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[145] Die Ufer wurden kleiner hinter mir, die Schilffelder verdünnten sich zu einer hellbraunen Linie, während das jenseitige Bord wie durch ein Vergrößerungsglas wuchs und immer deutlicher seine schwärzliche, von Stoppeln und Stauden spärlich bekleidete und von sumpfigen Wässerchen durchschnittene Figur enthüllte. Doch fuhr ich nicht näher, sondern nahm nun den Weg durch die Länge des Sees hinab. Im Schlittschuhlauf war ich unbestritten der erste von den vieren, sei es wegen der leichten und zähen Gestalt, sei es weil ich diese Kunst von früh an mit Leidenschaft geübt hatte. Immer rascher zog ich aus, immer heftiger nahm ich den Ansatz. Mir schien, ich fliege wie eine Seemöwe. Ein unbeschreibliches Behagen erfüllte mich. Das Gefühl, daß wir nur durch unsere Kraft und Geschicklichkeit so vogelleicht dahinschwebten, wirkte in uns eine unsägliche Freude aus, die sich nicht anders als in kurzen, grellen Schreien Luft machen konnte.

In dieser – ich kann nicht anders sagen – Berauschtheit meines zwölfjährigen Herzens raste ich den ganzen See wieder hinauf bis dorthin, wo er seine Fischflosse leicht seitwärts kehrt. Dieses kleine Stück See bildet gleichsam eine Bucht, die man vom offenen Wasser aus nicht erblickt und in die sich der Melzbach als Abfluß des obern Tales ergießt. In meinem Ungestüm war ich fast bis an das Schilf gefahren, als es[146] mit einem Male unter mir krachte und sich zwischen meinen Beinen ein schneeweißer Riß bildete.

Gleichzeitig hörte ich das Gurgeln des Melzbaches, der ganz nahe unter der Eisdecke vom See aufgeschluckt wird.

Da fiel mir als erstes ein, daß der See hier, wo ich stand, tief und das Eis wegen des bewegten Wassers sehr schwach sein müsse; mich dünkte schon, indem ich das bedachte, daß die ganze Decke unter mir leise schwanke. Unverzüglich drehte ich mich, um zurückzufahren. Aber da krachte es zum zweitenmal und noch viel stärker, der Riß wurde breit wie ein Band und erschien jetzt grünlich, und hundert Verästelungen zweigten sich unter leiserem Geräusch, das wie ein Knirschen klang, von diesem Hauptast vorne und rückwärts in jener halb weißen, halb bläulichen Zeichnung ab, die jeder kennt, der schon einmal über gefrorene Gewässer fuhr. Die ganze Fläche drohte zu zerstücken. Ich fühlte sehr wohl, daß beim nächsten Schritt alle diese Stücke auseinanderreißen müßten.

Ohne weiteres Besinnen warf ich mich platt auf den Bauch, wie ich das aus den Erfahrungen der besten Schlittschuhläufer wußte. Noch einmal bei dieser Bewegung krachte es stark, dann nahm das unheimliche Geräusch ein wenig ab. Leiser wie von kleinen Scherben oder einer feinen Schraube tönte es unter mir. Ich schob, so behutsam und so weit als ich nur konnte, meine Beine und Arme auseinander, um die Last auf dem[147] Eise zu verteilen. Meine Stirne dampfte von Angstschweiß. Wie ein Glockenschwengel an seine Erzschale, so schlug mir das Herz gegen die brüchige Eisdecke, auf die ich es preßte.

Bis jetzt hatte ich keine Zeit für die Angst gehabt, nun aber hatte die Angst, die schauerlichste Angst genug Zeit für mich. Sie erfaßte mich von oben bis unten wie eine Erstarrung, sie glich auf ein Haar dem Tode selber.

›Ich werde ertrinken!‹ sagte ich zu mir. Das war mein erster klarer Gedanke.

Doch gleichzeitig rutschte ich mit dem Instinkt des Lebens, das sich rauh oder schlau um jeden Preis erhalten will, sachte ein wenig vor. Es krachte stärker im Eise, und ich hielt inne.

Aber das tat ich unbewußt, und alle Geschicklichkeit, womit ich zuerst die Knie, dann die Arme, nun den Bauch vorschob und mit den Füßen sozusagen nachkroch, und alle Schlauheit, womit ich mich beim neuerlichen Krachen still zusammenduckte wie eine von der Katze berührte Maus, mich gleichsam tot stellend, ich sage, alles das war von mir weder bedacht, noch erkannt.

›Ich werde versinken,‹ wiederholte sich in mir klar der frühere Gedanke, ›und ich versinke allein wegen der gestohlenen Münze.‹

Immer tiefer fühlte ich die Decke sich neigen und ich war fest überzeugt, das Gewicht des gestohlenen Geldes drückte mich so schwer nieder. Indem ich wieder[148] zu rutschen versuchte und sich dabei das Knistern und leise Klirren unter mir mehrte, schwor ich bei mir ›Wenn ich da heil wegkomme, so laufe ich sofort heim und erzähle der Mutter alles und lasse mich abstrafen. O gerne, gerne, wenn ich nur da wegkomme!‹

Wieder kroch ich ein wenig vor, und diesmal war ich nun mit Aug' und Seele dabei.

Das Eis unter mir war wie Glas. Bald mehr blau, bald mehr grün, aber immer unheimlich dunkel blickte das Wasser darunter herauf. Wie tief das sein muß und wie morastig im Grunde! Mir deuchte, ich sehe einen Fisch heraufschwimmen, sich drehen, das Maul aufsperren und kopfüber wieder verschwinden. ›Ah, ah, der geht und sagt es den andern, daß sie Besuch bekommen!‹ blitzte es mir knabenhaft durch den Kopf.

›Aus solcher Tiefe wird man mich mit langen Stangen und Haken herauffischen. Endlich bleibe ich mit dem schmutzigen Wams an einer Gabel hängen. Der Landjäger, der zugleich Sargträger ist, wird mich mit dem Nachtwächter auf die Bahre legen, und da fällt das Geld heraus. Gott im Himmel! Es fällt auf die Straße, jedermann sieht es, auch der Lehrer, auch Jakob und Theodor, auch Agnes.‹

›Dem ist recht geschehen,‹ würde der Landjäger sagen, ›seht, er hat ja einen Fünffränkler gestohlen!‹

Wenn das alle Leute hörten und Jakob und Theodor einander anschauten und flüsterten: ›Aha, darum hat[149] er soviel für die Diebe geredet, der Dieb!‹ – o dann würde ich mich auf der Bahre noch schämen und, wenn ich könnte, sagen: ›Legt mich auf das Gesicht, ich kann euch nicht ertragen.‹

Gar oft hatte uns der Kaplan gesagt, in der Todesgefahr solle man das Auge ganz für die Erde schließen und nur noch ins Ewige blicken. Man müsse sogleich heiß um einen guten Tod beten. Und wir Schüler alle hatten das begriffen und für sehr leicht gehalten. Nun aber konnte ich gar nicht an die Überwelt sinnen. Mit doppelter Inbrunst mußte ich nun erst recht an dieses so schöne, so gute und so junge Leben denken, das jetzt nur noch an einem Faden hing. Ich wollte beten, aber für ein gutes Leben, nicht für einen guten Tod.

Aber statt eines frommen Spruches kam mir, ich weiß nicht wie und warum, der Vers vom Morgen in den Sinn:


»Mit Arm, mit Fuß er rudert und ringt,

Der schwere Panzer ihn niederzwingt.«


›Jetzt ist es sicher, ich muß ertrinken! Deswegen hat man gerade heute dieses Gedicht gelesen und deswegen habe ich gerade diesen Vers vom Versinken hersagen müssen. O, – nun muß ich beten. Vater unser, der du bist im Himmel!‹

Wieder rutschte ich ein bißchen. Aber nun krachte es so entsetzlich, daß ich gleich mäuschenstill auf dem Fleck blieb und die Augen schloß, als wollte ich das[150] Eis betrügen, oder wie so oft den Lehrer, wenn ich, bei einer Unart von seinem Auge ertappt, lammfromm vor mich hin ins Buch starrte: ›Herr Lehrer, ich bin's nicht gewesen.‹

Dann wieder wollte ich aufschreien. Doch wozu? Niemand konnte mich hier hören.

›Vater unser, der du bist im Himmel!‹ fing ich wieder an. Dabei dünkte mich, ich werde naß, wahrhaft, Wasser sickerte durch die gerissenen Spalten herauf.

Es hilft nichts, ich muß wieder rutschen! Ich klebte mich nun mit den Händen gleichsam an das nasse Eis und zog mich dann, ohne die Knie zu stellen, wie vorher, gestreckten Leibes einen Zoll weit vor. Wieder probierte ich es, indem ich die Arme so weit es ging, reckte, und siehe, es knisterte bei jedem Versuch weniger durch das Geäder des Eises. Wie ein Wurm wand ich mich so Zoll für Zoll vorwärts. Deutlich fühlte ich den Boden unter mir fester werden, die Spalten verloren sich. Zitternd versuchte ich es nun wieder mit den Knien, es ging. Nach einigen Minuten unendlicher Bangigkeit war ich schon vier Meter weit gekommen. Nun zog ich langsam und leise das eine Knie, dann das andere gegen den Bauch, erhob mich auf die Ellbogen und stand auf. Die Beine zitterten mir wie zwei Halme. Zurückblickend gewahrte ich einen trüben Wassertümpel an der Stelle, wo ich gelegen hatte. Ergrausend nahm ich einen Ansatz und jagte den See hinaus. Als könnte die Spalte[151] mir folgen, unter meine Schuhe fahren wie ein Blitz und mich nochmals gefährden, raste ich unaufhaltsam über das Eis. Dabei war mir immer noch, ich liege mit den heißen Wangen auf dem Eis und höre das unterirdische Bohren und Knistern. Der Kopf tat mir weh, unter meiner Schläfe summte und brummte es wie von einem Neste Hornissen. In kleinen Bächlein rieselte mir der Schweiß aus dem Haar in die Stirne. Ehe ich die Kameraden erreicht hatte, fühlte ich mich noch nicht völlig gerettet.

Endlich erkannte ich Theodor und Jakob von weitem, jeden an der Art seines Fahrens. Dieser war aus solcher Ferne wie eine Schwalbe, jener wie ein Star anzusehen. Sie stießen eben von unserem Ufer ab und machten den ›Zopf‹, indem einer die Linie des andern überschritt, so daß die Geleise sich immer kreuzten.

Ungefähr in der Mitte des Beckens traf ich sie, den Mund voll von meinem Abenteuer.

»Wie siehst du aus?« rief Theodor, »du bist ja ganz naß.«

»Er ist wahrhaft ins Wasser geplumpst!« rief Jakob lachend und öffnete dazu übermütig seine dichten, scharfen, gelben Zahnreihen. Zugleich schnitt er eine haarscharfe Kurve um mich, die ich selber ihm kaum nachgemacht hätte.

»Geplumpst!« Wie ernüchterte mich dieses Wort! So spaßig faßt man meinen Todesschrecken auf!

»Das tut nichts, Fröschchen!« sagte Jakob wieder[152] und rüttelte mich an der Schulter aus meinem Staunen auf. »Machen wir jetzt den Dreier!«

»Hei, den Dreier!« schrie Theodor und setzte sich schon in Bereitschaft.

Der Dreier hieß in unserer dörflichen Eissportsprache jene Verschlingung der Gleise zu Dreien, die genau wie ein schöner, regelmäßig gebundener Zopf aussah. Der hinterste Läufer mußte stets in einer weichen Schleife die zwei vorderen Geleise überfahren. Diese Figur forderte, daß man an der Spitze der Gruppe sehr langsam, am Ende sehr schnell, aber überall durchaus verläßlich fuhr, besonders, wenn es sich traf, daß man am zufahrenden Führer vor der Nase vorbeizog, sich beinahe mit den Schuhen ineinanderhakend.

»Ich bin – ich habe – ich war –« stotterte ich fröstelnd.

»Bah, und wenn man auch mit einem Strumpf ins Wasser langt, man ersauft doch nicht gleich, das geht gar nicht so leicht, das Versaufen,« wiederholte Rex, mit besonderem Vergnügen beim letzten Gedanken weilend. Meinte ja doch sonst jeder Narr, das Ertrinken geschehe nur zu schnell.

»Los einmal!« rief Theodor, der vor Ungeduld die Schuhe ins Eis hackte.

Das trockene Lachen, die nüchterne, alltägliche Art meiner Kameraden, wie sie mein ungewöhnliches Schicksal abtaten, es nicht einmal genauer erfahren wollten,[153] mich sofort wieder ins Altgewohnte trieben – merkwürdig – das brachte mich im Nu aus der heiligen Stimmung von Furcht und Reue, worin ich mich noch vor einer Minute befunden hatte. Ich war wohl in einem schweren Traume gelegen, und wie man dann durch das viele Licht des Morgens und das Gelärm auf der Straße erwacht und sich über seine Erschrecktheit schämt, so wurde auch mir nun bei diesen Burschen, die nicht wie ich geträumt hatten. War ich wirklich in so großer Gefahr geschwebt? War ich nicht eher feige gewesen und hatte mich zu früh der Angst ergeben? Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich.

Als wir nun den glänzenden Dreier über die glatte Diele zopften, wobei ein jeder es dem andern an Eleganz zuvortun wollte und jeder spürte, wie wir drei zusammenpaßten, einander ergänzten und benötigten, als wären wir dazu eigens geboren, als ich wieder den gesunden Hauch fühlte, der über das Eis und die Wangen der Fahrenden fuhr und sie wie Äpfel im Hochsommer rötete, und als ich näher dem Ufer den verlassenen Joseph dort in den Stoppeln sitzen und sich ein verletztes Bein reiben sah: da fing ich an, verwegen zu fahren, die gefährlichsten, knappsten Furchen um meine Kameraden zu ziehen, es reizte mich, das harmlose Spiel möglichst verzwickt, das Leichte möglichst schwierig zu machen, kurz ich war berauscht, und zwar so heftig, wie es nur bei Leuten vorkommen mag, die in einem Schwächezustand schweren, wilden Wein trinken.[154] Dem Leben und seinem Leichtsinn zurückgegeben, lachte ich über alles, was vorhin gewesen war, und kehrte ihm den Rücken.

»Was fehlt dem Joseph?« fragte ich Jakob, der eben die Schleife graziös um mich zog.

»Er ist umgefallen und – du weißt ja!« Spöttisch zeigte er nach dem weinerlichen Bürschchen, das sich so angelegentlich das Bein rieb.

Ich nickte großartig. »O ja, ihn tötet schon ein Floh!«

Doch als wir ans Land gingen, hinkte uns Joseph entgegen und behauptete, er könne unmöglich über den Melzberg heimgehen, das Knie schmerze ihn bei jedem kleinsten Schritt.

»Probier' es!« befahl Jakob.

»Ich kann nicht!« beteuerte Joseph.

»Du willst nicht,« beharrte Rex.

Joseph war ein bleich und kränklich aussehender, sehr eingezogener Junge. Ihm fehlte indessen nichts als Mut und Ausdauer. Der einzige verzärtelte Sohn der Krämerin Ilsig, schleckte er immer vom Zuckerzeug des mütterlichen Ladens. Seine Taschen enthielten eine Musterkollektion der dortigen Spezereien. Von Zeit zu Zeit plünderten wir sie gründlich aus. Joseph ließ es gutmütig geschehen. Er schmiegte sich immer an einen Stärkeren, früher an den mutigen Valens, nun nach seinem Hingang an den strammen Theodor, dem er von Herzen ergeben war. Josephs Betragen war so[155] sanft und säuberlich, daß man ihn wohl oft ein Mädchen nannte, aber keiner wollte ihm übel. Wenn wir ihn ausgeplündert hatten und Theodor befahl: »Kehre die Taschen um!« so zog er die Futterzipfel mit einem so unschuldigen Lächeln heraus und sagte so mild: »Sieh nur, kein Brosame mehr!«, daß man ihn wie ein braves weißhaariges Kaninchen gern gestreichelt hätte.

Aber jetzt war weder Jakob noch ich selber gewillt, auf sein Knie Rücksicht zu nehmen. Doch da zog Theodor seine vielbeneidete Uhr hervor und sagte: »Halb fünf! Bevor wir zum Wald kommen, ist es dort dunkel wie in einer Kuh!«

Jetzt zog auch Jakob seine noch mehr beneidete Uhr hervor. Denn sie besaß zum übrigen noch einen Sekundenzeiger. »Nein,« gab er widerwillig zu, »über den Berg können wir nicht mehr. Donnerwetter, wer dachte auch, daß es so schnell Abend wäre?«

»Aber zu Fuß auf der Straße sind es drei starke Stunden, wißt ihr noch von dem Spaziergang der Schule her!«

»Da kommen wir eben um acht Uhr heim, was ist da weiter?« versetzte Rex gleichmütig.

»Aber ich kann nicht laufen, keine Viertelstunde weit,« wimmerte nun Joseph und hinkte mit dem Beine zur Bekräftigung. »Ihr müßt mich auf den Schlitten nehmen.«

»Und ich muß um sechs Uhr zu Hause sein,« wehrte ich mich nun gleichfalls.[156]

»Du mit deinem Zuhausesein!« machte Jakob verächtlich, der in solchen Stücken eine unbeschränkte Freiheit genoß, über die meine Mutter sich oft aufhielt.

Da tat Theodor einen Luftsprung. »Ich weiß etwas!« schrie er wie verrückt und lief auf und davon.

»Ist er aus dem Häuschen?« lachte Jakob.

»Bravo, bravo!« Joseph klatschte nun in seine weißen, feuchten Mädchenhände. »Er holt einen Roßschlitten, bravo!«

Wirklich lief Theodor nach dem Stoppelhof.

»Der verdammte Kerl!« machte Jakob unwillkürlich vor Staunen und rannte ihm nach. Ich folgte. Weit hinten hinkte Joseph nach.

Als ich auf dem unsauberen Platze zwischen dem Stall und Gehöfte ankam, hatte Theodor das Geschäft mit dem Bauern bereits abgemacht.

»Solche Jungens, na!« brummte der alte, bärtige Mann, als er mich und weit hinten Joseph erblickte. »Habt ihr denn auch das Geld?«

»Da fragt man doch nicht!« sagte Jakob, stolz die Lippen aufwerfend.

»Aha, das ist der Kronenwirt!« sprach der Bauer und zeigte lachend einige schwarze Zähne zwischen Bart und Schnauz. Er ward nun um vieles zu traulicher.

»Also einen Franken zwanzig auf den Kopf! Und bis sechs Uhr ins Dorf!« bestimmte Theodor. »Seid ihr einverstanden?« Er richtete seine großen, blauen[157] Augen zugleich mit den kleinen, verschmitzten des Bauern fragend auf uns.

»Das ist zu viel!« widersprach ich. Mich erschreckte der Gedanke, nun am Ende den Fünffränkler münzen zu müssen. Ich wollte ihn nicht, nie verlieren! »Wir sind ja nur Schulbuben – seht Ihr, und so leicht!« Ich schlenkerte die Beine zur Bestätigung meiner Behauptung.

»Wenn euch das zu viel ist, so geht zu Fuß, saker lott!« Mit diesen Worten drehte der Bauer uns den Rücken und ging zum Stall, wo der Knecht eben eine schöne tiefbraune Stute zum Schlitten herausführte. Die fetten Weichen des Pferdes zitterten vor Kälte.

»Führ' sie nur wieder hinein, August,« gebot der Bauer mit seiner unangenehm krächzenden Stimme, »die Burschen gehen zu Fuß.«

»Ich fahre, ich zahle!« schrie verzweifelt Joseph, der uns endlich erreicht hatte; er fiel dem Bauern in den Arm.

»Ich auch, ich auch!« sagten Jakob und Theodor.

Allein konnte ich und durfte ich den einsamen Weg nicht machen. Um sechs Uhr sollte ich ja auch heim gelangen. Die Mutter sah streng darauf. Es blieb mir nichts übrig, als nachzugeben. Wir legten das Geld auf die Bank neben dem Hause hin. Fast wagte ich nicht, mein Silber hervorzuholen. Doch es mußte sein.[158]

»Donner, er hat einen Fünffränkler und mag nicht einmal einen Franken zahlen!« rügte Theodor lustig. »Wie geizig!«

Jakob aber schaute mich prüfend an.

»Nein!« entgegnete ich und wurde ganz rot um die Augen, »ich münze ihn nicht gern. Hat man ihn einmal vernickelt, so ist gleich alles heidi!« Das sagte ich wie ein Großer. So hatte ich nämlich den Nachtwächter oft reden hören, wenn er auf dem Zechtisch in der Sonne einen Taler wechseln ließ. War ich doch ganze Nachmittage bei Jakob in der Wirtsstube.

Niemand kann begreifen, was ich empfand, als der häßliche Bauer meinen silbernen Leopold prüfte, in der Hand wog, ob er wohl echt sei und dann sorgsam mit den groben Fingern in seinen großen, schmutzigen Beutel schob. Er hatte mir nur ein Silberstück und das übrige in Nickel aus den zusammengeklobenen Münzen meiner Kameraden zurückgegeben. Die ganze Westentasche hatte ich nun voll Geld, aber mir schien, das sei nicht mehr ein Zehnteil von jenem schönen, unwiederbringlich verlorenen Fünffränkler.

Erst als wir uns behaglich auf dem Schlitten zurechtgesetzt, die Knie ineinander geschmiegt und mit dicken Decken überlegt hatten, als die Peitsche knallte und in der tiefen Dämmerung des Winterabends die Bäume, die Hagstangen, die Heuschober Stück um Stück so rasch und doch so geräuschlos an der schmalen, bleichen Straße verhuschten, erst da wurde mir wieder[159] traulicher zumute. Bald blies der Knecht, der uns fuhr, ein blaues Zigarrenwölklein über die rechte, bald über die linke Achsel. Eifrig schnappten wir danach. Denn wir liebten den Tabakrauch der Großen. Nun zündete der Fuhrmann die Laternen an beiden Wagenseiten an. Der Weg vor uns erschien jetzt gelb im Lichte, und der verschwommene Schatten des Pferdes schob sich darin wie ein schwarzes Ungetüm voraus.

»Er sollte mehr knallen,« meinte ich; der Wagenschlitten konnte mir nicht rasch genug fahren.

»Dummheit!« schalt Theodor voll großer Erfahrung. »Ein rechter Fuhrmann braucht die Geißel nie!«

»Ich ließe sie aber doch um die Ohren tanzen. Donnerwetter, das Roß müßte mir ganz zappeln, das ist ja eine Schnecke!« zürnte Rex.

Seine Lippe schwoll, und die Stirn erhitzte sich bei diesen Worten.

»Du würdest die Pferde bald kaput reiten,« entgegnete Theodor gereizt.

Der Knecht neigte sich seitwärts und horchte mit halbem Ohr. Aber es schien ihm zu gering, uns zu widersprechen. Er murrte nur zwischen dem Stengel etwas Unverständliches hervor und blies uns dann eine doppelt schwere Wolke ins Gesicht.

Wir fuhren nun über den sogenannten Graugrund, ein wässeriges Ried, das in der Dorfsage ein wichtiges Blatt ausfüllte. Hier schlüpfen nämlich nicht nur die Kindlein ins Leben hinaus mit noch unfertigen Ohrläppchen[160] und zu kurzen, nassen Hemden und werden vom Storch ans Straßenbord getragen – nun, das glaubten wir inzwischen nicht mehr – sondern hier geistern auch jene herum, die unselig aus dem Leben gefahren sind und keine Grabesruhe finden können. Sie stecken bis an die Knie im Moor und leiden unbarmherzig vom Frost und von den Blutegeln. Hier und da klagen sie wie Unken, dann sind sie noch tief in der Strafe; wieder bellen sie wie Hunde, dann sind sie erst ins Leiden gekommen; und manchmal pfeifen sie nur leise wie ein junges Vögelchen, das noch spärlich gefiedert ist, aber doch bald fliegen kann, die sind der Erlösung schon ganz nahe. Dann soll man den Hut abziehen und für ihre geplagte Seele ein Vaterunser beten.

Das glaubten wir noch halb und halb. Und wir fürchteten uns mit Ausnahme Jakobs, der seine scharfen Augen beständig in die schwärzlichen Gründe schickte. Joseph verkroch sich immer tiefer zwischen den Beinen seines Schützers Theodor.

»Auf dieser Wiese, dort bei der Esche, habe ich einmal den Morlibub gesehen,« sagte Theodor etwas großhansig.

»Hilf Gott, den Morlibub!« rief ich und war daran, das Kreuz zu schlagen. Denn dieser trunksüchtige, tückische und seiner Unehrlichkeit wegen allseitig gemiedene Bursche war vor einem Jahre an einem stürmischen Fieber gestorben, ohne Priester und[161] Gebet, und die Leute behaupteten, seine Leiche sei gleich ganz schwarz geworden. Niemand durfte in den Sarg blicken, der Kopfschieber daran war zugenagelt.

»Hör' auf, Theodor, ich fürchte mich!« flehte Joseph und rutschte noch tiefer zwischen seinen Knien herunter. Der Wind erhob sich ein wenig und bewegte die Halme des Rieds leise.

Jakob machte das Gesicht eines Zweiflers.

»Wie war es denn?« fragte ich mit jener Neugier der Furchtsamen, die zu wissen wünschen, was sie grausen macht.

»Er hat mit einer glühenden Zange die Steine aus der Wiese dort drüben gelesen. Als Knabe warf er ja immer Steine in die Felder, daß die Sensen splitterten.«

»Ja, das tat er,« bestätigte ich, obwohl ich nie eine Spur davon gesehen hatte.

»Dreimal lief er um jeden Baum, dreimal warf er die Zange ins Gras,« log Theodor aus Gehörtem und Geträumtem weiter. Unser Schrecken mehrte seinen Mut. »Ja, dreimal, sag' ich und lüg' nichts dazu! Aber sogleich wieder mußte er sie aufnehmen. Das brannte, sag' ich euch!«

»Kann sein,« bemerkte geringschätzig Jakob, »aber der Schloßvogt Michael –«

»Der vor tausend Jahren?«

»Vor tausend oder zweitausend Jahren, das weiß[162] ich nicht mehr genau, hat er unser Dorf regiert. Alles hat ihm gehört.«

»Ja, das Korn hat er uns Bauern zusammengeritten, zwanzig Jagdhunde hat er mit sich hineingesprengt,« grollte Theodor.

»Es war ein großartiger Herr!« schloß Jakob fast bewundernd.

»Hast du ihn gesehen?« fragte ich heftig.

»Sah ihn! Er bog das Schilf auseinander und stand bis hierher, wo ich den Gurt trage, nackt im Wasser. Am ganzen Leibe hingen ihm Blutegel und sogen an ihm. Aber die Toten haben kein Blut, und die Egel, die doch durstig waren, bissen sich darum immer tiefer in ihn hinein. Der Vogt drehte sich um und schüttelte sich vor Schmerz. Aber kein einziger Blutegel fiel weg. Die Arme waren ihm über den Kopf hinauf festgebunden. Man sagt, so viele Menschen habe er gequält, als ihn Blutegel beißen.«

Joseph verhielt sich die Ohren.

»Hast du mit ihm geredet?« fragte ich.

»Alle guten Geister loben den Herrn!«

»Das hast du gerufen?«

»Und mich schnell bekreuzt!«

»Horch!« Theodor legte den Finger an den Mund.

Wir hielten den Atem an. Ringsum war es totenstill.

»Habt ihr's auch gehört?« fragte der Walomer.

»Wie ein Schwein hat's gegrunzt, nicht?« sagte[163] Rex und blinzelte Theodor mit dem einen Auge seltsam zu.

»Gerade so! Schon wieder!«

Nun glaubte ich, es auch gehört zu haben, gerade wie ein Schwein.

»Ist es nicht, als reite da jemand hinter uns?« fragte Jakob wieder.

Ich wagte nicht, hinter mich auf die leere Heide zu schauen. Aber auch mir war jetzt, es töne Pferdegetrappel im Rücken. Alle Luft dünkte mich von Spuk und Gesichtern voll. Erleichtert atmete ich auf, als wir endlich von ferne die Lichter des Dorfes erblickten. Damit niemand von unserer Fahrt wüßte, ließen wir den Knecht vor den ersten Häusern halten und stiegen aus. Eben schlug es dreimal mit der kleineren Glocke vom Turme. Es war noch ein Viertel bis sechs. Das freute mich.

Theodor begleitete seinen Joseph heim, ich aber sprang schnell über den Kirchplatz zu unsrer Wohnung neben dem Schulhaus hinunter. Doch schon im Hausgang wurde mir wieder schwer. Ich fühlte, daß ich wieder in den Schatten meiner Sünde trat.

Auf halber Treppe sah ich oben die Mutter vor der Mädchenkammer stehen und sich an die Türe lehnen. Sie wandte sich nach mir und machte: »Pst!«

Ich erschrak. Was war los?

»Elschen hat wieder einen Anfall gehabt,« flüsterte die Mutter und ergriff mich an der Hand. »Gottlob,[164] das Kind schläft jetzt schon zwei Stunden, das tut ihm gut.«

Immer noch an ihrer Hand trat ich in die Eßstube, wo Paula bei einem Kerzenlicht Kartoffeln schälte. Meine Schwester hatte verweinte Augen. Zuweilen tropfte noch eine kleine Träne in die Schalen.

Nun ließ die Mutter meine Hand los und musterte mich wie jedesmal, wenn ich lange fortgeblieben war, vom Kopf bis zu Füßen, als wollte sie sich versichern, ob sie den gleichen Buben zurückbekommen habe.

Ich hielt den Blick mühsam aus und fragte: »Aber, was ist mit Elschen? Es war schon mittags – hat die Influenza –«

Die Magd öffnete die Türe und rief der Mutter.

»Sage doch, Paulchen!« schmeichelte ich.

»Als du kaum weg warst, hat sich Elschen erbrechen müssen,« erzählte die Schwester und war nahe daran, wieder zu weinen. »Wir legten es ins Bett. Da wurde es ganz rot und heiß. Bald fing es an so – ach so dummes – nicht schönes Zeug zu schwatzen –«

»Und dann?« fragte ich ängstlich. »So höre doch auf zu weinen und sag' mir, was dann?«

»Dann kam der Doktor – der Doktor!« Sie sperrte den Mund und die Augen auf, so weh tat ihr das Verschlucken der Tränen.

»Paulchen, was hat er gesagt?«

»Ein fremdes Wort, ein französisches, ich kann[165] es nicht nachsprechen. Er redet ja nie deutsch.« Sie schluchzte.

»Aber er muß doch sagen –«

»Er sieht die Sache schwer an, behauptet die Mutter.«

»Wenn es nur nicht die Cholera ist!« sagte ich. Von ihr hatte ich viel Schlimmes gelesen. Sie allein hielt ich für eine böse Krankheit.

Die Mutter kam nicht zum Nachtessen. Paula und ich blieben allein und redeten und aßen wenig. Einmal holte die Magd schnell wollene Tücher aus der Kommode, die zwischen den zwei Fenstern stand. Mich wurmte schwer, daß ich Elschen heute einmal rauh angefahren hatte.

»Ist Elschen erwacht?« fragte ich die Magd.

Barbara nickte.

»Und?« fragte ich leiser, im Glauben, man dürfe selbst hier nicht mehr laut reden.

»Wir müssen sie in nasse Tücher wickeln.«

»Darf ich –« ich sprang sogleich hinter der Magd her.

»Werdet ihr dableiben! Potztausend, der Doktor hat es streng verboten, hinaufzugehen.«

Paula und ich ließen die Teller halbvoll stehn und setzten uns auf das niedrige Ofenbänklein in der Ecke. Dies war unser Privatstübchen, der Ort, wohin wir uns immer begaben, wenn wir schmollen, grollen, weinen, eine Schlauheit aushecken, uns heimlich hinter der[166] Mutter ausschmähen oder auch miteinander besonders lieb tun wollten. Zwischen Ofen und Wand zog sich der lauschige Winkel in die Ecke und konnte gegen die offene Stube mit einem geblümten Vorhängchen abgesperrt werden. Wie viele heimliche Zänkereien hatten wir da ausgefochten, wie manches Geschichtlein uns erzählt, wie oft einander hier die Schulaufgaben aufgesagt! Und wie oft hatte ich da meine beiden Schwestern durch die ungeheuerlichsten Drohungen eingeschüchtert, um ihnen in Zukunft das Ausplappern meiner Streiche zu verleiden! Wie oft aber auch hatten wir da in der Dämmerung getuschelt und gelacht und solche Dummheiten getrieben, daß es gut war, wenn der Winkel nie eine Silbe davon verriet. Daß er für uns drei kaum Raum bot, machte ihn in unsern Augen nur noch wertvoller.

Jetzt war uns selbst in dieser Enge zu weit und fürchterlich leer. Elschen fehlte ja. Wir fühlten uns sehr vereinsamt und wußten nichts zu tun, als dann und wann die Köpfe zusammen zu stecken und zu flüstern: »Du, wenn's nur bald bessert!«

»Ja, wenn's nur bald bessert!«

Plötzlich fuhren wir zusammen. Ein lauter Schrei ertönte, ein zweiter, dritter! Paula preßte sich fest an mich.

»Heireli, was ist das?«

»Elschen stirbt!« rief ich. Wir fingen an bitter zu weinen über das sterbende Schwesterchen. Unser Haar und unsere Tränen vermischten sich.[167]

»Sie war so gut, viel besser als wir zwei!« klagte und lobte Paula.

»Viel besser! Weißt du noch: der rote Ball!«

»Ja, sie hat ihn dir für den grauen gegeben, der gar nicht mehr hoch sprang.«

»Und sie hätte doch den roten auch lieber gehabt,« betonte ich.

»Nichts behielt sie für sich, die Gute!«

Darauf ergingen wir uns in neuen, heftigen Tränen.

»Horch!« Paula legte den Finger ans Ohr.

»Es ist nichts!« machte ich.

»Ich hatte es doch gehört, es weinte jemand da draußen.«

»Wollen wir nachschauen?« fragte ich, die Hand Paulas vom Arme lösend. Es war nun sehr dunkel in der Stube, denn die Magd hatte die Kerze mit sich genommen. Nur die Fenster blickten heller von den benachbarten schneeigen Dächern und dem lichten Winterhimmel.

»Bleib, Heireli, bleib!« flehte mich das Schwesterchen an und krampfte meinen Ärmel verzweifelt am Ellbogen.

Wir schmiegten uns fest zusammen. Zuweilen ertönten gedämpfte Schritte über der Diele, zuweilen krachte es in der holzigen Tafelwand. Die Gesichter mit den vertrockneten Tränen, Wange an Wange, schliefen wir unmerklich ein.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 145-168.
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