XXI.

[213] Ist wohl nicht möglich! – sagte Herr Stark, als Monsieur Schlicht mit der Nachricht hineintrat, dass Madam Lyk ihn zu sprechen wünsche. – Er wird sich verhört haben, mein lieber Schlicht. Meinen Sohn wird sie sprechen wollen.

Nein, Sie! Sie! Ich hab' ausdrücklich gefragt.

Hm! Also mich? In der That? – Nun, so führ' Er sie gegenüber in das Besuchzimmer. Ich werd' erscheinen. – Was in aller Welt kann das seyn? Wie komm' ich zu einer so galanten Visite? – Es ist ja wohl kaum halb zehn – indem er nach seiner Uhr sah; – und die Frau ist schon auf? ist schon angezogen? hat schon ihre Chocolade getrunken?[214] Das ist ja ganz ausser der Regel! – Er trat, seiner Gewohnheit nach, vor den Spiegel, um sich den Stutz, gerade zu rücken. – Wirst schon wieder schief zu stehen kommen, sagte er lächelnd; aber, mein guter Stutz – – Glück werden wir ohnehin nicht mehr machen. Wir sind zu alt, sind so sehr ausser der Mode. – –

Ich sollte erröthen, sagte die Witwe, die durch das Studium einer ganzen langen Nacht keinen bessern Eingang hatte ersinnen können; ich sollte, wegen der Störung und des Zeitverlustes, die ich verursache – –

Die Verlegenheit und die Furcht der guten Frau hatten ihre Stimme so sehr gedämpft, dass der Alte, der nach Art der Schwerhörigen ihr scharf ins Gesicht sah, und dadurch ihre Verlegenheit noch vermehrte,[215] nur aus der Bewegung ihrer Lippen abnahm: sie müsse reden. Auch das Zurückstossen des Stutzes liess ihn nur ein leises, undeutliches Murmeln, keine eigentlichen Töne vernehmen. – Ich muss Sie bitten, fing er jetzt an, mir eine Schwachheit des Alters zu Gute zu halten; ich habe, wenn die Witterung kalt wird, einen Fluss auf dem rechten Ohre, der aber Gottlob! so arg nicht ist, dass ich, wie mein Nachbar, ein Hörnchen mit mir herumtragen dürfte. Haben Sie nur die Gefälligkeit, ein wenig lauter zu reden, und ich werde Sie hören.

