter, leiser Stimme, und der greisen Zuhörerin neben ihm bemächtigte sich allmählich ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl, eine sanfte und wehmütige Rührung.
Vor vielen Jahren hatte ein Unvergessener in seinem Letzten Willen so von ihr gesprochen, wie Hermann von dem Weibe seines Herzens sprach. Mit dem gleichen Vertrauen hatte er sie geehrt, indem er ihr so viele Rechte über den Sohn, soviel Freiheit in der Verwaltung des Vermögens gewahrt, als das Gesetz nur irgend zuließ. Fast mit den Worten seines Vaters schrieb Hermann:
»Weil ich das wahre Wohl meiner Kinder im Auge habe, unterwerfe ich sie in allem und jedem den Bestimmungen ihrer Mutter. Sie sind damit einer Vorsehung anbefohlen, die weise ist, gerecht und treu.«
Ein qualvolles Wimmern rang sich aus Marias Brust.
Wilhelm hielt inne.
»Weiter«, sagte die Gräfin nach einer kleinen Pause.
Mit erstickter Stimme fuhr er im Lesen fort und warf von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick nach Maria. Sie rang die Hände auf ihren Knien, aus ihren marmorblassen Zügen sprach rettungslose Verzweiflung.
Wilhelm war zu Ende gekommen. Am Schlusse hieß es:
»Je besser und tüchtiger meine Kinder werden, mit je hellerem Blick sie die Welt und die Menschen beurteilen lernen, desto festere Wurzeln wird in ihnen die Überzeugung schlagen: Es gibt auf Erden eine höchste Einsicht und Güte – in unserer Mutter hat sie sich verkörpert.
Ich lebe gern und hoffe noch lange zu leben und zu meinen Söhnen noch manches Wort sprechen zu können. Dir aber, Maria, ob ich jung, ob alt sterbe, dir werde ich immer nur eines zu sagen haben: Ich danke dir!«
Die Augen Gräfin Agathens hatten sich leicht gerötet; teilnehmend wandte sie sich Maria zu.[501]
Die Frau, die eine solche Liebe besessen und verloren hatte, stand ihr nahe und sollte ihr immer nahestehen. »Meine Tochter«, sagte sie zu ihr, »ich teile den Glauben meines Hermann. Sein teuerstes Vermächtnis, sein liebes Kind, ist geborgen in deiner Hut. Gott stärke dich und segne unsern kleinen Majoratsherrn.« Sie streckte die Rechte aus, um sie auf den Scheitel Marias zu legen.
Diese sprang auf. »Was tust du? Ich verdien es nicht ... Behandelt mich, wie ich es verdiene«, rief sie leidenschaftlich aus, stockte einen Augenblick und setzte dann herben Klanges hinzu: »Erich ist nicht erbfähig.«
»Maria!« – stießen die anderen hervor. Derselbe Gedanke war allen zugleich gekommen ...
»Nein, nein, ich bin nicht wahnsinnig, ich weiß, was ich rede. Ich kann die Lüge nicht mehr ertragen. Der ist tot, dem zuliebe ich es getan habe.«
Außer sich faßte Wolfsberg ihre Schulter mit eisernem Griff: »Was getan?«
»Geheuchelt – mich halten lassen für das, was ich nicht war: für treu.«
Er stieß sie von sich und sprang auf; auch die Gräfin stand da, emporgerichtet in ihrer ganzen Höhe.
»Nicht treu? eine Dornach nicht treu?... Nein, keine Dornach. Du bist nicht aus unserem Blut – Ehebrecherin!« schleuderte sie Maria zu und führte unwillkürlich das Taschentuch an ihre Lippen, die sie beschmutzt fühlte, nachdem sie das Wort ausgesprochen hatten ... »Erich nicht der Sohn meines Sohnes ... und ich – und ich!...« Mit einem grellen, kurzen Lachen sank sie in die Kissen zurück, halb ohnmächtig, stumm und starr.
»Du lügst, Maria!« rief Wilhelm. Bebend vor Wut trat Wolfsberg vor seine Tochter hin: »Deine Entschuldigung?« fuhr er sie an.
Sie sah ihm ruhig in die zornig flammenden Augen, und aus den ihren sprach eher ein Vorwurf als eine Abbitte. Ich hatte mich gerettet aus eigener Kraft, hätte sie ihm antworten können. Da riß mich die Hand deines Sohnes ins Verderben.
»Deine Entschuldigung?« rief er von neuem, dieses Mal leiser, dringender, sehr betroffen über ihre wunderbare Gelassenheit. »Du hast eine Entschuldigung.«
»Keine«, erwiderte sie.
»Unmöglich«, fiel Wilhelm ein. »Wenn du gefehlt hast, hätte ein Engel gefehlt und ...« plötzlich hielt er inne.
Die Tür neben dem Sofa war geöffnet worden. Aus dem[502] Zimmer Gräfin Agathens kam Erich heraus und auf sie zugelaufen. »Großmutter, wo ist der kleine Vogel?« fragte er und legte seine gekreuzten nackten Ärmchen auf ihren Schoß.
In ihrem Herzen erglomm ein letzter Funken der Liebe zu diesem holdseligen Kinde, sie sah ihn mitleidsvoll an; dann wies sie ihn hinweg.
Er aber forderte ungestüm: »Den kleinen Vogel! Großmutter, gib! gib!« und klammerte sich an sie.
Da schüttelte sie ihn ab, wie wenn etwas Unreines sie berührt hätte. »Geh!« befahl sie hart. Ihr Gesicht war verzerrt, ihre Hände ballten sich krampfhaft: »Geh!«
Erich, erstaunt, bestürzt, wurde über und über rot; seine Mundwinkel zogen sich herab; er sah noch von der Seite nach dem Vogelbauer und rang mit dem Weinen, in das man ihn ausbrechen hörte, sobald er das Zimmer verlassen hatte.
