An einem schönen warmen Herbstmorgen kam ich auf der Eisenbahn vom andern Ende Deutschlands mit einer Vehemenz dahergefahren, als käme es bei Lebensstrafe darauf an, dem Reisen, das doch mein alleiniger Zweck war, auf das allerschleunigste ein Ende zu machen. Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden. Diesmal blieb indessen eine Ruine rechts überm Walde ganz ungewöhnlich lange in Sicht. Europamüde vor Langerweile fragte ich, ohne daß es mir grade um eine Antwort sonderlich zu tun gewesen wäre, nach Namen, Herkunft und Bedeutung des alten Baues; erfuhr aber zu meiner größten Verwunderung weiter nichts als gerade das Unerwartetste, daß nämlich dort oben ein Einsiedler hause. – »Was! so ein wirklicher Eremit mit langem Bart, Rosenkranz, Kutte und Sandalen?« – Keiner von der Gesellschaft im fliegenden Kasten konnte mir jedoch über diesen impertinenten Rückschritt genügende Auskunft erteilen, niemand hatte den Einsiedel selbst gesehen. Einer der Herren erklärte ihn schlechtweg für einen hochmütigen Sonderling, da er, wie er erfahren, bei der gebildeten Nachbarschaft nirgends Besuch gemacht, ja nicht einmal Visitenkarten umhergeschickt habe. Ein zweiter meinte, da stecke wohl etwas ganz anderes, eine dunkle Tat, ein großes politisches Verbrechen dahinter. – »Ja, diese heimlichen Jesuiten!« fiel ihm da ein dritter mit einem wichtigen Augenzwick in die Rede, und sprach nichts weiter. Eine Berliner Dame dagegen, die eben ihre Zigarre angeraucht, versicherte lachend, das sei ohne Zweifel der letzte Romantiker, der sich vor dem Fortschritt der wachsenden Bildung in den mittelalterlichen Urwald geflüchtet. Alle stimmten endlich darin überein, daß besagter Einsiedler etwas verdreht im Kopfe sein müsse.[895]
Diese Notwendigkeit wollte mir zwar keineswegs so unbedingt einleuchten, doch war das wenige, das ich gehört, abenteuerlich genug, um mich neugierig zu machen. Ich beschloß daher, auf der nächsten Station zurückzubleiben, und den seltsamen Kauz womöglich in seinem eignen Neste aufzusuchen.
Das war aber nicht so leicht, wie ich's mir vorgestellt hatte. In den Bahnhöfen ist eine so große Eilfertigkeit, daß man vor lauter Eile mit nichts fertig werden kann. Die Leute wußten genau, in welcher Stunde und Minute ich in Paris oder Triest oder Königsberg, wohin ich nicht wollte, sein könne, über Zugang und Entfernung des geheimnisvollen Waldes aber, wohin ich eben wollte, konnte ich nichts Gewisses erfahren; ja der Befragte blickte verwundert nach der bezeichneten Richtung hin, ich glaube, er hatte die Ruine bisher noch gar nicht bemerkt. Desto besser! dachte ich, schnürte mein Ränzel und schritt wieder einmal mit lang entbehrter Reiselust in die unbestimmte Abenteuerlichkeit des altmodischen Wanderlebens hinein.
Schon war die Rauchschlange des Bahnzuges weit hinter mir in den versinkenden Tälern verschlüpft, statt der Lokomotive pfiffen die Waldvögel grade ebenso wie vor vielen, vielen Jahren, da ich mir als Student zum erstenmal die Welt besehen, als wollten sie fragen, wo ich denn so lange gewesen? So kletterte ich unter dem feierlichen Waldesrauschen auf dem steilen Fußsteig, den mir die Hirten verraten, an einsamen Wiesen vorüber, wo die weidenden Kühe scheu und neugierig nach mir aufsahen, zwischen Weißdorn und Berberitzen, die im vollen Blütenstaat jugendlichen Übermuts auf meine grauen Haare und abgetragene Wandertasche stichelten, siegreich immer höher und höher hinan, bis ich mich endlich durch das Dickicht auf die letzte Höhe herausgearbeitet hatte.
Da lag plötzlich, wie in einem Nest von hohem Gras und Unkraut und die Tatzen weit nach mir vorgestreckt, eine riesenhafte Sphinx neben mir, die mich mit ihren steinernen Augen fragend anglotzte. Und in der Tat, das unverhoffte Ungeheuer gab mir ein Rätsel auf, das mich ganz verwirrte. Denn statt der erwarteten Klüfte, wilden Quellen und Felsenklausen nebst Zubehör erblickte ich einen, freilich arg verwilderten, altfranzösischen Garten: hohe Alleen und gradlinige Kiesgänge; rechts und links einzelne Päonien und Kaiserkronen, über denen bunte Schmetterlinge wie verwehte Blüten dahinschwebten,[896] und in der Mitte eine Fontäne, die einförmig fortplätscherte in der großen Stille; nur ein Pfau spazierte stolz zwischen den Kaiserkronen. Es war aber eben Mittagszeit und eine fast gespenstische Beleuchtung ohne Schatten, die Sonne brannte, die Vögel schwiegen, der Wald rauschte kaum noch wie im Traume. Mir war's, als ginge ich durch irgendeine Verzauberung mitten in die gute alte Zeit, ich schüttelte mehrmal mit dem Kopf, ob mir nicht etwa unversehens ein Haarbeutel im Nacken gewachsen.
So kam ich an die Ruine, oder vielmehr an ein Schloß, das allerdings ruiniert genug war, aber offenbar weniger durch sein Alter, als durch einen gewaltsamen Brand. Der eine Teil lag malerisch verfallen, und fraternisierte längst mit dem Frühling, der mit seinen blühenden Ranken überall an Pfeilern und Wänden lustig hinaufkletterte. Nur der nach dem Garten hin gelegene Flügel, alle Fenster künstlich umschnörkelt und durch steinerne Blumengirlanden miteinander verbunden, sah noch sehr vornehm aus, wie eine Residenz des Prinzen Rokoko. Ein Fenster unten stand offen. Ich blickte hinein und übersah eine lange Reihe großer und hoher Gemächer mit reichen Tapeten, parkettierten Fußböden und prächtigen Stuckverzierungen an den Decken, überall samtene Kanapees und Sessel, die Lehnen weißlackiert mit goldenen Leisten, große Spiegel und Marmortische darunter. Es war so kühl da drinnen in der feierlichen Einsamkeit, aus einem der entfernteren Gemächer flötete soeben eine unsichtbare Spieluhr eine Menuett herüber, die ich noch aus meiner Kindheit zu kennen glaubte.
Jetzt hörte ich kleine, feine Stimmen hinter mir: es war ein Knabe und ein Mädchen, die einander gejagt hatten und stutzig stillstanden, da sie mich erblickten. »Wo ist der Zauberer – der Herr Einsiedler?« fragte ich, mich selbst verbessernd. Der erhitzte Knabe schüttelte die Locken aus dem hübschen Gesichtchen und sah mich schweigend und fast trotzig an. Das etwas ältere Mädchen aber wies nach einer Laube hin und sagte mit einem zierlichen Knicks: »Er betet.« – Also am Ende doch wirklich ein Eremit im alten Stil, dachte ich und eilte der bezeichneten Geißblattlaube zu. Dort saß ein Mann, den Rücken nach mir gekehrt und, wie es schien, eifrig in einen schweinsledernen Quartanten vertieft, der auf dem steinernen Tische vor ihm lag. Auf einmal aber, als ich schon ziemlich nahe war, fuhr ein zahmer Storch, den ich bisher gar nicht bemerkt hatte,[897] erschrocken neben mir aus seinen Gedanken, legte den Hals hintenüber, sperrte den langen Schnabel weit auf und klapperte aus Leibeskräften. Da wandte sich der Einsiedler. – »Arthur!« rief ich ganz erstaunt – es war mein liebster Kriegskamerad vom Lützowschen Korps!
»Um des Himmels willen, was machst denn du hier?« – »Ich lese Calderons Autos« – »Aber just in dieser seltsamen Abgeschiedenheit!« – »Das sind die Trümmer meiner Heimat«, entgegnete er ruhig, »und das dort die Enkel meiner Spielgesellen aus der Kinderzeit«, fügte er lächelnd hinzu, auf die beiden Kinder weisend, die unterdes neugierig mir gefolgt waren.
Er hatte sich inzwischen hoch aufgerichtet. Er trug nichts weniger als eine korrekte Einsiedleruniform, sondern einen grünen kurzen Jagdrock und nur einen schönen vollen Bart, wie ihn unsere modernen Einsiedler in den Kaffeehäusern und Lesekabinetten tragen. Wir hatten uns seit den Kriegsjahren nicht mehr gesehen; nun beschauten wir einander eine Zeitlang stillschweigend, bis wir zuletzt beide in ein lautes Lachen ausbrachen: so uralt und ehrwürdig waren wir beide seitdem geworden; nur seine Augen waren noch immer die alten, treuen, ich hatte ihn sogleich an dem ganz eigentümlichen Blicke wiedererkannt.