[70] Drei Tage später saß ich wieder in der langweiligen Bank des städtischen Gymnasiums, verwechselte Gerundium und Gerundiv und schrieb: er »trit« statt er »tritt«. Vom Fenster aus sah ich unten an der Türe des linken Gymnasiumflügels eine Hausiererin stehen und der Frau unseres verhaßten Pedells Schuhschnüre, Nadelbüchsen, Zündschachteln, Ansichtskarten, rote Kerzlein, Seidenmaschen und anderen schönen Firlefanz anbieten. Bedächtig nahm die Pedellin ein jegliches in ihre rübenroten, fleischigen Hände und legte es wieder hin, während ein junges Pedellchen sich an ihre blaue Küchenschürze klammerte und nichts anderes erwartete, als die Mutter würde gleich den ganzen Kram mitsamt der Häuslerin aufkaufen. Ich wunderte mich nun ungeheuer, was die Dame schließlich kaufen würde. Etwa die rote Schleife, die sie immer wieder in die Hand nahm? – Aber die[70] stand ihr meines Erachtens überaus schlecht. Also die gelbe? – Die nahm sich noch übler aus. An diesem Halse, der sein zierliches Kröpfchen kaum mit Kragen und Tuch verbergen konnte, schien jede Farbe verloren. Der Pedellin stand kein Kleid an, keine Farbe. Man hätte eine neue erfinden müssen und wahrscheinlich hätte diese wieder nicht gepaßt. Denn die Wahrheit ist, daß die Pedellin selber schon alle Farben der Malerei an ihrem Gesichte zeigte. Ihre Augen waren grünlich, ihr Haar grau, ihre Nase oben rot, unten violettlich und endlich braun. Stirne, Wange und Kinn erschienen gelb, schauderhaft gelb, – denn die Gute litt an der Galle, – was indessen ihren Mann nicht verhinderte, auch an der Galle zu leiden, besonders, wenn er einem ausgezeichnet angelegten Streich der Studenten auf keine Art beikommen konnte, so daß er, wie wir uns ausdrückten, das Pulver zwar roch, aber die Schützen nirgends sah. Lippen und Ohren der Pedellin waren merkwürdig blau, die Zähne entweder ausgefallen oder schwarz.
»Welche Farbe wird sie nun wohl wählen?« fragte ich mich, indessen Jakob gerade erzählte, warum Cicero in seiner Rede für Ligarius eine so schwierige Verteidigung gehabt habe. Meisterlich sagte Jakob das und mit einem so überlegenen Lächeln, als fände er es gar nicht schwierig, in einem Prozesse zu siegen, wo der Richter der beleidigte, und der Advokat der mitschuldige Teil ist. Der Professor[71] nickte immerfort und seine Stirne glänzte von Zufriedenheit.
»Wird sie wohl gar Himmelblau wählen oder Karminrot oder – nein, das ist unmöglich – orangegelb?« marterte ich mich immer noch.
»Wahrhaft, nun nimmt sie Berlinerblau!« – ich fiel beinahe in Ohnmacht.
»Also, was haben wir auf morgen durchzunehmen, Walter? nun?« – flötete die Stimme des Lateinlehrers über mir.
Ich schrak zusammen, stand langsam auf und blickte ratlos und hilfesuchend umher.
»Was wählen wir aus, Walter? – kommt's bald?« giftelte der entsetzliche Mensch weiter.
»Berlinerblau!« versetzte ich.
Noch heute weiß ich nicht, ob mir diese Antwort infolge meiner Träumerei oder aus Ärger oder aus Not entschlüpfte. Genug, das ungeheure, tosende Lachen einer Stube voll Menschen, alle im ersten Baß ihrer eben gebrochenen Stimmen, dröhnte wie ein Donnerwetter an mein Ohr. Mit heißem Gesichte und fliegenden Rockschößen rannte der arme Lehrer zum Saale hinaus.
Diesen Vorfall hatte ich schon wieder vergessen, als ich unser Kosthaus, ein freundliches Hotel an der Marktgasse betrat und mit dem Essen auf Jakob wartete, der noch schnell seine Bücher auf die nahe Bude geschafft hatte. Die Suppe wurde schon gereicht. Er kam noch[72] immer nicht. Im Lokal erzählte man sich von der Abstimmung am nächsten Sonntag, wo das Volk entscheiden sollte, ob es in Zukunft seine Verwaltungsbehörden selber oder durch Vertreter wählen wolle. Ein aufgeregtes, zwiespältiges Gespräch ging über die Tische. Drei oder vier redeten immer gleich zeitig. Reichlich trank man Wein oder Bier dazu und schlug mit der Faust fast den Eichentisch mürbe.
Das war mir alles einerlei. Solche Kleinigkeiten berührten mich gar nicht. Ich hatte nicht genug Geduld für diese langsame, stufenweise Lösung der Volksbande. Mit einem Ruck mußte meines Ermessens die Demokratie sich die Zwangsjacke sprengen, gerade wie Andreas getan hatte. Zwar war ich sehr verstimmt, daß er am Tage nach unserer Nachtwache den Rock beinahe noch schmaler an der Schulternaht geschlossen und die Ärmel noch kürzer und noch enger trug. Doch fing ich an zu glauben, daß dies jene berühmte Vorsicht großer Volksmänner sei, um desto bequemer die Freiheit zu predigen. Sicher, in diesen knappen Ärmeln vermutete niemand einen Fessellöser!
Dennoch, ich weiß nicht recht warum, so oft mir diese engen Ärmel in den Sinn kamen, verdüsterte sich mein Zukunftsbild, als wäre es zum vornherein in eine solche Zwangsjacke bestimmt.
Endlich trat Jakob eiliger als gewöhnlich über die Schwelle. Er trug, wie ich wohl merkte, eine jähe Meldung auf den Lippen.[73]
»Was ist los?« fragte ich neugierig. »Doch nichts Böses?«
»Hast du noch keinen Bericht?«
»Von wem? – von was? Sprich doch!« forderte ich und riß ihn fast zornig am Arme.
»Der Andreas Marxele ist gestorben.«
Wie gelähmt starrte ich den Kameraden an.
»Er muß sich erkältet haben, schreibt mir Agnes; – er soll – Herr Kellner, Herr Kellner, tragen Sie die Suppe ab! – sie ist ja ganz kalt!«
Ich muß hier beifügen, daß wir erst in der Universitätsstadt den Kellner ohne »Herr« kennen lernten.
»Da starb er also gerade nach der Fastnacht, – die wollte er noch erleben, na, ein Kauz war er immer!« – plauderte Jakob leichthin.
»Mein Gott!« vermochte ich endlich zu stammeln.
»Nehmen wir Rindsbraten? – Was hast du bestellt? – Herr Kellner! – Läuft der Schuft schon wieder weg.«
»Und was schreibt Agnes noch, Jakob, bitte,« heischte ich ganz bleich und tonlos.
»Drei Tage lag er im Fieber, – he, garçon! hieher! – also Rindsbraten, Walter, – und Erbsen mit Kartoffeln, – nicht Walter?«
»Drei Tage im Fieber!« schrie ich und fühlte es naß in meine Augen steigen.
»Bringen Sie Rindsbraten und – so sag' doch[74] einmal, du Langweiliger, – nehmen wir Erbsen mit Kartoffeln oder saure Rüben mit Ei?«
»Rüben, ja, und Erbsen mit Ei, ja,« – machte ich mechanisch. Es war mir ganz gleichgültig, was ich essen sollte.
»Er träumt heute den ganzen Tag,« entschuldigte mich Jakob beim Kellner, der über meine Antwort impertinent lachte. »Und einen Goldwändler!« gebot mein Freund dem enteilenden Kellner nach und faßte mich nun derb bei der Hand.
»Was hast du? – Du siehst ja wie eine Wachspuppe aus!« fragte er in seiner lustigen Art, aber doch teilnehmend.
»Drei Tage lag er im Fieber, Jakob?«
»Und was für Zeug er phantasiert habe, – es war zum Totlachen!«
»Zum Totlachen? – schreibt Agnes zum Totlachen?« fragte ich schmerzlich.
»Kauz du! – da lies selber!« – er warf mir den Brief hin und fing an, eifrig den prachtvollen Braten in dunkelbrauner Sauce zuzuschneiden.
»Zum Totlachen schreibt sie natürlich nicht, – so ein Mädchen, wo wollte das Kind so was nehmen?«
»Er phantasierte –« las ich leise.
»Lies laut!« – herrschte mich Jakob an.
»Er phantasierte den ganzen Tag. Es wird Merkwürdiges davon erzählt. – Wenn es wahr ist! – Einmal habe er den Zaren zu sich gerufen, – wieder[75] habe er eine lange Rede im Bundesrat gehalten und dazu bald geweint, bald gelacht. Kaum vier Männer konnten ihn im Bett halten, so wild tobte er. Immer wollte er zum Fenster hinüberspringen. Man mußte ihm die Türe und alle Scheiben öffnen, – dann die Ärmel am Hemd und den Brustlatz aufknöpfen – und immer noch hatte er nicht genug Luft. Auf der Straße hörten wir ihn schreien: ›Ich ersticke, Barmherzigkeit, ich ersticke!‹«
»Asthma, Asthma! – der arme Kerl!« bedauerte Jakob und goß sich von der braunen Brühe über die Erbsen.
»Dann versuchte er das alte Nachtwächterlied zu singen und wollte Uhren aufziehen. Viele Bekannte besuchten ihn, aber er erkannte keinen. Der Doktor befahl dann, daß man nur noch den Pfarrer und die Pfleger in die Stube lasse. Es heißt aber, der Ammann stecke dahinter. Denn die Reden des Irren seien ungesund für gesunde Köpfe. Er hetze und verwirre! Das glaub' ich nicht. Andreas war immer so gut! – Warum hat man doch Angst vor einem Sterbenden? – Was kann der noch Böses tun?«
»Das versteht dieser Zopf wieder einmal nicht!« bemerkte Jakob und wischte sich mit der Serviette den blühenden Mund ab.
Mich aber dünkte diese Zeile wahrhaft groß. Ich liebte ihretwillen Agnes noch mehr.
»Am dritten Morgen wurde er ruhiger und niemand[76] hat gesehen, wann und wie er eigentlich gestorben ist. – Am Freitag wird er begraben. Ich schreibe Dir das so ausführlich, weil man hier von nichts anderem redet und wir ihn alle so gut kennen. Erzähle es dem Walter. Ich glaube, er hat den Nachtwächter sehr gerne gehabt. – Vielleicht kommt Ihr sogar an die Beerdigung.
Herzlich küßt Dich Deine Schwester Agnes Bronn.«
»Ich gehe nicht,« sagte Jakob sogleich entschieden. »Am Freitag vormittag haben wir ja Chemie und Dr. Müller wird reinen Wasserstoff darstellen, weißt du!«
»Meinetwegen bleib! – aber ich gehe.«
Nun aber fing mich der Freund so eindringlich an zu bitten, ich möchte doch hier bleiben, sonst müsse er anstandshalber auch mitkommen, – er spannte meine Neugier bezüglich des chemischen Prozesses so hoch und bewies mir so klar, daß das Rektorat uns den Freitag nie freigeben würde, daß ich allmählich schwankte und zauderte.
»Wir sind ihm auch nicht verwandt!« fügte er bei.
»O doch, ich bin ihm sehr nahe verwandt!« widersprach ich leise.
»Und gehen wir dem Nachtwächter, so müssen wir auch dem Küster – er hustet schon sehr verdächtig – dann dem Orgeltreter, dem Glöckner, dem Weibel, kurz jedem Bein ans Grab folgen. Nein, Walter, es geht nicht. – Aber trink doch! – da stoß an! – es gilt dem Andenken des guten, alten Nachtwächters!«[77]
Die Gläser gaben einen widrigen, scherbenhaften Klang.
Aha, Andreas Marxele war nicht zufrieden mit uns. – Nun beschloß ich erst recht fest, an der Beerdigung teilzunehmen. Aber ich wollte Jakob nichts verraten. Denn ich fürchtete seine Herrschaft über mich. So wie ich ihn kannte, wäre er fähig gewesen, mich in seiner Bude festzubinden, bis die Eisenbahn abgefahren wäre.
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