Maria blieb regungslos. Ihr Vetter Wilhelm beobachtete sie in unsäglicher Spannung und wartete sehnlich, daß sie sprechen und die Verleumdung zurücknehmen werde, die sie gegen sich selbst ausgestoßen hatte ... Aus welchem Grunde? was bezweckte sie damit?... Die Gedanken wirbelten durcheinander in seinem brennenden Kopf, es hämmerte in seinen heißen Schläfen. Nach Kühlung ringend, trat er ans Fenster.
Lau strömte die Luft ihm entgegen und weckte ein flüsterndes Geräusch in den Wipfeln der Bäume. Schwalben umkreisten das Haus. Weiße Tauben schwangen sich von einem Pilasterkapitäl schwirrenden Fluges auf und verschwammen im Blau wie Flöckchen.
»Wilhelm!«
Er sah sich um, die Gräfin hatte seinen Namen gerufen.
»Der alte Stamm Dornach ist erloschen«, sprach sie feierlich und erbleichte unter dem Eindruck, den ihre eigenen Worte in ihr hervorriefen. »Gott schütze den jüngeren Stamm und vor allem dich, dessen Haupt.«
Er taumelte zurück: »Ich!... Ich?...«
»Du hast den nächsten Anspruch. Ist dir das neu?« fragte Wolfsberg voll Bitterkeit.
»Ich werde ihn nicht geltend machen, nie!«
»Als ob du die Wahl hättest.«
»Du wirst tun, was deine Pflicht ist und was du tun mußt«, sagte die Gräfin.
»Muß?« erwiderte er heftig, »und was wir jetzt gesprochen haben, muß weltbekannt werden – und zu der Erklärung, die[503] hier abgegeben worden ist, muß das Gesetz seinen Segen geben –« Er hielt inne, ein erlösender Gedanke war in seinem Geiste aufgestiegen: »Das Gesetz gibt ihn nicht!... Vor dem Gesetz ist das in der Ehe geborene Kind rechtmäßig und sein Erbe unantastbar.«
Gräfin Agathe fuhr auf: »Sein Erbe?... das Gesetz?... Es gibt ein Gesetz, welches das Kind der Sünde beschirmt, wenn es die Hand ausstreckt nach fremdem Gut?«
»Ohne Sorge!« fiel Wolfsberg ein. Er war blaß geworden, Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. »Das Kind wird Dornachisches Eigentum nie berühren, es wird erzogen werden, wie es ihm zukommt, und einst, mündig geworden, seine Verzichtleistung unterschreiben mit dem Bewußtsein, es vollziehe eine leere Förmlichkeit. Dafür steh ich.«
»Und ich«, sprach Maria, und Wilhelm rief ganz außer sich: »Und du!... So gibst du deinen Namen der Lästerung preis. Hast du das auch bedacht?«
Sie hatte ein trostloses Lächeln: »Guter Wilhelm, du wirst doch mich nicht schonen wollen – eine Schuldige, die mehr als überwiesen, die geständig ist ... Ich habe jahrelang Liebe und Ehrfurcht erduldet mit dem Bewußtsein meines Unwerts – – das war schwerer ...«
»Worte, leere Worte«, versetzte starr, unerbittlich die Gräfin. »Wenn es dem Ewigen gefallen hätte, meinen Sohn zu erhalten, würdest du weitergelebt haben in Lüge und Trug.«
»Nicht mehr lange«, sprach Maria mit sanftem, eindringlichem Beteuern, »glaube mir. Der kleinste dem – – dem unrechtmäßigen Kinde gewährte Anspruch hätte mir die Zunge gelöst, und dann wäre ich vor Hermann gestanden, wie ich jetzt vor seiner Mutter stehe, und hätte gefragt –« ihre Stimme wurde fast unhörbar: »Darf ich dir Lebewohl sagen?«
Eine ablehnende Gebärde war die Antwort der Gräfin, Wilhelm aber ging auf Maria zu und sagte vorwurfsvoll: »Lebewohl? Du willst uns verlassen; was fällt dir ein? – Wir lieben dich – meiner Helmi bist du wie eine Tochter – bleibe bei uns, zieh zu uns in unser schlichtes Haus – bleibe bei uns!« Er klopfte auf seine Brust. »Du hast einen Freund, der dich verehrt und noch mit seinem letzten Hauche wiederholen wird: Wo die gesündigt hat, da wäre ein Engel gefallen.«
Maria drückte dankbar seine Hand. »Wir sehen uns wieder«, brachte sie mühsam hervor, »in Wolfsberg, wo mein Vater mich und das Kind aufnehmen wird. Nicht wahr, Vater?«[504]
»Ich komme nicht mehr nach Wolfsberg«, erwiderte er rauh. In dieser Stunde verleugnete sich seine Liebe zu ihr.
»Maria!« rief Wilhelm, »wir werden jeden Tag segnen, den du uns schenkst. Bleibe bei uns!«
»Es kann nicht sein – du wirst das einsehen«, sagte sie. Ihre Wangen hatten sich langsam gefärbt und glühten nun fieberhaft.
Zum zweiten Male wandte sie sich an ihren Vater: »Nimm uns dennoch auf!«
Er zuckte mit den Achseln und antwortete: »Was bleibt mir anderes übrig?«
Ausgewählte Ausgaben von
Unsühnbar
|
Buchempfehlung
Die frivole Erzählung schildert die skandalösen Bekenntnisse der Damen am Hofe des gelangweilten Sultans Mangogul, der sie mit seinem Zauberring zur unfreiwilligen Preisgabe ihrer Liebesabenteuer nötigt.
180 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro