XLII. Brief

An Fanny

[93] Ich zittre, liebe Freundin, Dir die Verstimmung meiner Seele zu entdekken; sie ist nur allein mir begreiflich, an jedem andern Kaltblütigern glitscht sie ab... muß abglitschen! –[93] Eine fürchterliche Kleinmuth, ein feuriges Sehnen nach Auflösung, kühne, wollüstige Reize, die nach glüklichern Gegenden verlangen, sezzen meine gräßlich arbeitende Phantasie in Bewegung. Die Angst des Todes scheint sich von mir zu entfernen und der Gedanke meiner Rettung tritt verführerisch lokkend an ihre Stelle. Die Religion allein hält noch die schwachen Bande, da es blos eines muthigern Augenbliks bedürfte, um sie zu zerreißen! – Der Selbstmord ist nicht immer Zagheit der schwachen Seele, er ist nur gar zu oft ein Räthsel, das in dem ewigen Kaos verborgen liegt. – Jemehr die Einbildungskraft feurigen Schwung hat, jemehr naht sie sich jener unglüklichen Sphäre, wo die Vernunft vom Gram übertäubt, nicht mehr mächtig genug ist, dem Sturm zu gebieten. Der Schwermüthige sieht hoffnungslos dem Labyrinthe seines Elends entgegen, träumt sich in einer andern Welt bessere Zeiten und nährt den lindernden Gedanken einer augenbliklichen Zernichtung so lange in seinem jammernden Busen, bis der schwindelnde Kopf sich vergißt – und den innerlich tobenden Leidenschaften zum Ausbruch den Weg öffnet! – Der Hang zur Schwermuth liegt bei vielen Menschen im Temperamente, nur wird er durch Nachsinnen und durch harte Schiksale mehr in einem Herzen genährt, daß sich von allen Seiten gepeitscht, zerfleischt, und getretten sieht. – Der heimliche Wurm, der im Innern frißt, ist dem Gesunden, dem Nichtschwermüthigen so fremd, als dem Schwermüthigen die Freuden sind, die von seinen stumpfen, kranken Nerven zurükprellen. – O wenn nur kein diknerviges Menschengeschöpf diesen Brief einstens zu lesen bekömmt, die Empfindung darinn würde mich noch in der Ewigkeit reuen! – Es giebt leere Köpfe genug, die den Zustand eines Schwermüthigen nicht fassen können; – die es sogar wagen über solche Unglükliche zu spotten. – Mir sind diese Art Märtirer ihrer Leidenschaften,[94] ihres feinen Gefühls nicht neu. – Verrükkung der Sinnen ist ja eine Krankheit, die man so häufig in der so vielen Gebrechen unterworfenen Menschheit erblikt. – Und braucht es denn mehr, als einen Augenblik Verrükkung um einen Selbstmord zu begehen und dem kochenden Blute Luft zu machen, das wie sprudelndes Feuer sich nach dem Gehirne drängt? – Eine Melankolie, die schon zur Krankheit geworden, hat ihre reifenden Zeitpunkte; rasch steigt manchmal durch eine Gährung die würkende Galle auf – und geschehen ists um das Leben eines Menschen, auf dessen Vernunft man Häuser gebaut hätte. Ich zeige Dir heute mit Vorbedacht die Spuren meiner kränkelnden Vernunft, damit Du sie, durch deine milde, sanfte Güte wieder in die Schranken zurükbringst, worinnen sie als Führerin des duldenden Menschen ihren Wohnsiz zum Triumph der Religion behaupten soll. Ja, meine Liebe, scharfe Vorwürfe würden mir jezt tödtendes Gift seyn!!! Denn nichts in der Welt ist delikater zu behandeln und leichter zu Grunde zu richten, als ein schwermüthiger Mensch, dem man roh begegnet. Wenn bei solchen Elenden das Fieber sich meldet, wenn fürchterliche Stöße das schwellende Herz bäumen, wenn die Nerven sich verdähnen, wenn die Thräne aus dem Auge flieht, wenn der Zustand der eiskalten Fühllosigkeit, dem dikken Blute seinen Lauf hemmet, wer kann denn da die Gefahren des Selbstmords begreifen, wenn er diesen Zustand nicht schon selbst empfunden hat? – Und es giebt leider nur zu viel Menschen in der Welt, deren Seelen eben so bengelstark als ihre Nerven sind, und Weh dann dem Schwermüthigen, wenn er in solche Gesellschaft geräth! – Solche Klözze von Menschen opfern oft aus Mangel an Menschenkenntniß und Gefühl manches unglükliche Wesen dem Selbstmord. – Erst kürzlich hat ein liebekrankes Mädchen sich in die kalten Arme des Todes gestürzt. – Das ruhigere, kälter gestimmte Gefühl[95] ihres Liebhabers ahndete nichts Arges, hielt ihre Schwermuth für Romanensprache und trauete einer weichgeschaffenen Weiberseele den Muth nicht zu, eigenmächtig ihren Kerker zu sprengen. Du wirst Dir's leicht vorstellen, meine Theure, warum der finstere, melankolische Ton von mir heute so unendlich verfolgt wird; – warum ich mich so lange bei Schilderungen aufhalte, die meinem armen Herzen so eine gewisse Erleichterung geben? Das ungewisse Schiksal meiner so sehr geliebten Schwester, die kalte Begegnung des jungen B***, der tükkische Troz seines protegirten Weibes, das frische Grab meines Vaters, die unendlichen Gefühle meiner herumirrenden Seele, Alles das wird Dir hinlänglich seyn, um mich heute zu verstehen.


Deine Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 93-96.
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