Sechzehntes Kapitel
Das Echo der Predigt auf dem Stighof

[221] Wie es Büchlein gibt, über die wieder viele und großmächtige Bände geschrieben werden, so gibt es im Bregenzerwalde Predigten, über die und denen nach gleich wieder in allen Ecken gepredigt wird, wenn sie auch nicht halb so lang und »kräftig« sind wie die, welche der Kaplan diesmal gehalten hatte. Wie eine Lawine fuhr sie durchs Dorf. Einige meinten, man hätte auch von dem und diesem reden können, und fingen dann andere durchzuhecheln an. Eins war man nur noch darüber, daß es mit Dorotheen ein wahres Elend sein[221] müsse. Auf den Stighof brachte der Kanzelvortrag kaum größere Aufregung als in andere Häuser, wo Eltern ihren Kindern zusprachen, sich das zum Spiegel zu nehmen. Aber zwei oder beinahe drei kleine Predigten wurden aus der großen doch auch gemacht. Eine war für Hansen ganz allein, und es wurde daher von der Stigerin, bevor sie begann, die Stubentüre sorgfältig verriegelt. »Heut unter dem Gottesdienst«, sagte sie, jedes Wort scharf betonend, »ist's mir geworden, als ob nun Sterben für mich das nächste und wohl auch bei weitem das allerbeste sei.«

»Ich hab's ja gesagt, du solltest lieber in Gottes Namen daheim bleiben und eine gute Meinung machen«, sagte Hans und fuhr dann, als die Mutter den Kopf schüttelte, wehmütig fort: »Du bist nun einmal nicht mehr für die grelle Herbstluft genatürt und solltest dich um Gottes willen mehr schonen.«

»Schonen!« wiederholte die Stigerin bitter. »Schone nur du mich, wenn ich wieder eine frohe Stund' haben soll. Aber ja, du hast mich schonen wollen! Ich sollte nicht merken, was schon die ganze Gemeinde gemerkt hat, und das macht mir so Kummer und liegt wie ein Berg auf dem Herzen. Wenn ich einmal auf Dorotheen zu reden kam und auf das, was mir schon seit einigen Wochen fast jedes Lüftlein zuwehte, ja, da tatest du, ob du nicht fünfe zählen könntest. Ich hab' dich zu dumm gehalten zur Verstellung und zu gut und blieb ruhig, bis ich mich nun von jeder Obst- und Besenhändlerin für die Überlistete, die blinde Affenmutter ansehen lassen muß.«

»Und warum denn das?« fragte Hans, der noch immer nicht recht wußte, wovon denn eigentlich die Rede sei.

»Wegen der Dorothee, Mathisles Dorothee, unserer Magd, wenn du sie kennst.«

Hans erschrak, aber nicht weil er nun an die zum größten Teil verschlafene Predigt dachte, sondern weil er glaubte, daß es sich um das Verhältnis des Knechtes mit der Magd handeln werde. Die Mutter war ein wenig stolz und hielt viel auf die Ehre ihrer Verwandtschaft, besonders aber ihres[222] Hauses. Es konnte ihr wohl nicht gleichgültig sein, wenn das Mädchen offenbar dem Knechte vor ihm den Vorzug gab.

Die Stigerin hatte natürlich für seine Verlegenheit eine andere Auslegung, und unwillig fuhr sie ihn an: »Jetzt stehst du da wie das Schaf am Hag, und alle Verstellung ist aus. Ach Gott, wie einfältig und dabei doch so schlecht!«

»Mit wem bist du heut aus der Kirche?«

»Geht dich nichts an; was ich weiß, hätt' ich von jedem hören können.«

Hans wußte nicht, was er denken sollte von »jedem« und vom Kopfschmerz, über den die Mutter in den letzten Tagen immer geklagt hatte. »Wir wollen lieber von anderem reden«, sagte er. »Derlei Geschwätz macht mir und dir wohl mehr Kopfweh, als es eigentlich wert ist. Ich hab' selbst genug zu verwinden, wenn man mir auch nicht noch schwer macht, und ich glaube, daß das ganz nur meine Sache, daher auch nur meine Sorge sei.«

»Das glaub' ich aber nicht!« erwiderte die Mutter heftig. »Wie hab' ich mir es doch sauer gemacht alle Tage, hab' sogar die größten Löcher in meine Nächte hineingebrannt, um nur den Hof und das Anwesen gehörig im Stande zu erhalten, bis du gewachsen sein würdest. Und nun steht der Lümmel lang und breit da wie ein Klosterkoch, und sogar sein Schweigen bestätigt, was ich Närrin sonst nie habe glauben wollen, nämlich den Spruch: Kleine Kinder kleines Kreuz, große Kinder großes Kreuz. Hätte ich gewußt, wie es gehen werde, dann wäre es gewiß nie so gegangen. Aber wem wär's eingefallen, daß Dorothee auf die Art uns danken werde.«

Durch diese Worte glaubte Hans seine Vermutung nur zu sehr bestätigt zu hören. Undank aber durfte er denn doch dem Mädchen nicht vorwerfen lassen. »Mutter«, begann er etwas schüchtern, »wenn's auch für uns nicht ehrenhaft ist und besonders mir weh tut, daß sie mich nicht will, so –«

»Eben will sie dich fangen, du Tropf. Wenn sie sich gar noch ziert, so wird sie dich halt schon am Faden haben, aber noch[223] fester machen wollen. Du steckst schon drin, daß du mich von Herzen gern ein wenig zu dir sehen lassen solltest; aber statt dem will man mich gar nicht einmal mehr in die Kirche lassen, seit auf allen Gassen von dem sauberen Pärlein geredet wird.«

»Von welchem Pärlein?«

»Jetzt steht er wieder da wie der Gottverlaßmichnicht. Von wem denn als dir und der Magd? Hat es je so einen Tropfen gegeben, wie du einer bist, seit man warm kocht und doch wenigstens mit dreißig Jahren ein bißchen etwas in den Verstandskasten bekommt? Ich aber soll meine Gesundheit schonen, mich in acht nehmen vor der Herbstluft, um doch noch jahrelang die Herrlichkeit mitansehen zu können neben dem alten Mathisle. Tat mir auch not! Schon lang hätt' ich sterben sollen, schon da, wo ich Dorotheen, die Hexe, in –«

»Jetzt das ist denn aber doch zu arg!« konnte Hans endlich einfallen, als die Stigerin, noch nach mehr ähnlichen Ausdrücken suchend, einen Augenblick innehielt. »Mir tät es Freud' machen, wenn sie mich so gern hätt', als man sagt.«

»Dein Geld nur hätt' sie gern, dich, wie du bist, tät keine gern haben.«

»Dann will ich mich vor den Reichen in acht nehmen, die brauchen mein Geld nicht, geradeso wenig als ich das ihre. Überhaupt heiratet jeder für sich, drum soll man es ihm überlassen. Mir kommt es ungemein groß und wichtig vor, sich auf sein Lebtag an ein Weibsbild zu binden. Ich mein', das muß so aus einem herauswachsen; aber wenn man den gesäten Erdäpfeln oder Rüben jeden Tag nachgräbt, wächst gar nichts. Das war grad' auch so ein Gezisch und Getue bei verschlossenen Türen, bis man die gute Angelika dem Andreas verkuppelt hatte, und nun –?«

»Die geht mich nichts an, und ich weiß nicht, warum du noch mit der alten Geschichte kommst.«

»Wer daran keine Schuld hat, kann um so leichter und ohne Gewissensplag' eine gute Lehre daraus nehmen. Es wär' für beide Teile besser gewesen, sie hätten sich gar nie gesehen.[224] Er mag nun einmal nicht mit ihr gehen, drum kommt er gerade dann am meisten auf den Abweg, wenn sie auf dem rechten ist. Warum bin nicht ich an sie verkuppelt worden? Dann hätt' ich jetzt den Batzen schon gegolten. Zusel hat auch keinen besseren Vater als sie, denn der Krämer ist seitdem noch kein Heiliger worden.«

»Und sonst natürlich ist nur noch die Magd für dich im Dorf und auf der Welt.«

»Man redet also von uns beiden?« fragte Hans lächelnd.

»Eben.«

»Und tadelt uns?«

»Wenigstens dich. Daß sie dich gern hätt', ist etwas, das man sich einbilden kann. Sie ist ja nicht einmal hübsch mit dem blassen Gesicht, den großen Betschwesteraugen und dem fuchsigen Haar.«

»Hübscher freilich wär' Angelika gewesen.«

»Und Zusel gleicht ihr, ohne das Alter, wie ein Ei dem anderen.«

»Auch sie ist hübsch. Wenn ihr Blick eins trifft, wenn sie einem zulächelt und dann den Mund wieder so stolz und trotzig spitzt und das Näschen aufwirft, meint man schon –«

»Was meint man?«

»Man müsse rasend werden, daß so ein – ja noch ein herrlicheres und vor allem besseres Wesen so elend verschachert werden konnte. Ja, Mutter, damals war ich ein Tropf, sonst wär's anders gegangen.«

»Lassen wir das Alte, solang wir am Jetzigen so genug haben. Die Magd soll noch heut' aus dem Haus, denn nach dieser Predigt will ich euch nicht mehr unter einem Dache wissen, solang ihr beide ledig seid.«

»Dann«, sagte Hans entschlossen, »dann muß ich gleich fragen, ob sie mich nicht heiraten möchte.«

»Möchte!« schrie die Stigerin, mit dem Fuße stampfend, »möchtest du sie?«

»Sobald sie sonst nicht mehr bei uns und alles im alten bleiben kann.«[225]

»Das geht nicht mehr, denn sie ist mit dir nun und du bist wegen ihr in ein greuliches Geschrei gekommen. Ich glaub' selbst nicht alles, nicht das Halbe – aber ...«

»Und ich geb' jetzt schon gar nicht mehr nach. Nachgeben hieße alles bestätigen und alles auf sie werfen. Mutter, was würde dein Herrgott sagen? Er nimmt es sonst in Kleinigkeiten so genau, daß man glauben sollte, du dürftest ihm gar nicht mit so etwas kommen, denn das ist grundschlecht und schändlich. Da kommt das Mädchen in unser Haus als kleines Kind, noch unverderbt, ein Engel, wenn es gestorben wär'. Von dir nur ist es erzogen worden, denn das Mathisle hast du nicht bei ihr und sie kaum einmal bei ihm gelitten. Dorotheen haben wir auf dem Gewissen und alle bösen Reden und alles, was sie jetzt aus unserem Hause mitnehmen müßte. Wär' sie schlecht, so hätten wir die Schuld und dürften sie nicht fortschicken; wir müßten nicht verschlimmern, sondern gutmachen auf jede Art und um jeden Preis. Das darf ein hilfloses Mädchen erwarten, wenn einmal die vom Stighof sich seiner angenommen haben. Wer A sagt, muß auch B sagen.« Hätte sich Hans eine Woche lang auf diese Rede vorbereitet, es wäre nicht besser, ja weniger gut gegangen, als da er ganz nur dem Herzen folgte. Daß er das tat, bewiesen die großen Tropfen, die er sich dabei verstohlen aus den Augen wischte. Er hätte sich nicht schämen müssen, und vor der Mutter schon gar nicht, denn diese war selbst gerührt und sagte mit kaum noch erzwungener Strenge: »Wie man sich jetzt regen kann, und sonst tut man wie gefroren. Wer soviel weiß, der sollte über so was gar nicht reden mögen. Geh nur und mach' einstweilen, wie du willst, es wär' da doch alles Widersprechen umsonst.«

»Ich will lieber eigenköpfig heißen, als wenn ich selber mich für schlecht halten müßte«, brummte Hans, während er die von der Mutter geschlossene Stubentür öffnete und ging.

Jetzt war die Stigerin mit sich selber weit weniger zufrieden als mit ihrem Sohne, der seine Sache nun einmal gar nicht schlecht gemacht hatte. Ganz uneben war nicht, was er sagte,[226] doch ein Ausweg durfte gesucht und womöglich benützt werden. Wenn auch Jos das Mädchen gern hätte? Und fast war es gewesen, ob Hans das selber fürchte. Da wär' etwas zu erforschen gewesen, wenn sie sich nicht so leicht gefangen gegeben hätte. Daß doch einem so viel zu spät einfällt, wo es nur noch quält, statt zu nützen!

Sie kannte Hansen, sie wußte, wie er sich für etwas warm machen konnte, während er der Überredungskunst beinahe unzugänglich war. Wenn er jetzt einen halben Tag ohne Beschäftigung mit sich allein blieb, dann war ihm das Mädchen gewiß schon zu einer halben Heiligen und schöner als selbst Angelika geworden. Jetzt noch wollte er Dorotheen nur glücklich wissen, und das wollte sie auch. Glaubte er an eine Neigung des Mädchens zum Knechte, so war jetzt vielleicht noch etwas zu machen, ehe das arme Kind wußte, daß ein Hans und ein Stighof zu bekommen war. Aber gleich mußte man dran. Dorothee sollte – damit beruhigte sie ihr Gewissen – durch ein schönes Heiratsgut entschädigt werden. Sie ging hinaus, um den Sohn noch einmal zu sich zu rufen, und erschrak fast zu Tode, als sie den Hansjörg die Stiege herauf kommen sah. Es war ihr, ob sie von ihm hören müsse und schon höre, zuerst hab' man die schönsten Jahre seines Lebens verhandelt und nun sollte noch die Schwester verschachert werden.

»Was willst du?« fragte sie ängstlich, als er hart vor ihr stehen blieb.

»Wo ist Hans?«

»Er wird sich ankleiden zum Nachmittagsgottesdienst, und ich muß auch machen, daß ich beim Zusammenläuten in der Kirche bin.«

»Aber den Kirchweg wirst du doch nicht mitnehmen, wenn du gehst?«

»Dumme Frage!«

»Nun, dann geh meinetwegen. Ich und Dorothee können auch später nachkommen.«[227]

Die Stigerin hatte keine Lust mehr, mit Hansen zu reden. Sie schickte den Burschen zu Dorotheen in ihr Stübchen und war froh, gleich wieder aus seiner Nähe zu kommen.

Bald rief die große Glocke die Besitzer des Stighofs zur Andacht. Jedes hatte dem lieben Gott viel und jedes anderes vorzutragen. Hansjörg und Dorothee saßen beisammen in der Wohnstube.

»Was hättest du eigentlich wollen?« fragte das Mädchen, nachdem es die Vorhänge ausgezogen hatte, um sich den Vorübergehenden zu verbergen.

»Wenn ich dir das alles sagen sollte, so würdest du mehr vom Gottesdienst versäumen müssen, als dir lieb zu sein scheint. Laß dir daher lieber in aller Kürze sagen, was ich nicht will.«

»Und was denn?«

»Nicht hier Knecht werden.«

»Nicht?« fragte die Schwester erschrocken.

»Nein.«

Eine Weile saßen beide schweigend nebeneinander, dann stellte Hansjörg sich kerzengerade vor der Schwester auf und sagte: »Ich gleiche doch keinem Knechte.«

»Das ist nur Soldatenstolz.«

»Oder Demut«, erwiderte Hansjörg. »Ein rechter Bauer tat mit mir nicht lang zufrieden sein, dann hätt' ich nur die Schand' und du den Ärger. Ich bin empfindlich, eigensinnig, hochmütig und nur das nicht, was man sein muß, wenn man mit Schaufel und Gabel exerzieren will.«

»Sag' du nur lieber gleich, du mögest das liederliche Schwärzerleben nicht lassen.«

»Nun, wenn's besser klingt, kann ich das sagen.«

»Und ich hab' mich schon so gefreut, daß du nun doch noch zum Rechten kommen werdest«, klagte das Mädchen.

»Ich will eben weiter.«

»Ja, in den Turm, wo man die Spitzbuben einsperrt und alle, die die Gesetze trotzig übertreten.«

»Noch bin ich auf guten Füßen, und man wird mich auch nicht so leicht fangen. Man hat in der Regel die Kraft schon vor[228] einem Wagnis, die man dabei braucht, sonst ist man nur ein halber Kerl.«

»Aber um so jämmerlichen Gewinn, Bruder!«

»Du begreifst das Lustigste bei der Sache gar nicht. Das ist eben, sich täglich durchzuschlagen und nach dem Entrinnen aufatmend schon wieder einen neuen Plan zu machen. Sie haben mich zum Krieger gemacht. Auch du hast es geschehen lassen – mit Lächeln –, und es ist recht; aber nun hab' ich halt an Feldzügen und Eroberungen mehr Freude, als wenn wieder ein Rock gemacht oder ein Heufuder geladen ist. Geschafft wird ohnehin schon überall so viel, daß man kaum noch Arbeit findet und nur anderen damit im Weg ist; wer aber wohlfeile Ware schafft in unser abgeschlossenes Tal, daß nicht mehr einer ganze Gemeinden allein aussaugen kann, der nützt mehr. Und er soll nur nicht glauben, daß ich nur ganz ihm gehöre. Doch das gehörte zu dem, was ich will, und davon zu reden, haben wir heut' keine Zeit. Auch ist's mir zu heiß in der Stube da. Es wird einem fast angst vor lauter Vornehmheit. Droben auf den Bergen, da hat man es weit und frei, und ein österreichischer Jodler hallt aus dem Bayrischen zurück, als ob es gar keine Grenzen und keine Grenzjäger geben tät.«

»Es gibt aber, und wenn sie dich einmal doch fangen sollten?«

»Oh, den Hansjörg fängt man nicht mehr so leicht, als man meint. Weder der Krämer noch die Grenzer. Nur einmal, in der letzten Woche und beim ersten Gang, haben die Spitzbuben mir ein Päcklein abgejagt. Ich bin so müd gehetzt worden, daß ich den Plunder wegwerfen mußte, um selbst zu entrinnen. ›Das muß wieder eingebracht werden‹, hab' ich mir gesagt und mich gleich wieder mit einem großen Sack über die Berge gemacht.«

»Großer Gott!«

»Es ist ein herrlicher Tag gewesen da oben. Ihr da habt noch euer Lebtag nie so einen gesehen. Da ist es still gewesen in mir und rings um mich herum, so daß ich's ganz gut hörte,[229] wie zwei Grenzer in einer öden Alphütte sich was zubrummten, als ich vorüberschritt.«

»Und hast du nicht an mich gedacht und an den Vater, und bist du vorwärts?«

»Versteht sich, und dann tüchtig beladen wieder zurück.«

»Hast du denn alles schon auf den Bergen droben gehabt, daß es so schnell ging?«

»Das ist oft der Fall, und die Grenzer, die richtig noch da waren, haben auch so etwas vermutet. Wie von Wespen gejagt, sprangen sie heraus und schrien: ›Halt!‹ Hansjörg aber hielt nicht, ob sie rufen, laufen oder schießen mochten.«

»Jesus Maria! Sie schössen?«

»Allerdings, aber der Soldat darf nie fürchten.«

»Ja, als Soldat fällt er für Gott, Kaiser und –«

»Stighansen mit seinem Handgeld – als Schwärzer dagegen für sich selbst. Aber laß mich weiter erzählen! Das Beste kommt zuletzt«

»Mir grauset's.«

»Abwärts halfen alle Heiligen. Wie im Winter ein Schlitten, schoß ich mit meiner Last über die glatten Bergheuplätze hinab, rutschte durch Halden, sprang über Felsen und verschwand im Gebüsch.«

»Gottlob und Dank im hohen Himmel!«

»Ich war einstweilen sicher, und ein weithin hallender Jauchzer verkündete das meinen guten Freunden, die mir zitternd auf Umwegen nachkletterten. Nun hörte Gott mich ächzen und den allerjämmerlichsten Klagton versuchen, bis ich die Verfolger herankeuchen hörte. Dann klomm ich wieder abwärts mit meiner Last, aber so gemach, daß sie mir immer näherkamen und bis auf einen Schritt bei mir waren, als ich wie ein halb zu Tode Gesprengter niederfiel und meinen Plunder im Sack über den Felsgrat ins Tobel warf.«

Dorothee rückte ungeduldig hin und her. »Es wär' nun Zeit in die Kirche«, sagte sie.

»Du mußt aber doch noch hören, wie es gegangen ist mit dem Pack.«[230]

»Ich tät es lieber hören, wenn du ihn dem armen Vater gebracht hättest.«

»Der«, lachte Hansjörg, »würde Augen gemacht haben, fast wie meine Freunde! Laß mich aber nur der Ordnung nach erzählen. Da lag ich und keuchte so jämmerlich, daß die Burschen es aufgaben, mich mit Rippenstößen zum Pack zu treiben. Einer bewachte mich, bis der andere mit großer Müh und viel Schweiß den Schatz gehoben hatte. ›Ein Fäßlein Tabak‹, meinte er. ›Hast du schon aufgemacht?‹ fragte mein Wächter. ›Narr, ich konnte kaum stehen‹, antwortete der andere schaudernd. Nun wurde aufgeknüpft, und aus dem Sacke kugelte ein kurz abgesägter Tannenblock, so rund und glatt, daß man sich zum Schindelnmachen keinen hübscheren denken konnte. Meine Grenzer standen da wie verhagelt, mir aber war die Müde vergangen, und lachend sagte ich ihnen, wenn es keinen Schnee habe, könne man solche Klötze nicht auf Schlitten laden und trage sie lieber in Säcken aus dem Walde heim, wenn's nicht an der Kraft dazu fehle. Es war wohl strafbar, daß ich auf das ›Halt‹ nicht stillestand, aber sie hätten sich geschämt, mich jetzt auf das Gericht zu nehmen, und, wie die Katze vom heißen Brei weg, schlichen sie den schlechten Weg hinab.«

Ganz gegen Hansjörgs Erwarten belohnte die Schwester seine Erzählung nicht mit dem leisesten Lächeln. Fast schaudernd sah das Mädchen aus den grauen Augen des Bruders etwas leuchten, was weniger Mut und Tatenlust als Trotz, Schadenfreude, Rachsucht oder sonst etwas Schreckliches sein mußte. »Du bist mir ganz fremd worden«, sagte sie traurig. »Nie könnte mich freuen, was anderen nur den Beruf schwer macht.«

»Der Beruf«, antwortete Hansjörg mit einem mitleidigen Lächeln, »der Beruf, du gutes Ding, ist nichts anderes als das Leitseil, an dem sie unsereinen nach Wunsch und Willen in der Welt herumführen. Als Soldat muß ich im Frieden berufsmäßig der Ankläger meiner Freunde, im Krieg der Mörder der sogenannten Feinde werden. Mach' ich da nicht auch anderen[231] den Beruf schwer? Aber sogar wenn ich daheimsitze, still und unbemerkt zwischen den vier Pfählen, wenn ich die Nadel walten lasse in schönem, stillem Tuch und statt meiner nur einen Rock nach dem anderen ins Feld schicke, mach' ich anderen den Beruf schwer, und je fleißiger wir schneidernde Soldaten sind, desto hitziger ist der Krieg ums Leben, um die Kundschaft nämlich und ums tägliche Brot. Das sind so Gedanken eines Verkauften, wenn er von da droben herabschaut auf die wunderbar närrische Welt und seinen Ärger vergißt im Lachen darüber, daß sich sonst kein Mensch weit herum darüber ärgert und das alles ganz in Ordnung gefunden wird. Machen die Grünröcke mir's nicht auch schwer? Und werde ich hier Knecht, so hab' ich einen anderen, heiß' er Peter oder Paul, von Kost und Most verdrängt. Krieg ist überall, und ich will, am liebsten da mittun, wo doch auch noch ein Spaß zu erleben ist.«

Dorothee stand vor ihrem Bruder, wie ein Mensch vor einem Ungeheuern Ereignisse steht, welches ihn um so mehr erschüttert, weil plötzlich dessen Ursachen und Wirkungen in ihrer Nacktheit so hart vor ihn hintreten, daß er nicht einmal mehr das Walten einer höheren Macht, sondern nur noch den furchtbar regelmäßigen Lauf der Dinge darin zu erkennen vermag. So hatte der Bruder werden müssen, und doch sollte, durfte er nicht so bleiben. Sie würde – das fühlte sie, wenn sie ihn entschuldigen wollte, viel stärker, als ihr augenblicklich lieb war – an seinem Platze nicht so geworden sein; aber vergebens suchte sie, was in ihr sich dagegen aufgelehnt hätte, in ein Wort zu fassen, um dem Bruder es wie ein schöpferisches »Werde« zuzurufen. Es klang recht traurig, als sie mit abgewandtem Gesichte fragte: »Möchtest du nicht am liebsten ruhig leben und brav werden?«

»Das wird nicht allen so leicht und so gut belohnt, als man sagt. Nur dir lächelt Stighans dafür so freundlich zu, daß der Kaplan keine Ruhe mehr bekam, bis er darüber eine Predigt hielt.«[232]

Dorothee verstand diese Rede nicht, obwohl sie vormittags, wie gewöhnlich, dem ganzen Gottesdienste beigewohnt hatte. »Mit mir ist's anders«, plauderte Hansjörg weiter. »Mir stünde das Dulden nicht an, und meine größte Kraft gibt mir der Trotz. Sie haben mir es aber auch danach gemacht mein Lebtag. Der Vater –«

»Laß ihn«, fiel das gute Kind ein, »auch er hat es hart gehabt, und die Mutter ist viel zu früh gestorben.«

»Mutter!« rief der Bursche traurig. »Ja, sie konnte recht gut sein, sie war es, aber auch wieder furchtbar hart. Da hab' ich gesehen, was die Not aus den besten Menschen macht. Dich hat ihr Unfriede mit dem Vater aus dem Hause getrieben und unter ein besseres Dach gebracht, ich aber mußte bleiben, und alle Hiebe, die Vater und Mutter in groben Reden sich austeilten, fielen vor allem auf mich, bis ich hart und unempfindlich war, so daß mir bald ein Sonnenblick der Mutterliebe fast weher machte als das Ärgste, was ihre üble Laune mir antat. So ein Blick begann das Eis zu schmelzen, welches sonst den furchtbaren Riß in unserem Hause bedeckte. Gott tröste sie im ewigen Leben! Sie hat es doch nicht mehr erleben müssen, mich zu einem Handwerk zwingen zu sehen, für das ich am allerwenigsten Neigung hatte. Der kräftigste, trotzigste Bursche im Dorf, mußte ich ein Schneider werden, weil ich das beim Vater umsonst ein wenig lernen und dann gleich beim Krämer Arbeit nehmen konnte. Man hatte schon Jahre daraufhin gesündigt, und zwar so, daß ich mich nicht mehr freimachen konnte. Die Schuld wurde größer von Jahr zu Jahr, so daß man mich endlich an Hansen verhandelte. Diese Schule hab' ich durchmachen müssen, drum ist mir denn auch ein schönes Vermögen das Höchste auf der Welt geworden. Wie ist der Krämer ein Mann und lebt trotz Neid und übeln Nachreden in aller Herrlichkeit! Und warum? Zuerst weil er ein unerfahrenes Mädchen verführte. Das machte ihn zum Herrn ihres Vermögens, und nun hat er sich natürlich gar alles erlauben dürfen. Und nun war eine Tochter da neben mir im Haus, ein übermütiges, keckes Ding, und die[233] sah mich gern. Ja, ja, der Krämer tat sich recht, daß er mich aus dem Haus und aus dem Dorfe schaffte, denn die reiche Zusel hätte mein werden müssen um jeden Preis. Wohl hat mir das Mädchen nachgeweint und nachgeschrieben von ewiger Liebe. Aber daran hab' ich nicht geglaubt. Wär' doch auch ich gleich wieder einer anderen nachgegangen, wenn mich das Glück wieder auf den Weg einer so Reichen geführt hätte. Drum – ja, ich will nur beichten, daß doch auch hier etwas Gutes geschieht unter dem Gottesdienst –, drum hab' ich dann sogar die Schreiberei von ihr um ein Sündengeld an den alten Krämer verschachert in der verworfensten Skorpionsstunde meines Lebens. Als ich heimkam und das hübsche Kind sah – Herrgott! Ich hätte mir alle Haare ausraufen mögen. Erst jetzt seh' ich, wie hübsch sie ist, und ich weiß nicht, ist's Reue oder was, das mich mit Gewalt immer zu ihr zieht und mich selbst dem Krämer gegenüber, den ich von ganzer Seele hasse, immer wieder so schwach macht. Er sagte mir oder verriet doch, daß mich sein hübsches Töchterlein auch noch nicht ganz vergessen habe.«

»Und nun läßt du dich wieder fangen von der Lügenspinne?« fragte Dorothee im Tone des Vorwurfs.

»Der Krämer«, antwortete Hansjörg, »hat es mir in einem großen Augenblick gesagt, und ich glaub' es, denn ich empfinde nur zu gut, wie mir selber zumute ist.«

»Der Krämer meint es aber gewiß nicht redlicher mit dir als mit anderen.«

»Ich mit ihm auch nicht. Wenn er glaubt, daß ich nur für seinen Laden über die Berge gehen werde, dann trügt er sich viel ärger als ich. Das ist nur, um in seinem Hause nicht ganz fremd zu werden.«

»Er kann dich aber verraten beim Gericht.«

»Ich ihn auch.«

»Die Großen beißen einander nicht.«

»Eben drum auch muß man sich an diese hängen, wenn man sicher sein will.«[234]

»Wenn du so etwas im Kopf hast«, sagte das Mädchen ungewöhnlich streng, »so ist die heutige Predigt für dich schon ganz besonders wichtig. Es wär' doch traurig, wenn's dich träfe, wenn du als Dienstbot arbeiten tätest, und dein Lohn wäre der Zorn Gottes, der ja will, daß man ihm allein dienen und keine fremden Götzen daneben haben soll. Weißt du, der Kaplan hat die, welche dienen um Befriedigung der sündhaften Begierden, den Zauberern verglichen, die ihre arme Seele dem Schwarzen verschrieben aus Geldgier und Zeitlichkeit. Mir ist das schrecklich vorgekommen, und doch hab' ich da noch gar nicht an dich gedacht. Es ist mir nicht eingefallen, daß es dich treffen könnte.«

»Oder gar dich auch noch«, bemerkte Hansjörg.

»Du hast recht! Wer steht, der sehe zu, daß er nicht falle. Ich mein' es nicht bös, und es kommt mir selbst wunderbar vor, wie ich von deiner Erzählung weg an die Predigt denken muß.«

»Du hast recht, daß du nicht gleich dich selbst bei der Nase nimmst, das tun schon die anderen. Aber laß sie dich nur beneiden. Neid bringt Glück.«

»Mich nähme man dafür her?«

»Ja, dich und den Hans, den dir nicht nur die recht grausam übel gönnen, welche bei Prozessionen noch das Kränzlein tragen müssen.«

»Mir – mißgönnen sie – ihn?«

»Ja; aber tu du nur jetzt nicht mehr gar zu falsch, nachdem ich doch auch so offen gegen dich gewesen bin. Du wärst nur ein Närrchen und er ein Klotz, wenn du ihn nicht bekommen tätest.«

»Aber, Hansjörg –«

»Man vermutet von anderen nur und redet ihnen nach, was man selbst an ihrem Platze getan hätte, drum auch brauchst du vor keinem Menschen rot zu werden, und am allerwenigsten vor mir. Ich hab' dem Stighof schöne Jahre geopfert, es ist recht, wenn er sie meiner Schwester zurückgibt. Ich gönne dir dein Glück von ganzem Herzen.«[235]

»Ja, ich bin glücklich hier, und du könntest es auch werden. Komm doch, schlag deine Leidenschaften nieder! Man kann's mit einem Ruck, wenn man die Faust ballt und recht trotzig tut. Ich mach' es immer so, wenn mich Kummer plagt um den Vater, dich oder – und der Kummer sitzt doch noch viel tiefer, als was dich vom ordentlichen Weg treiben will.«

»Wenn du für mein Vertrauen nichts hast als diese Predigt«, bemerkte Hansjörg unmutig, »so wär's fast schad', wenn ich die ganze Vesper versäumen tät. Daß ich nicht gewillt bin, Knecht zu werden, hast du verstanden.«

»Nützt alles Einreden nichts?«

»Nein.«

Eine Minute später schritten die beiden schweigend über die längst leere Gasse des verödeten Herrendorfes hinaus der Kirche zu.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 221-236.
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