Diese Aufforderung zum Lautreden vermehrte das Herzklopfen der Witwe, die schon so des Athems wenig genug, und dabei ein Anliegen hatte, das seiner Natur nach nicht wollte geschrieen werden. Es kam ihr äusserst gelegen, dass[216] eben jetzt Herr Stark sie zum Niedersitzen auf das altmodische rohrgeflochtene Canape einlud; denn kaum erhielt sie, bei ihrer heftigen innern Bewegung, sich auf den Füssen. Es gelang ihr jetzt, dem alten Herrn zu bedeuten: dass ihre grosse Verpflichtung gegen seinen würdigen Sohn, der durch lange mühsame Arbeit sie aus einer höchst unangenehmen Verwirrung gezogen, ihr ein gerechtes Vertrauen auch gegen den Vater einflösse, und dass sie hoffe – – Hier sank ihr die Stimme wieder; und Herr Stark brachte nicht heraus was sie denn hoffe: dass er nehmlich gleiche Grossmuth beweisen, und wenn sie von diesem oder jenem ihrer Gläubiger gedrängt werden sollte, ihr seinen einsichtvollen Rath und selbst seine thätige Unterstützung nicht versagen werde. Er bezog die paar Wörter, die[217] er verstand: Grossmuth, Rath, Unterstützung, noch immer auf seinen Sohn; und deutete, weil sie jetzt auch von Dank sprach, ihre Hoffnung bloss dahin: dass er ihren Besuch gütig aufnehmen, und sich ihren Dank für die ihr erwiesene Hülfe werde gefallen lassen. Dem gemäss erwiederte er, zu nicht geringem Erstaunen der Witwe: dass sie sich in ihm ganz an den Unrechten wende, indem er Alles was sein Sohn für sie gethan, erst spät hinterher erfahren, und dass er also ihren Dank unmöglich annehmen könne. – Unsre jungen Herren, sagte er, pflegen die Väter nicht zu ihren Vertrauten zu nehmen; sie fürchten, dass man jede Art von Eröffnung als schuldige Rechenschaft von ihrem Thun und Lassen ansehen werde; und sich einem solchen Zwange zu unterwerfen, sind sie ganz und gar nicht gemeint. –[218] Die Witwe rang, in einer ziemlich langen, ängstlichen Pause, mit sich selbst, wie sie das nehmen, und ob sie im Gespräche fortfahren oder es abbrechen solle. Sie konnte kaum anders, als das trockne Hinweggehen über den Hauptpunct in ihrer Anrede für ein geflissentliches Ausbeugen und Ablehnen nehmen; und was der Vater vom Sohne sagte, schien sogar das Betragen desselben zu missbilligen. Indessen war es möglich, dass Herr Stark nur übel gehört hatte; und so raffte sie sich zusammen, um auf einem andern Wege das Gespräch wieder einzuleiten. – Die Doctorinn, sagte sie, habe ihr die Freundschaft gerühmt, die ehemal zwischen Herrn Stark und ihrem verstorbenen Schwiegervater, dem alten Lyk, geherrscht habe; und sie lebe der Hoffnung – –[219] Auf dieses Wort, welches Herr Stark vollkommen verstand, gab er die passende Antwort: dass er den alten seligen Lyk von seiner Kindheit an gekannt, und schon in den ersten Schuljahren sein Freund gewesen; dass sie nachher, ihr ganzes Leben hindurch, in sehr enger Verbindung gestanden, und dass sie gewiss, in vorkommendem Falle, ihre gegenseitige herzliche Freundschaft sich aufs thätigste würden bewiesen haben. – Aber, sagte er, so ein Fall kann, Gottlob! nicht vor; wir hielten beide unsre Geschäfte in guter Ordnung, und verschlemmten und verschleuderten nicht: und wo das ist, da ereignen sich die Umstände nicht leicht, in welchen der Freund dem Freunde einen ausgezeichneten Dienst leisten oder wohl gar eine Aufopferung für ihn machen könnte. –[220] Wenn gleich diese Anmerkung nichts weniger als Schmeichelei seyn sollte; so hatte sie doch bei weitem den Sinn nicht, den die Witwe ihr gab, und den sie nach dem obigen Missverstande – oder itzt kaum mehr Missverstande – fast gezwungen war ihr zu geben. Sie glaubte, einen bittern Vorwurf über die Unordnung zu hören, die ihr verstorbener Mann in seine Geschäfte hatte einreissen lassen, glaubte sich zum zweitenmale empfindlich zurückgewiesen, und erblasste und erröthete, im Gefühl ihrer peinlichen Lage, eins um das andre. Herr Stark, der ohne Brille nicht scharf mehr sah, ward von ihrem Zustande nichts inne.

Sie haben, fing er nach einigen Secundem wieder an, den guten alten Schwiegervater wohl nicht mehr gekannt?[221]

Nie – sagte ihm ein stilles, schwaches Kopfschütteln der Witwe.

Und seine Frau, die alte redliche Mutter Lyk, wohl eben; so wenig?

Eben so wenig – sagte ihm ein abermaliges Kopfschütteln; denn die Witwe, der das Herz immer voller und schwerer ward, war nicht im Stande zu reden. –

Hätte Herr Stark von der jetzigen wirklich bedrängten Lage der Witwe, und besonders von ihrer Absicht auf ihn, nur die mindeste Ahnung gehabt: so würde er, bei seiner wahrhaft grossmüthigen Denkungsart, und seiner Achtung für Unglückliche, ihrer sorgfältig geschont, und jedes seiner Worte genau bewacht haben; aber so hielt er, in seiner Unwissenheit über beides, es gar nicht für übel gethan, wenn er ihr von[222] seinen Gedanken über echten weiblichen Werth eine kleine Eröffnung machte. –

Sie haben, sagte er, viel verloren, Madam; Sie hatten eine sehr vortreffliche Schwiegermutter. – Freilich war sie im Grunde nur Hausfrau; aber mehr zu seyn, kam ihr auch nie in den Sinn: der Mann, glaubte sie, gehöre der Welt; die Frau, dem Mann und den Kindern. Das war so der ehemalige alte Glaube, worin man die Töchter erzog, und wobei nun freilich die Mädchen nicht so fein und niedlich wie jetzt, aber dafür desto braver und wirthschaftlicher, und einem Manne der an sein Fortkommen dachte, desto lieber und werther wurden. Der alte Lyk sagte mir oft, dass er diese herrliche Frau als seinen besten Segen von Gott betrachte, und dass er ohne sie bei weitem nicht in so guten Umständen seyn[223] würde, als er es wäre. Er liebte und achtete sie ungemein; auch wohl mit deswegen, weil sie ihm viele Ehre machte: denn sie galt in der ganzen Stadt für die beste und erfahrenste Wirthinn, und war für unsre Weiber, in jeder häuslichen Angelegenheit, das allgemeine Orakel. – Dabei war sie nichts weniger, als peinlich, oder gar mürrisch: Sie hätten sehen sollen, Madam, mit wie einnehmender Freundlichkeit sie den Gästen entgegen kam, die der alte Lyk fast jedesmal von der Börse mit sich brachte; wie sie sich freuen konnte, wenn bei der Bewirthung, die immer nur bürgerlich, aber reichlich und anständig war, ihre Gerichte schmeckten, und wenn, die kleine Gesellschaft während dem Essen recht gesprächig, recht laut ward. Sie fragte dann mit den Augen ihren Mann, der alle ihre[224] Blicke verstand; und sobald er gewinkt hatte, war sie in zwei, drei Sprüngen zum Keller hinunter, und holte selbst von dem besten alten Rheinwein herauf, der uns dann noch beredter, noch fröhlicher machte. – Sehn Sie, Madam! Mit so einer liebreichen, frohen, wirthschaftlichen, Hausfrau waren wir damaligen Männer über und über zufrieden, und nannten sie, wie sie's auch wirklich war, unsern Schatz und unser Herz; heut zu Tage, wo sich der bürgerliche Ton immer mehr in den adlichen, auch wohl hie und da in den fürstlichen hinaufzieht, wären das gemeine, abgeschmackte Ausdrücke: da nennt man, glaub' ich, die Frau mein Kind; aber ich weiss doch kaum, wen ich glücklicher preisen soll, ob den ehemaligen Mann mit dem Schatze, oder den jetzigen mit dem Kinde. – Doch Sie[225] verzeihen, Madam; ich plaudre da ein Langes, ein Breites, und weiss selbst nicht, wozu? Denn dass andre Zeiten andre Sitten bringen, ist ja natürlich. –

In dieser Art von Standrede auf die verstorbene Schwiegermutter fand sich wieder so manches Empfindliche, dass die Witwe den Zweck ihres Besuchs nun völlig aufgab, und sich Herrn Stark auf der Stelle würde empfohlen haben, wenn nicht ein jäher Schwindel, in welchem Alles vor ihren Augen zu taumeln und zu tanzen anfing, ihr das Aufstehen verboten hätte. Gleichwohl musste sie dieses Aufstehen versuchen, als sie sich plötzlich von zwei weiblichen Stimmen begrüssen hörte, worunter sie die der Doctorinn sogleich unterschied. Die liebe Neugier hatte diese und die Mutter herbeigeführt: die eine, um zu erfahren wie es[226] stände, und um nöthigenfalls die Witwe zu unterstützen; die andre, um eine Person näher kennen zu lernen, die ihrem Sohne so verpflichtet, und wie man ihr nicht verborgen hatte, zugleich ihm so werth war.

