Zehntes Kapitel
Die Heimkehr

[144] »Erbärmliche Kreaturen ihr!«

Das war die erste Antwort, welche Jos denen gab, welche sogleich vor das Haus geeilt waren und sich nach seinem Zustand erkundigen wollten. Ja, nun kamen sie zu allen Löchern heraus und streckten die Hälse und die Ohren, um[144] etwa zu sehen, was wohl der so gedemütigte Trotzkopf für ein Armensündergesicht machen werde.

Tausend Element, das sollten sie nicht!

Aber vergebens strengte Jos sich zum Aufstehen an. Mühevoll hatte er sich mit Händen und Füßen in die Laube des Hauses, den sogenannten Schopf, gebracht, wo er nun doch wenigstens vor dem Regen geschützt war. Hier saß er auf einem kleinen Heubündel und schaute die aus allen Winkeln des großen Hauses kommenden Leute trotzig an.

»Jesus, Maria und Josef, sein Kopf ist ja blutig!« riefen mehrere der Herbeigeeilten erschrocken aus. »Hat dich denn einer geschlagen? Wer?«

»Niemand als ich selbst«, antwortete Jos und fuhr dann, wie von Widerwillen und Ekel geschüttelt, fort: »Wenn mich einer so geschlagen hätte, hu – einer der Elenden, und ich müßte jetzt auch so wehrlos daliegen und mich von jedem angaffen und bemitleiden lassen – Gott, es wäre, um den Verstand zu verlieren.«

»Und wie ist dein Zustand jetzt?«

»Jetzt«, lachte der schmerzgequälte Jos bitter, »jetzt hab' ich gar keinen Zustand, nur noch einen Zusitz, das muß doch jedes Kind sehen.«

Nur mit größter Mühe und vielen Kreuz- und Querfragen brachten einige Schulfreunde des Leidenden endlich heraus, daß er zwar im Sprung aus dem offenen Fenster glücklich auf die Beine gekommen, dann aber auf der abgewetterten glatten Steinplatte auch noch auf den Kopf gefallen sei.

Jos erzählte das, mit vielen bitteren Bemerkungen über die verschiedensten Ausrufe des Mitleids sich unterbrechend. Diese Weichheit, dieses Beklagen des – durch eigene Schuld nur – Geschehenen, was war es anderes als der jämmerliche Tribut, mit dem sie ihrem Hochmut, ihrer frommen Eitelkeit die beste oder eigentlich die schwächste Seite ihres Wesens wiedergewinnen wollten. Ha, Jos hätte rasend werden mögen, als er einen sagen hörte, man könne unmöglich begreifen, warum so ein Unglück Gottes heiliger Wille sei. Also auch an[145] dem sollte der liebe Gott die Schuld haben! Wie, wenn er nun der Gewalt nicht gewichen wäre, wenn er statt dessen einige seiner Gegner verletzt hätte? Dann wär' gewiß nur der Sohn der Schnepfauerin und nicht der liebe Gott an der ganzen Geschichte schuld gewesen. Aber diese Leute kamen eben niemals auf das Richtige. Da standen sie und jammerten über den blutenden Kopf, während ihm sein rechter Fuß wohl zehnmal weher tat. Anfangs freilich wär's ihm selbst auch nicht anders gegangen. Erst als er sich zum Gegenstande eines ihm widerlichen Mitleids gemacht sah, dem er so schnell als möglich entfliehen wollte, empfand er im Fuße einen furchtbaren Schmerz, der bei der ersten Bewegung den ganzen Körper durchfuhr und ihn mit Gewalt auf den blutbedeckten Platz zurückwarf, von dem er sich, da er jede Hilfe trotzig verschmähte, nur langsam wegzubringen vermochte. Jetzt hatte er eine ganz eigene Freude daran, daß die Umstehenden, das Ärgste gar nicht ahnend, noch immer über die gewiß nicht bedeutende Verletzung am Kopfe jammerten.

Bitter lachend starrte er die Umstehenden an und wies einzelne, die ihm ihre Dienste anboten, trotzig zurück. Als dann aber die guten Leute sich kopfschüttelnd zu entfernen begannen, wurde ihm auf einmal wunderbar angst. »Laßt mich doch um Gottes willen nicht allein wie ein Tier!« flehte er. »Ihr seht ja, daß ich einen Fuß gebrochen hab' und auch nicht einen Tritt mehr zu gehen imstande bin.«

Diese Worte wirkten wie ein gewaltiger Schlag. Alle standen einen Augenblick, als ob ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten, und eilten dann wieder zu dem Unglücklichen, um den sich bald noch ein dichterer Kreis gebildet hatte als vorher. Und nun regte sich in dem Unglücklichen wieder der frühere Trotz, der für das bestgemeinte Wort im besten Falle nur ein bitteres Lächeln zur Antwort hatte. Das wurde nicht anders, bis Jos die Stimme Dorotheens hörte, welche sich mit Gewalt durch die müßigen Zuschauer zu ihm hinarbeitete. »Wie ist's doch gegangen? Was fehlt ihm? Kann er wirklich gar nicht mehr gehen? Ist denn um Gottes willen noch kein[146] Doktor da?« So fragte das Mädchen so schnell nacheinander, daß kein Mensch zum Antworten kommen konnte.

Jos strengte noch einmal alle seine Kräfte zum Aufstehen an. Es war vergebens; er mußte sich ins Unabänderliche fügen, mußte leiden, wie er noch niemals litt, an Leib und Seele zugleich. Nichts ist so herb, nichts so beinahe unerträglich, als wenn man auf einmal seine liebsten Pläne und Hoffnungen als tote Last auf dem Gewissen fühlt, wenn man sich sagen muß, daß man sich selbst aus seinem Glückshimmel stürzte. Jos schien ein ganz anderer geworden, seit er Dorotheens auch in der Aufregung noch so leicht erkennbare Stimme hörte. Bisher hatte jede leise Bewegung nur die in seinem Innern kochende Wut verraten, so daß den Umstehenden immer doppelt weh und bange war; jetzt aber begann sein ganzer Körper zu beben, wie vom Frost des Fiebers geschüttelt, und die zitternden Hände suchten umsonst die aus den halbgeschlossenen Augen hervorquellenden Tränen zu verbergen. Dorotheens fortgesetzte Fragen, noch viel dringlicher als die früher von den anderen an ihn gerichteten, die er nur trotzig zurückwies, machten ihn ganz weich, und nur vor Weinen war er nicht imstande, sie so schnell zu beantworten, als sie an ihn gerichtet wurden. Jetzt erst dachte er auch an seine gute Mutter. Sie hatte doch wahrlich nicht verdient, auch das noch an ihm zu erleben. Ach, die lieben Bilder aus vergangenen Tagen, das schöne Leben neben Dorotheen auf dem Stighof, es war nicht etwa nur einfach dahin, verschwunden und verloren, sondern war ihm zur drückenden Last, und alle Rosen, die ihm auf seinem Lebenswege jemals blühten, hatten sich in schmerzlich stechende Dornen verwandelt. Er hatte geglaubt, Dorotheen verachten, hassen zu können als die Gefühllose, die berechnende Geliebte des reichen Bauern, nun aber lag er wehrlos und unfähig zu Spott und Trotz. Nur noch weinen konnte er, und weinen mußte er, wenn ihm auch mit verhaltenen Augen die Anwesenheit der vielen Neugierigen schmerzlich gegenwärtig blieb.[147]

Dorotheens Erscheinen und ihre Fragen brachten etwas Leben in die Menge, die vorher wie erstarrt um den Leidenden herumstand. Vielleicht mochten die von der Magd gestellten Fragen an manches Versäumnis erinnern, und dazu kam noch, daß die Veränderung im Wesen des Unglücklichen keinem einzigen ganz entging und alle etwas weicher stimmte. Jedermann wollte nun gleich etwas für ihn tun. Während viele, ohne noch Regenschirme mitzunehmen, forteilten, um den Doktor zugleich daheim und in allen Wirtshäusern zu suchen, brachten die Zurückgebliebenen Salben und Wein, Binden und Tücher aus dem Hause oder trugen aus der Nachbarschaft herbei, was in Hausarzneibüchern belesene Mütterchen nur immer wünschen und empfehlen mochten.

Als Dorotheens weiche, jetzt leise zitternde Hand das Haupt des Verwundeten berührte – sie tat das so leise, daß man glauben mußte, er werde es gar nicht merken –, da öffnete er die Augen wieder und schaute zu ihr empor, so freudig stolz und doch auch wieder so demütig bittend, daß das Mädchen erbebte vor dem Blicke, in welchem des guten Burschen ganze Seele lag. Ja, sie, die bisher sich so tapfer gehalten, wurde jetzt schwach und vergaß in der Verwirrung die Umstehenden und was sie eigentlich wollte. Zitternd stand sie da und wurde bald blaß, bald rot, bis ihr endlich die Wirtin ungeduldig das Wasserglas abnahm und den Kopf des Jos zu waschen begann.

Erst als der Unglückliche auf die in der Eile zusammengeflickte Tragbahre gelegt und heimgebracht werden sollte, kam Dorothee wieder vollkommen zu sich selbst, und während sie sich umsah, ob nicht auch etwa einem anderen Mädchen beim Anblicke des Blutenden beinahe übel geworden sei – wie ihr –, befahl sie den Trägern die größte Sorgfalt, damit nicht am Ende das Unglück durch ihre Schuld noch größer werde. Während sie nun mit der kleinen, stillen Gesellschaft das Haus verließ, wurde droben getanzt und gejubelt, daß die Fluh drüben über der Ach die frohen Töne auch da noch wiedergab, als sie schon zu weit ins Argenauer Dörflein[148] hineingekommen waren, um aus dem Wirtshause selbst noch etwas hören zu können. Dorotheen kam das jetzt ganz verrückt, ja unmenschlich herzlos und grausam vor, so daß in ihr der Vorsatz erwachte, ihr Lebtag keine Tanzmusik mehr zu besuchen. »Kann man«, mußte sie sich fragen, »so fröhlich sein, nachdem man so kalt und lieblos war? Sieht niemand die Lücke, die das Unglück in dem frohen Kreise riß?« Allerdings lärmte die Fluh herüber, daß man das könne, und von dem, der sich da seufzend zum armen Mütterlein tragen lassen mußte, sagte sie nichts. Aber war's denn am Ende nicht mit jedem Vergnügen so, wenn auch der Leidende nicht so hart daneben und für sie so hörbar ächzte? Was mochte nicht schon vielleicht beim nächsten Nachbar alles vorgefallen sein, während ihr die Stunde in der besten Unterhaltung unerwünscht rasch verging!

Es hatte aufgehört zu regnen, aber noch war der Himmel benebelt, und auf die Tannen herab hingen gewaltige Wolken, von denen der Kalendermacher, nach der für heute angegebenen Tageslänge zu urteilen, durchaus keine Ahnung gehabt haben mußte. Schon lange vor sieben Uhr war es fast plötzlich Nacht und so dunkel, daß die Freunde des unglücklichen Jos, sich mehr auf das Gehör als das Gesicht verlassend, den Weg zwischen den rechts und links noch niederplätschernden Dachtraufen suchen mußten. Es war Dorotheen immer noch gewesen, als ob sie in recht kurzweilige Gesellschaft komme, wenn sie zwischen den ihr so wohlbekannten Häusern dahinschritt. Heute aber konnte sie sich keinen frohen, glücklichen Kreis um die wenigen Lichter herum denken, die sie auf ihrer Wanderung erblickte. Da saß wohl das arme Mütterlein mit dem Rosenkranz in der Hand auf der breiten Ofenbank und erwartete, von Zeit zu Zeit nach dem schwarzen Zifferblatte der alten Schwarzwälderuhr blickend, ungeduldig den einzigen Sohn, der noch im Wirtshaus saß und wohl den halben Sommerlohn verjubelte. Dort am Fenster lehnte die arme Therese, die heute hart neben der Zusel auf dem Brückeneingang den Geliebten erwartete, bis[149] dieser mit einer Angeseheneren, Reicheren, ohne sie noch zu beachten, an ihr vorüberschritt. Hier saßen hungrige Kinder mit der traurigen Mutter bei den ersten Erdäpfeln dieses Jahrganges, die gestern so fröhlich heimgebracht wurden. Man dachte, sie gemeinsam zu essen am Kirchweih tag und Gott dafür zu danken. Nun aber fehlte der Vater, und trotz des Hungers wollte es niemand recht schmecken. Dort polterte der biedere Vater und weinte die Mutter über die ungeratene Tochter, welche, wie man von Freunden, Feinden und Nachbarn hören mußte, ein bemittelter Taugenichts den ganzen Abend auf dem Tanzplatze festhielt. Auch Angelika hatte ein mattes Licht im Zimmer. Ihr Kind half ihr auf den Vater, den Andreas, warten, welcher schon früh etwas angetrunken war und mit einer Kellnerin tanzte. Und immer noch tönte es von der Fluh herüber, die Hörner brüllten, die Burschen lärmten immer wilder, und sicher hätte Dorothee sich beinahe zu fürchten angefangen, wenn sie jetzt mit ihren Gedanken allein gewesen wäre. Vor ihr her trug man den Liebling, den einzigen Sohn der armen Stickerin, die wohl jetzt noch ganz arglos daheim saß, ihre Wochenrechnung machte und nebenbei dem lieben Herrgott dankte, daß ihr Jos einen so guten Platz bekam und denselben auch zu behaupten imstande war. Ganz laut, gerade als ob sie das widerliche Echo von der Fluh sich aus dem Gehör bringen wolle, rief sie schmerzlich aus: »O du Welt, du böse, kalte, herzlose, selbstsüchtige Welt! Du bist ein Wehhaus und ein Tränental, wie es im Kirchengebete heißt.«

Wie der vom Sturme vertragene Funken oft in viertelstundenweiter Entfernung als mächtiges, weithin leuchtendes Feuer aufflammt, so spinnt sich dem Aufgeregten, besonders im Dunkel der Nacht, wo Aug' und Ohr so bald an die wenigen äußeren Eindrücke gewöhnt sind, ein einziger Gedanke auf seinem Wege bis zum anscheinend entferntesten wunderbar und beinahe unbemerkt fort. Mit dem einzigen Worte aus einem wohlbekannten Kirchengebete, dem Salve Regina, kam sie vom Lärm des heutigen Tages hinweg in die Kirche,[150] wo sie schon als frommes Kind dem lieben Gotte und der heiligen Mutter so manches Leiden klagte. Auch jetzt wieder versuchte sie zu beten. Aber es ging ihr wie immer – sie konnte viel besser danken als bitten. Wenn sie recht glücklich war, dann fühlte sie sich dem Allvater am nächsten und wurde demütig; hatte sie aber Klagen über die Welt, dann fehlte es ihr nicht an Worten, aber die rechte Andacht wollte nicht kommen, und es war, als ob sie sich schäme, mit so etwas vor den lieben Gott zu treten. Auch heute ging es ihr so, und immer wieder fühlte sie sich in ihrer Andacht gestört, obwohl die Vorangehenden noch kaum ein Wort gewechselt hatten. Sie waren alle noch zu erschrocken, als daß ihnen selbst Dorotheens lauter Ausruf über die böse Welt besonders hätte auffallen können. Während Jos dem Heuer und den anderen gegenüberstand, waren sie alle auf dem Tanzsaal gewesen. Erst der auch dorthin dringende Bericht von dem Unglück ihres ehemaligen lustigen Gefährten hatte sie an seine Seite gerufen, und sie gingen um so lieber mit ihm heim, da nun doch die Lust zum Tanzen ihnen allen gänzlich vergangen war.

»Weiß die Mutter schon von der traurigen Geschichte?« fragte einer der Burschen, das bange Schweigen endlich unterbrechend.

Diese Frage gab Dorotheen wieder Leben. Sie dachte an den Schrecken der armen Stickerin, wenn nun Jos auf einmal so in ihre Stube gebracht würde. Nein, das durfte nicht geschehen! Vorher sollte das arme Weib so gut als möglich darauf vorbereitet werden. Dorothee eilte voran und sann, wie sie es nun anzugehen habe. Es waren peinliche Gedanken, mit denen sie sich jetzt beschäftigte, und doch war ihr wohler, als da sie noch müßig klagte und betete und einen Wink des Himmels erwarten zu wollen schien. Ja, seit es wieder etwas zu tun gab, fühlte das Mädchen sich mutig, wie es noch selten nach einem Gebete war, welches nur einem Notschrei glich. Vor dem Häuschen der Schnepfauerin aber wurde ihr wieder himmelangst. Zitternd trat sie in die dürftig[151] erleuchtete Stube, wo die Schnepfauerin fast zu Tode erschrak, als sie den späten Besuch endlich denn doch trotz seiner ungewöhnlichen Blässe erkannte. Dorothee begann, sich wunderbar beherrschend, mit einer Abhandlung über den Willen Gottes, ohne den kein Haar von unserem Haupte fallen könnte. Die Schnepfauerin schnitt diese Einleitung kurz und gewaltsam ab. »Du kämst heut' nicht zu mir, wenn du nicht etwas Wichtiges und etwas Schlimmes sagen müßtest. Nun, ich leide schon unter diesem Gedanken so viel, daß es nicht zu sagen ist. Drum schone mich nicht mehr und sage mir offen, warum du da bist.«

»Es ist wohl nicht so arg, als du denkst«, antwortete Dorothee langsam. »Der Jos ist nur für einige Wochen arbeitsunfähig geworden bei einem gefährlichen Sprung. Ich möchte der Stigerin nicht gern gleich von der Sache erzählen, du aber wirst schon so gut sein und ihn einige Tage pflegen und warten. Ich stehe dafür, daß dir – von Hansen oder sonst – jedenfalls alles reichlich ersetzt wird, was du tust und anwendest.«

»Ist gar nicht nötig«, sagte die Mutter, die viel Schlimmeres erwartet zu haben schien, beinahe fröhlich. »Wer sollte so Zeit und Lust haben, für den armen Jos zu sorgen, wie ich?« Und noch bevor sie fragte, was denn ihrem Sohne begegnet sei, trug sie einen Laubsack auf die breiteste Bank, stellte einige Lehnstühle davor und machte in der Eile ein Bett, so gut es ihr nur möglich war. Als man aber die Tritte der Nachkommenden hörte, ließ die arme Mutter alles liegen, wie es eben lag, erfaßte krampfhaft das auf dem Tische stehende Licht und wankte zur Türe hinaus. Die langsam nachfolgende Dorothee sah, wie die Mutter beim Anblick ihres Sohnes beinahe ohnmächtig auf den Tritt vor der Haustür niedersank und ihr leichenblasses Gesicht in den zitternden Händen verbarg. Dann raffte sie sich mit einer furchtbaren Kraftanstrengung wieder auf und sagte tonlos und hart: »Er soll gewiß auch noch halb erfrieren hier in der kalten[152] Nacht? Seid ihr alle denn von Holz, daß ihr so gar nicht mit leidenden Menschen umzugehen wißt?«

Der Armen fiel es nicht ein, daß die Träger nur auf sie warteten. Die guten Burschen verziehen ihr aber gern diese Ungerechtigkeit. Schweigend folgten sie ihr ins kleine Häuschen, als sie das Licht wieder ergriff und rief: »Stoßt doch um Gottes willen nirgends an – oder«, fügte sie in ganz anderem Tone bei, »macht, so gut ihr könnt. Ihr meint's ja redlich und habt ihn bis vors Haus gebracht. Ach, es ist so traurig, aber ich hab' auch schon etwas für fröhlich gehalten, und dann ist's nur zum Unglück gewesen.«

Auf die Freunde des Jos würde die wohlgesetzteste Rede nicht einen halb so tiefen Eindruck gemacht haben wie diese wenigen scheinbar gar nicht zusammenhängenden Worte der armen Mutter. Feuchten Auges trugen sie ihren Freund in die Stube und sahen mit Freuden die Mutter wieder etwas gehobener und fester, als sie noch an manches erinnerte, was notwendig sogleich getan und hergerichtet werden mußte. Dann aber wollte sie auch wissen, was denn eigentlich dem armen Jos begegnet sei.

Jos, der noch kein Wort gesprochen hatte und auch keines zu sprechen imstande war, zog die Bettdecke übers Gesicht, um unbemerkt weinen zu können. Dorothee begann so schonend als möglich zu erzählen, bis sie durch das Kommen des Arztes unterbrochen wurde. Dieser fand den Beinbruch sehr bedenklich. Aber obwohl er sogar vom Abnehmen des Fußes einige Worte fallen ließ, schien doch der Mutter noch immer das traurigste, daß das alles nur die Folge eines Wirtshausstreites war. Sie machte dem Hitzkopf, den sie doch schon so oft und oft warnte, die bittersten Vorwürfe. Als aber der Schmerzgequälte laut aufseufzte, da eilte sie ans Bett, zog die Decke herunter, daß sie sein Gesicht sehen konnte, und kam dann nicht mehr dazu, ihre Strafpredigt wieder aufzunehmen. Dafür gedachte sie nun der traurigen Zukunft. Die anderen suchten sie zu beruhigen, aber ihre Trostworte weckten nur Widerspruch. Man erinnerte sie daran, daß sie[153] mit solchen Klagen dem Kranken weh tue, und das half. In der Sorge um den Liebling fand sie Kraft und Selbstbeherrschung, ja nach wenigen Stunden sogar eine gewisse Heiterkeit der Seele wieder, so daß Dorothee und die anderen sie und den Kranken selbst viel beruhigter verließen. Jos litt nicht nur an seinen Verletzungen. Zu den quälendsten Vorwürfen wegen seiner Übereilung kam bald auch noch die Sorge für seine und der Mutter Zukunft. Die Mutter fand immer noch eine Art Trost und Aufrichtung in der sorglichsten Pflege des kranken Lieblings; diesem aber war wie ein schmerzlich bitterer Vorwurf, was ihn sonst als sprechender Beweis der Mutterliebe auch unter schlimmen Umständen überglücklich gemacht hätte. Wie aufs tiefste beschämt, wie vernichtet lag er da, sein verwünschter Trotz war gebrochen; nicht niedergeschlagen von den Gegnern, die er im Traume sich wieder und wieder gegenüberstehen sah, sondern mehr geschmolzen von der Wärme der Mutterliebe, die ihn umgab und ganz neue, früher nie gekannte Gefühle in ihm keimen und wachsen ließ. Eine wunderbare Weichheit bemächtigte sich seines ganzen Wesens, so daß er ruhig zuhörte, als später seine Freunde ihm erzählten, wie spottschlecht schließlich auch sein Gegner, der Heuer, noch weggekommen sei.

So arg als einen hatte Jos mit seinem trotzigen Benehmen Stighans erzürnt. Eine Demütigung gönnte ihm dieser recht wohl und wäre bereit gewesen, auch das Seine dazu beizutragen. Als er dann aber hörte, wie schlecht dem Jos sein kühner Sprung geraten, da war ihm nicht mehr recht wohl, wenn er sich davon auch nichts anmerken ließ. Er hätte eine schöne Kuh drum gegeben, wenn er damit alles ungeschehen zu machen imstande gewesen wäre. Trotzdem brachten Dorotheens Vorwürfe ihn nicht von seinem Platze, ja diese zwangen ihn, innerlich sich zu seiner Selbstverteidigung immer wieder an das lästige Benehmen seines Knechtes zu erinnern. Er wollte kein wetterwendisches Weib sein wie Dorothee, welche – das hatte er genugsam bemerkt – sich noch vor wenigen Minuten selbst recht von Herzen über den Jos geärgert[154] hatte. So blieb er denn sitzen und sendete Dorotheen einen zornigen Blick nach, als diese zu dem Unglücklichen eilte.

Der Heuer hatte sich mit der Miene eines Mannes, welcher sich für den Helden des Tages hält, neben die seit Dorotheens Entfernung ausgelassen lustige Zusel gesetzt und begann nun, Hansen als Kirchweihwitwer auf die derbste Weise zu necken. Die Lacher natürlich hatte er bald auf seiner Seite, obwohl seine Witze zuweilen so ungehobelt waren, daß Zusel sich seiner zu schämen begann. Endlich war Hansens Geduld zu Ende, der Faden riß. Auf sprang er, schlug die Faust hart neben der Stumpfnase des Heuers auf den Tisch, daß die Gläser klirrten, und donnerte das geputzte Bürschchen an: »Derlei Brocken wirst du noch bekommen, wenn du nicht schon genug hast. Willst du aber nichts mitnehmen, so mach' dich nur im Fluge fort und laß dich nicht mehr sehen, du Händelstifter, solang' du dein gestriegeltes Spitzköpflein und den breiten Hemdkragen in Ordnung erhalten willst.«

»Ich soll sterben –«, stammelte der Heuer und sah sich ängstlich suchend im Zimmer um.

Aber die Zusel, welche nun durchaus nicht mehr länger neben ihm gesehen sein wollte und bereits mit der guten Gelegenheit zu rechnen begann, warf ihm einen Blick zu, der ihn nicht mehr ausreden ließ. Jetzt war sie entschieden für den Frieden. Der Heuer sah sich allein und nur kalte, höhnende Blicke auf sich gerichtet. So kam er denn bald zu der schmerzlichen Überzeugung, daß Gehen das klügste sei, und langsam, so leise und unmerklich, als es in der Eile nur immer geschehen konnte, rückte er seinen Stuhl so weit vom Tisch aus der Reihe der übrigen Stühle weg, daß er Platz genug zum raschen Aufspringen gewann. Er hätte aber gewiß nicht so aus dem Zimmer rennen, nicht auf jeden Tritt drei Stufen der Stiege unter die Füße nehmen müssen, denn sicher dachte kein Mensch daran, ihm etwas in den Weg zu legen oder ihn gar zu verfolgen.[155]

Er eilte ins Haus des Krämers, packte seine Sachen zusammen und hinterließ bei der Magd den Auftrag, ihm nach Abzug seiner Zeche den Heuerlohn so schnell als möglich nachzusenden.

Im Wirtshaus »Zum Rößle« ging es nun wieder so lustig zu, als ob gar nichts vorgefallen wäre. Man gedachte auch des Geschehenen fast nur dadurch, daß man sich erfreut aussprach, nun doch der lästigen Händelstifter glücklich losgeworden zu sein.

Stighans hatte sich unter allgemeinem Beifall auf des Heuers Stuhl gesetzt, hart neben Zusel, die ihm des Knechtes wegen keine Vorwürfe mehr machte. Der Krämer war überglücklich. Aber wie wohl ihm bei den jungen Leuten auch war, so schickte er doch den Hans mit seiner Zusel großmütig von sich weg auf den Tanzsaal, den diese erst spät in der Nacht verließen.

Hans begleitete die Zusel heim, trank noch den in der Eile gemachten Kaffee und eilte dann – dem Morgen noch zu entrinnen – auf den stillen Stighof, wo die schon wieder tätige Dorothee ihm einen guten Tag wünschte.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 144-156.
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