Mein Gott! was ist Ihnen? rief die Doctorinn aus, die den Zustand der Witwe auf den ersten Blick erkannte, und ihr rasch entgegensprang, um sie zu halten. – Wohl gar in Ohnmacht? fragte erschrocken Madam Stark; und: Nimmermehr! rief verwundert der Alte; während die Kranke aus den Armen der Doctorinn auf das Canapee glitt, und plötzlich ohne Athem und Farbe, wie eine Leiche, dalag. Die Doctorinn rief nun laut um Hirschhorngeist; die Mutter eilte in die Küche nach frischem Wasser; Herr Stark holte Hofmannischen Liquor;[227] und in kurzem war auch Monsieur Schlicht und das ganze Haus in Bewegung. – Endlich war Madam Lyk in so weit wieder hergestellt, dass sie sich getraute, zu Fuss und ohne Begleitung nach Hause zu kommen. Aber das gab niemand zu, und am wenigsten der alte Herr Stark, der sich überhaupt so gütig und herzlich benahm, dass die Witwe an seiner Gesinnung gegen sie ganz wieder irre ward. Er liess einen Wagen holen, in welchen, nach seiner Anordnung, die Doctorinn zuerst hineinstieg, um, während man der Witwe von aussen nachhülfe, ihr von innen die Hand zu reichen. Auch Monsieur Schlicht, der trotz seines Alters noch sehr berührig und kraftvoll war, musste hinein, mit der Anweisung: sobald der Wagen hielte, herauszusteigen, um Madam Lyk den Arm zu bieten, aber ja,[228] wenn sie wieder schwächer würde, erst Hülfe aus dem Hause zu rufen, und sich nicht zu viel auf eigene Kraft zu verlassen. –

Nun? fragte der Alte, sobald er sich mit der Mutter wieder allein sah: kannst du mir sagen, was das hiess? was das vorstellen sollte? Ich für mein Theil verstehe kein Wort. – Die Frau kömmt am frühen Morgen gegangen, und reisst mich aus meinen Geschäften: ich denke nicht anders, als sie will Wechsel auf England oder auf Holland kaufen; aber am Ende – was hat sie bei mir zu thun? – In der Welt Gottes nichts, als in Ohnmacht zu fallen. – Ist das etwa jetzt neuer Ton? Macht man zu London und zu Paris solche Morgenvisiten?

Wie du nun bist! sagte die Alte. Ein Frauenzimmer wandelt ja leicht etwas an.[229]

Ein Frauenzimmer! – Warum denn aber dich und die Doctorinn nicht?

Je nun – eine ist ja nicht, wie die andre.

Mutter! – Wenn alle die Weiber, die den ganzen Tag, mit Roman und Komödie in der Hand, auf dem Sopha liegen, oder die auch den Morgen am Putz-und den Abend am Spieltisch vergeuden; wenn sie hübsch, wie du und die Doctorinn, von früh bis spät auf den Beinen wären, um sich in ihrer Wirthschaft herumzutummeln: ich wette, wir würden von keinen Krämpfen und Schwindeln und Ohnmachten, und wie das Zeug alles heisst, weiter hören. – Zwar einmal – er drohte ihr erst mit dem Finger, und nahm dann ihre dürre, welke Hand, um sie zu liebkosen – einmal spieltest du mir auch einen Streich; da[230] war ich in rechtschaffner Angst. – Doch das war auf dem Bette der Ehren, bei der Niederkunft mit der Tochter; und für so eine Ohnmacht alle mögliche Hochachtung! Die hat denn doch Hand und Fuss.

Böser Mann! sagte die Alte, mit einer Miene die halb schmunzelte und halb schmollte: lass doch solche Dinge nun aus dem Kopf! Das sind ja alte Geschichten.

Quelle:
Johann Jakob Engel: Schriften. Band 12, Berlin 1806, S. 213-231.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Herr Lorenz Stark
Herr Lorenz Stark: Ein Charaktergemälde
Schriften: Band 12. Herr Lorenz Stark
Herr Lorenz Stark (2)

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon