Vierundzwanzigstes Kapitel
Wie sich der Andreas rächt und was daraus entsteht

[329] Als Hans am Samstag aus der Krone heimging, wo er die Wirtin an ihre Pflicht als Hausmutter erinnert hatte, wurde er vom Krämer, der ihn nicht gern von Dorotheen kommen sah, zu einer Unterredung in die Stube gerufen. Ein Wort gab nun das andere, und man trennte sich nicht mehr, bis Hansens Heirat mit der Zusel eine ausgemachte Sache war. Hans wünschte die Hochzeit noch zu verschieben, der Krämer jedoch war um so weniger dazu geneigt, weil er bei der Unterredung die unentschlossene Rat- und Tatlosigkeit des Burschen aufs neue kennen lernte. Schnell mußte da wohl alles gehen, wenn es nicht wieder vergehen sollte. Daß er Dorotheen besuchte, nachdem diese von Zusels Freundinnen abermals ins Geschrei gebracht wurde, blieb jedenfalls verdächtig. Der Krämer tat nun alles, um die Sache so schnell als möglich ins reine zu bringen. Er versprach dem stolzen Töchtermann sogar, nun als Mitglied einer angesehenen Verwandtschaft seine allerdings zuweilen entehrenden Händelchen, die böse Zungen Wucher zu nennen beliebten, für immer aufzugeben, sobald sein Laden geräumt sei. Hansen wurde schon um vieles leichter, als ihm endlich das Ja glücklich abgeschwätzt war. Nun hatte das Predigen der Mutter ein End', und er war doch im klaren darüber, was er zu tun hatte. Man täte nicht recht, es nur dem vom Krämer aufgestellten Weine zuzuschreiben, daß ihm so wohl wurde neben dem schönen, heute seltsam[329] stillen Mädchen und er spät abends in der besten Stimmung das Haus verließ.

Den Krämer hatte es etwas nachdenklich gemacht, daß die Gläser des Paares beim Anstoßen keinen Klang von sich geben wollten, obwohl er sah, wie ungeschickt der Bursche sein Glas in die Hand nahm. Schließlich aber lachte er über sich selbst, die gute Stimmung stellte sich wieder ein, und er begann an der Erfüllung des gegebenen Versprechens zu arbeiten. Von jetzt an wollte er ganz ruhig und behaglich leben. Sogleich schrieb er an einige Geschäftsfreunde, um die in letzter Zeit gemachten Bestellungen zu widerrufen, und erfreute sich dabei noch an dem Weine, welchen die Verlobten auf dem Tische hatten stehen lassen. Dann setzte er sich in den Lehnstuhl, kreuzte die Arme und malte sich seine Zukunft mit den lieblichsten Farben, bis Hansjörg kam und um einige Träger zur schnellen Beförderung der Waren bat, die er glücklich bis zur Brunnenstube beim Liggstein gebracht habe.

Der Krämer gab ihm drei Taler und sagte: »Da nimm und suche dir deine Leute selber aus, aber zu erst komm und trink.«

Erstaunt sah der Schwärzer die Gläser auf dem Tisch. Dann tat er einen herzhaften Schluck.

Der Krämer fuhr fort: »Bring' alles zum Andreas in den Stadel. Ich mag nicht hinein, damit ich weniger verraten werde. Jetzt schon gar nicht mehr, da nun doch alles bald aus ist. Der Vater der jungen Stighoferin treibt keine solchen Händel mehr, und du kannst mir morgen deine Rechnung bringen.« Dem Hansjörg war es im Kopf, als ob ihm jemand unversehens eine recht gottserbärmliche Ohrfeige gegeben hätte. Alles drehte sich surrend um ihn herum, und ohne auch nur noch gute Nacht gesagt zu haben, verließ er die Stube. Mit welcher Lust er nun an die Ausführung des Auftrages ging, den er mit den drei Talern erhielt, kann sich wohl denken, wer noch so wenig als er vergaß, welche Hoffnungen ihm der Krämer einst im Wald ob der Halde gemacht und seither immer mehr oder minder genährt hatte. Trotzdem aber[330] merkten die gedungenen Gehilfen, unter denen auch der Jos wieder war, nichts Besonderes an ihm als seine Ermüdung, die sie natürlich fanden, sobald sie die Lasten sahen, die er den Tag über zur Brunnenstube geschafft hatte.

Am Sonntag, während in der Krone der Andreas hinausgeworfen wurde, rechneten Hansjörg und der Krämer, der heute nicht karg war, im Frieden miteinander ab. Kein böses Wort wurde gewechselt. Hansjörg war dem Krämer sogar zu still, zu ergeben, und er hätte ein gesundes Aufbegehren weit lieber gehabt als diese Ruhe, die weiß Gott was verbergen mochte. Es war eine förmliche Herausforderung, als der Krämer schließlich sagte: »Von der Heirat kannst du erzählen, wem du willst. Am nächsten Sonntag wird sie freilich verkündet, aber es ist mir lieb, wenn die Leute schon jetzt wissen, woran sie sind.«

»Zu Befehl«, sagte der Soldat trocken und ging. Ihm tat die Geschichte zu weh, als daß er hätte aufbegehren können. Nur Klagen hatte er, Klagen über seine Einfalt, die ihn ins Netz des bekannten Spitzbuben geraten ließ, und über die böse Welt. Aber um alles hätte er seine Gefühle vor dem herzlosen Manne nicht äußern mögen.

Nun war der Krämer am Ziel. Er sah seine kühnsten Hoffnungen sich der Erfüllung nahen, und es waren doch elende Kleinigkeiten genug, ihm die Freude zu verderben. Zuerst lag das Klirren der Weingläser ihm in den Ohren, und nun hatte er stets Hansjörgs ernstes Gesicht mit dem unheilverkündenden Schatten vor sich. Schonungslos hatte der Mann jeden getreten oder geworfen, der ihm auf dem Wege zu seinen Zielen hindernd entgegentrat, und nun sollte er nicht einmal mit bloßen Einbildungen fertig werden. Leichter freilich wär's gegangen, wenn er Zuseln recht fröhlich gesehen hätte. Die aber schlich wie ein Schatten herum und fragte wohl fast ein dutzendmal, was doch auch Hansjörg zu der schnellen Wendung der Dinge gesagt habe. Erst am Montag, als der Krämer das Haus verließ und an seine neue Stellung in der Gemeinde, ja sogar schon an Ämter und Ehrenstellen[331] dachte, die dem wohlhabenden Mitglied einer solchen Verwandtschaft in seinem Ruhestand nicht mehr fehlen konnten, vermochte er sich des Errungenen wieder ganz von Herzen zu freuen. Er machte, damit Hans nicht in seinem Behagen gestört werde und nur mit seiner Mutter über sein Vorhaben rede, die zur Vorbereitung der Hochzeit nötigen Schritte selbst und weidete sich an dem Erstaunen der Leute, daß die Sache noch so schnell ins reine gekommen sei. Ein Vergnügen aber war ihm auch dafür zu gönnen, daß er an einem so stürmischen Tage den Pfarrer und den Vorsteher, Musikanten und Kleidermacherinnen aufsuchen mußte. Sicher würden alle Häuser abgedeckt worden sein, wenn nicht die allerdings nur noch unbedeutende Schneelast die Schindeln festgehalten hätte. Dabei stoben die großen Flocken herum, daß man halbe Viertelstunden lang nicht von einem Hause zum anderen sehen konnte. Wer einen Gang zu machen hatte, kam geschlossenen Auges auf dem verwehten Wege daher, als ob er einen schwerbeladenen Schlitten nachziehen müßte. Doch wenn ein vorteilhaftes Geschäft zu machen war, pflegte der Krämer sich weder von Schloßen noch Schneeflocken abschrecken zu lassen. Und galt es jemals ein vorteilhafteres als heute? Am Sonntag mußte Zusel sich als Braut gehörig stellen, und nun sollten Schuster, Schneider und Näherin den Arbeitszuwachs doch rechtzeitig erfahren.

Es ging schon stark gegen Abend, als er, von seinen vielen Ständen und Gängen zurückkommend, vor dem Hause des Rößlewirtes anlangte, dem er noch den gewiß willkommenen Auftrag hinterlassen wollte, daß er sich auf einen gehörigen Hochzeitsschmaus vorzubereiten habe.

Des alten Mannes übrigens noch ziemlich gute Augen waren von der Schneewolke, die ihn im Freien überall umgab und jeden dunkleren Ruhepunkt verhüllte, so angegriffen und geblendet, daß er einen Grenzjäger, der ihm unter der Haustüre entgegenkam, beinahe noch umgestoßen hätte. Und noch war der Schreck über den unvermuteten Anblick des grünen Kragens ihm nicht aus den müden Gliedern, als ein[332] kräftiger Arm ihn in einen Winkel schob und Hansjörgs aus Tausenden zu erkennende Stimme ihm kühl und fast verächtlich einen guten Abend wünschte.

»Jetzt ist's gefehlt!« klagte der fast zu Tode erschrockene Krämer und taumelte in die Stube.

Hier aber ward er nicht besonders freundlich empfangen. Mehrere Tausende der von ihm gekauften Zigarren hatte der Grenzjäger hier gefunden und für streng verbotene Ware erklärt. Nach dem Berichte des Wirtes war es nur dem Treiben und Fortdrängen Hansjörgs, der als des Grenzjägers Schlafkamerad noch viel bei ihm galt, und seinen listigen Antworten auf alle an den Wirt gerichteten Fragen zuzuschreiben, daß der Krämer nicht verraten wurde.

»Er ist aber doch der Verräter. Niemand kann das wie er und hat so viel Grund, wenn er ein Auge hergeben will, daß ich beide verliere«, jammerte der Krämer.

»Die Kronenwirtin«, erzählte nun eine Magd, »hat viel eher deinen Töchtermann, den Andreas, im Verdacht. Er soll gestern bei ihr im Zorne fort sein und mit etwas Derartigem gedroht haben.«

Der Krämer, nur Hansjörgen fürchtend, glaubte das nicht, aber mit Schrecken dachte er an die im Stadel versteckten Waren. Sollten die ihn jetzt, wo er aufhören wollte, noch in Unglück und Schande bringen? Mit der Kronenwirtin mochte der Trunkenbold Händel haben, doch ihn, den Schwiegervater, durfte er wohl schon aus Eigennutz nicht in eine so hohe Geldstrafe bringen. In der Krone fand die erste Haussuchung statt. Dorothee mochte dem Bruder das geschwind berichtet haben, und nun ließ das übrige sich denken. Andreas machte die erste Dummheit nur, weil er nichts von der Ware in seinem Stadel wußte. Aber Hansjörg, der verkaufte, ins Joch gespannte, angelogene, ausgebeutete und weggeworfene Hansjörg, mußte heute die Gelegenheit, sich zu rächen, mit Freude benützen. Dem sonst so weitsehenden Mann hätte einfallen sollen, daß der beeidete Soldat fürchten mußte, am tiefsten in die ihm gegrabene Grube zu fallen. Er meinte, der[333] Kampf zwischen Verstand und Leidenschaft sei schwer zu berechnen, und da hatte er ganz recht. Selbst ihm gelang es nicht, sonst würde er viel ruhiger bei seinem Schoppen gesessen sein.

Hansjörg, der auch den Vorrat seines Freundes, den ganzen Reichtum des Jos und die Sparpfennige seiner armen Freunde neben der Ware des Krämers verborgen wußte, war fast zu Tode erschrocken, als er vom Grenzjäger, den er zufällig antraf, erfuhr, warum er bei dem Unwetter mit dem betrunkenen Andreas ins Dorf gekommen sei. Wohl redete der alte Bekannte so freundlich und offen, daß Hansjörgen alle Angst wieder vergangen wäre, wenn er nicht gefürchtet hätte, der Krämer könnte von einem der Wirte verraten werden, um sich straffrei zu machen. Schon sich selbst und dem Jos zulieb' mußte der Spitzbube diesmal geschützt werden. Zum lieben Glücke kannte er den Grenzjäger als einen grundgemütlichen Kerl, der gewiß kein Wässerlein trübte, wenn's nicht von seiner traurigen Pflicht gefordert war. Da schien es das klügste, gleich mit ihm in alle Wirtshäuser zu gehen, die durchsucht werden mußten, und mit Scherz und Ernst so viel als möglich alles abzuschneiden, was den pflichttreuen Freund etwa zu weiteren Fragen und Untersuchungen zwingen mußte. Wohl war das ein sehr gewagtes Spiel, aber der Schwärzer fand kein anderes Mittel, sich und diejenigen, an die sein Schicksal nun einmal gekettet war, zu retten.

Der Krämer aber legte den Eifer ganz anders aus, mit welchem Hansjörg sich dem Grenzjäger nach dem Berichte des Rößlewirtes dienstbar zu zeigen suchte. Wenn er sein eigener Angeber wurde, so suchte er sich doch jedenfalls noch einen vielleicht mächtigen Fürsprecher zu gewinnen. Das erklärte alles, oder besser, der Krämer glaubte, daß er an Hansjörgs Platze so handeln würde. An seinem Platz! Es war das erstemal, daß der Krämer sich in die Lage eines Menschen dachte, der ein Opfer seiner Geldgier wurde. Jetzt aber tat er das, gedachte schaudernd der großen Rechnung, welche[334] gestern nicht ausgeglichen ward, und glaubte nun zu wissen, was er zu erwarten habe.

Und was Hansjörg, dem er vielleicht zweimal sein Lebensglück zerstörte, gegen ihn auch unternehmen mochte, er konnte ihm nicht unrecht geben. Ja, das war noch beinahe das quälendste, daß bei allem dem ein herzliches Mitleid mit dem Armen sich in ihm zu regen begann. Es litt ihn nicht lange bei seinem Schoppen. Auf mußte er, fort, hinaus in Nacht und Sturm, wo er wenigstens ungestört sinnen konnte. Mit zitternder Hand legte er zwei Sechser neben den kaum berührten Schoppen und ging. Jetzt schien ihm der verschneite Weg nicht mehr gar so schlecht zu sein, auch peitschte der Sturm einem den Schnee nicht mehr gar so arg ins Gesicht als nachmittags. Nur sehen konnte man auch jetzt nicht weit, das war womöglich schlimmer geworden; und doch hätte er es vermeiden mögen, unversehens jemandem zu begegnen, da man ja leicht Verdacht schöpfen konnte, wenn man ihn auf dem Wege sah, während ein Grenzjäger im Dorfe verweilte.

Unwillkürlich verließ er den durchs Dorf hinein zu der Wohnung des Andreas führenden Weg und merkte nun, daß ihn der alte Schnee ganz vortrefflich trug. Er lief also gerade so bequem oder unbequem ob dem Dorfe hinein als durch die verschneite und überdies unter der glatten Decke des neugefallenen Schnees recht holperige Gasse, mußte nicht zwischen Häusern hindurch und war sicher, daß ihm kein Mensch begegne. Schon eilte er hinauf, als ob es das Leben gelte. Schon mußte er jedem, der im Dorfe war, in der Schneewolke verschwunden sein, und doch eilte er immer noch weiter hinauf, bis er sich endlich ein wenig stillzustehen und zu verschnaufen gezwungen fühlte. Bitter lachend sank er zusammen. Es wurde ihm jetzt nicht so schnell zu kalt auf dem neugefallenen Schnee. Er saß und sann, während es im Tale dunkler und dunkler ward. Zum Teil war es ihm doch noch lieb, daß Hansjörg sich zu solchem verräterischem Spitzbubenstreich fähig zeigte. Nun hatte man wenigstens die[335] Beruhigung, ihn an und für sich schon für einen grundschlechten Kerl halten zu dürfen, an dem wohl nicht viel mehr zu verderben gewesen war. Die tausend Gulden, oder was der Spaß allenfalls kostete, konnte er den Kindern ohne Sorge noch wegnehmen, und mithin war dann alles wieder aus. Alles? Wahrhaftig nicht. Es blieb noch der heillose Spott und die frömmelnde Schadenfreude aller der Einfaltspinsel zu überstehen, die in den elenden Nestern ihrer Väter gewissenhaft am Hungertuche nagten und schon längst gerne sehen wollten, wie lang er es treiben könne, bis ihm endlich das Wasser in die Schuhe rinnen werde. Nicht überstanden und sicher kaum zum Überstehen war das Gejammer der alten Stigerin, die mit frommem Augenverdrehen jedes Abweichen von Gesetz und Ordnung zu verdammen pflegte. Ängstlich malte der Krämer sich die traurigen Folgen dieses verwünschten Zwischenfalles aus, alles Mögliche, ja noch viel Unmögliches fiel ihm ein, nur das nicht, daß Hansjörg ihn so gut als möglich aus der Geschichte zu wickeln bemüht sei. Wäre er nur sicher gewesen, daß die beiden jetzt noch nicht im Stadel herumschnüffelten, so würde er gleich hinabgegangen sein und wenigstens soviel als irgend möglich zu retten versucht haben. Vielleicht noch das meiste! Ja, und dann wäre Hansjörg vergebens sein eigener Verräter geworden! Es war zum Rasendwerden, ruhig hier sitzen zu sollen, während da drunten weiß Gott was geschehen oder versäumt werden konnte. Traurig blickte er über das Dorf, welches wie ein schwarzer Strich unter ihm sich hinzog, wenn das Schneegestöber einmal für eine Minute freie Aussicht ließ. Alles war dann ruhig und still, die meisten Häuser mußten des Unwetters wegen schon von allen Seiten geschlossen sein, denn nur hier und da sah man den Schimmer eines Lichtes. Jetzt saßen sie beim Nachtessen oder beim Abendrosenkranz still und behaglich, wie er es früher daheim hatte, da die Eltern noch lebten und alles im Frieden beisammen war. Welch ein unruhiges Leben hatte er durchlebt seit damals, wieviel sich versagt und wie oft gegen die eigene Überzeugung reden und[336] handeln müssen, um schließlich hier zu stehen wie ein Ausgestoßener, während der Sturm jeden heimtrieb und auch des elendesten Nestes froh machte. – Regierte denn nicht Geld die Welt? Oder fehlte ihm das? Nein, er war einer der Wohlhabendsten – und sollte nicht mehr in sein Heimatsdorf, etwa zu seiner armen Angelika und ihrem holden Kinde gehen dürfen? Jetzt gleich wollte er es zeigen, und mochte daraus entstehen, was wollte, er konnte schon zahlen. Nebenbei ließ sich dann wohl erhorchen, wie es im Stadel stand. Vielleicht gelang es ihm noch, wenigstens den Tabak und das Schießpulver auf die Seite zu bringen und die ungestempelten Kalender und den Kaffee und die Tuchballen und alles. Dann konnte er später, so zwischen Feuer und Licht, auch ganz behaglich daheim sitzen, so behaglich als einer. Das bisherige Leben war nur ein beständiger Krieg gewesen, nun aber mußte Frieden werden für die letzten Tage. Ein Heimweh, eine nie so empfundene Sehnsucht nach einem ruhigen, gottgefälligen Leben erfaßte ihn. Die Lichter da drunten sah er nur noch in den Tränen schwimmen, die seinen Augen entquollen. Er wollte gewiß ordentlich und fromm werden, recht fromm, und zur Messe gehen und Stiftungen machen und alles – nur noch heute, zum letztenmal, sollten List oder Gewalt ihm irgendwie durchhelfen. Hansjörg mußte noch ungefährlich gemacht und Zusel in Ehren versorgt werden auf dem Stighof, sonst war's ja gar nicht möglich, seinen guten Vorsätzen gehörig nachzukommen.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, war er, immer schneller gehend, endlich beim Stadel seines Töchtermanns angelangt. Derselbe stieß gegen die durchs Dorf gehende Gasse hinab hart an den hinteren Teil des der Gasse entlang stehenden Hauses, den die Stallungen und Heulager einnahmen, während die Wohngebäude sich jenseits des mitten auf dem hohen Dachfirst aus dem Schnee hervorragenden Kamins befanden. Aber wie fern auch der Stadel der Wohnstube stand, hörte der Krämer doch, wie Angelikas Margretle mit vor Weinen halberstickter Stimme der Mutter rief. Zuerst glaubte[337] er, sich jetzt um Wichtigeres kümmern zu müssen als das Schreien eines Kindes, dessen Mutter gewiß in der Nähe war. Aber das Kind rief immer schmerzlicher, so daß er endlich, wenn auch mürrisch, hinüberfragte: »Wo ist denn die Mutter?«

»Beim Großvater.«

»Das ist nicht wahr«, sagte er etwas freundlicher. Das Mädchen mit den goldigen Locken und dem schnellen Blicke hatte längst sein Herz gewonnen, und er spielte lieber mit ihm, als er früher mit seinen eigenen Kindern gespielt hatte. Margretle wußte das, und seine Stimme klang viel heiterer, als es dem schon Erkannten zurief: »Komm doch herein! Ich geh' gleich mit, wenn die Mutter auch wegbleibt.«

Der Krämer vergaß, warum er herkam, und ging in die Stube. Das Mädchen war allein und erzählte, daß die Mutter schon vor dem Dunkelwerden das Haus verlassen habe. »Der Vater«, klagte dann das Kind, »ist nachmittag heimgekommen und hat nicht mehr gehen und kaum reden können. Dann ist er ins Bett. Die Mutter ist aufs Kanapee gefallen und liegen geblieben, aber sie hat nicht geschlafen. Geweint hat sie recht grausam, und ich hab' auch weinen müssen. Die Kühe haben das Futter viel zu spät bekommen, dann ist die Mutter fort zu dir und hat gesagt, sie frage dich, ob es nicht auch für uns noch Platz gab' in deinem Hause, weil es hier doch nicht mehr zum Aushalten sei.«

Nun konnte der Krämer sich alles erklären. Es tat ihm wohl, daß jetzt auch Angelika, die sich bisher immer etwas scheu stellte, zu ihm die Zuflucht nehmen und so das Werk ihrer stolzen mütterlichen Verwandten öffentlich verdammen wollte. Nun waren noch schöne Tage zu erleben in seinem Hause. »Möchtest du zu mir?« fragte er freundlich.

Das Kind warf einen traurigen Blick nach dem Schlafzimmer des Vaters und antwortete: »Ich möchte nicht mehr dableiben, wenn die Mutter gehen tät. Wenn doch nur der Vater nicht krank wär'! Oh, du hättest ihn heute sehen sollen! Er hat nicht einmal essen mögen, und der fremde Mann mit dem[338] langen Rock und dem grünen Kragen und dem großen Messer ist allein bei dem Braten gewesen, den Mutter schon gestern abends für den Vater gerichtet und heute weinend wieder gewärmt hat.«

Das erinnerte den Krämer wieder an den Stadel. Hastig langte er nach der Laterne auf dem buntbemalten Wandschrank, und indem er die darin stehende Lampe rasch anzündete, sagte er: »Die Mutter kommt schon, leg' dich nur aufs Kanapee, bis sie kommt, und schlaf – oder bete.«

Ohne sich noch um die Einwendungen des Kindes zu kümmern, verließ der Krämer die Stube und eilte dem Stadel zu. Seine Hast, die alle Vorsicht vergaß, mußte ihn verraten, wenn irgendein Beobachter in der Nähe war. Trug er doch sogar die Laterne ganz frei in der Hand, als ob es keinem Menschen auffallen könne, wenn er gesehen werden sollte. Von vorsichtigem Horchen vor Eröffnung des großen Tores war keine Rede mehr. Erst als er im Stadel war, dachte er daran, wie sehr er die beiden schon hier zu treffen fürchtete. »Gott Lob und Dank!« hauchte er, als er alles in Ordnung fand. Auf dem Boden, unter welchem er seine Waren versteckt wußte, lagen eine Menge Hobelspäne, wie sie Hansjörg immer herumzustreuen pflegte. Die, in viele Teile zerlegt, hier an der Wand aufgebeigten Heuwagen warfen lange, gespensterhaft aussehende Schatten an Wand und Decke, deren sonderbares Nicken und Winken dem Krämer grausig vorkam, einem anderen aber sicher nur das Zittern der Hand verraten hätte, welche die Laterne krampfhaft festhielt. Endlich stellte er sie auf den Boden – und schrie vor Schrecken laut auf, als er dabei die Schatten länger werden und gegen ihn herausfahren sah. Seine Hand war zu unsicher, sein Arm zu kraftlos, um gleich eines der schweren Bretter zu heben, welche, lose nebeneinander gelegt, den Boden des Stadels bildeten. Er glaubte jemand reden zu hören, und nun dachte er mit Schrecken an seine Vorsichtslosigkeit beim Hereingehen. Es war nichts Gewisses zu erhorchen, denn der Sturm, obwohl er jetzt bedeutend nachgelassen hatte, pfiff, brummte und[339] klapperte noch überall. Aber das nun – was war das? Sturmläuten in der Pfarrkirche! Der Krämer fuhr zuerst erschrocken auf, dann aber zog etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. »Gott, nun bin ich sicher da, gewiß ganz sicher. Jetzt haben sie zu tun ohne mich. Wie doch alles auch wieder zu etwas gut ist! Es soll nur brennen meinetwegen, wenn nur –«

Er eilte vor den Stadel, um zu sehen, wo Feuer ausgebrochen sei. Aber er sah nichts und hörte, da es wieder windstill geworden war, die Glocke ganz regelmäßig anschlagen, während die Wellen des Sturmes nur einzelne Klänge da hereingetragen hatten. Ha, nur Feierabend läutete es, zur Ruhe und zum Gebet. Alle konnten daheim bleiben und sich wohl sein lassen, nur er nicht. Und da kamen auch noch zwei schnellen Schrittes die Gasse herauf?! Der eine just so groß wie der Grenzjäger – und auch der lange Rock und die Bewaffnung?! Herrgott! Und der andere redete und war wie der ganze, leibhaftige Hansjörg. Oh, jetzt hätte es brennen sollen, fürchterlich, daß alles zu tun gehabt hätte. Fliehen? Ein Alter zwei Jungen entrinnen? Unmöglich! Und zudem hatte er sich vorhin schon mit der Laterne verraten. Die beiden kamen näher, näher – Brennen mußte es, oder er war verloren, gefangen neben den Beweisen wie ein Dieb! Und dann das Lächeln Hansjörgs – und Dorotheens, wenn gar auch aus Zusels Heirat nichts mehr werden sollte. Das konnte man um keinen Preis erleben!

Wäre der Krämer noch wenige Sekunden auf seinem Platze geblieben, so hätte er die beiden hinter dem stattlichen Hause seines Töchtermannes wieder verschwinden sehen. Aber es litt ihn nicht mehr auf seinem Platze. Schon in der nächsten Minute mußten sie im Stadel sein, daran hätte er seine Seligkeit setzen dürfen. Nun, sie sollten schon Arbeit bekommen, daß er auf eine Weile vergessen wurde. Als ob es das Leben gelte, sprang er in den Stadel zurück, riß das Licht aus der Laterne, zündete mit zitternder Hand in einen Haufen Hobelspäne, und schon im nächsten Augenblick wälzte sich die Flamme, größer und größer werdend, über den Boden[340] hin gegen die ordentlich aufgebeigten Heuwagen, deren Schatten jetzt der Krämer mit furchtbarer Schnelle kleiner und kleiner werden sah. Schon knisterte und prasselte es, daß nichts mehr zu hören war vom Tosen des Sturmes, der jetzt das Tor aufwarf und die schon überall emporleckenden Flammen gegen den Holzvorrat hintrieb, welcher in der dem Hause zugekehrten Ecke des Stadels aufgehäuft war. Die Hitze wurde schon fast unerträglich. Der Krämer hatte gleich fliehen und das Löschen und Lärmschlagen seinen Verfolgern überlassen wollen, jetzt aber stand er zitternd und innerlich verzweifelnd vor seinem Werke, bis es ihm zu heiß wurde. Sollte noch gar das Haus in Gefahr kommen und die Nachbarschaft? Himmel, das hatte er nicht wollen! Ohne noch an die Folgen zu denken, die es für ihn haben mußte, wenn er hier von denen angetroffen wurde, die zuerst zur Hilfe herbeieilten, trug er einen Arm voll Schnee nach dem anderen herein, um vielleicht die wachsende und wachsende Flamme doch noch ein wenig zu zähmen. Erst als er gelbliche Streifen an der Decke herumziehen sah, wie vorher die Schatten der jetzt in vollem Brande stehenden Heuwagen, und als draußen die Dachtraufe zu plätschern begann, nicht nur wie wenn der heißeste Frühlingstag den Schnee zu schmelzen beginnt, sondern gerade wie ein Brunnen, sank er vernichtet nieder und starrte gleich einem Wahnsinnigen in die immer wilder um sich schlagende Flamme, bis hart neben ihm ein Dachbalken herunterstürzte und zwei Bretter des Bodens brach, daß er nun auch sehen konnte, wie seine Warenballen Feuer fingen. Mit einem lauten Schrei dachte er an das Schießpulver und stürzte hinaus. Ohne zu wissen, wohin er ging, eilte er wieder ob das Dorf hinauf. Er hatte keinen anderen Gedanken mehr als den, dem Schießpulver und dem furchtbaren Geprassel zu entrinnen. Ohne Furcht, sich zu verraten, würde er um Hilfe gerufen haben, wenn er nicht durch den Schreck und die Angst um Besinnung und Stimme gekommen wäre. Aber die Nachbarn in ihren wohlverschlossenen Häusern hörten jetzt das Geprassel und eilten hinaus. Die ersten kamen mit leeren[341] Händen auf den erhellten Platz, als eben das letzte Wasser des auf dem Dache geschmolzenen Schnees in das leise zischende Flammenmeer tropfte. Schon begann auch die Dachtraufe des Hauses zu rinnen, und lawinenartig stürzte der Schnee vom hohen Dachstuhl nieder. Ein gewaltiger Windstoß trieb die weit über den Stadel hinwallende Flamme gegen das Haus, an dessen oberer Ecke sie schon im nächsten Augenblick mit der Schnelligkeit des Sturmes rechts und links emporklomm. Das Feuer schwoll und schwoll, die einzelnen Flammenstränge liefen wie Bäche zusammen, der Sturm trug den ersten schrillen Klang der Sturmglocke wie einen Wehruf übers Dorf, dessen hintere Hälfte verloren war, wenn der Wind nicht ruhiger wurde. Die zum Löschen Herbeigekommenen jammerten, beteten und riefen den Bewohnern des weiter und weiter nach vorn in Brand stehenden Hauses. Viele Nachbarn eilten, um die eigene Habe noch zu retten, und dem mit Hansjörg herbeigekommenen Grenzjäger fehlte es wieder an Leuten, als er, um weiteres Unglück zu verhüten, das Haus niederzureißen befahl. Die Gegenwärtigen wollten nicht an ein so schönes Haus. »Und Andreas?« riefen mehrere. »Und Angelika?!« schrie Hans, der in diesem Augenblick atemlos herbeistürzte. Während nun die Bauern, auf die Feuerspritze wartend, die Nachbarhäuser mit einer schützenden Schneemauer zu umgeben anfingen, sprang Hans, abwechselnd Andreas und Angelika rufend, um das Haus herum. Endlich polterte der erstere in seinen Holzschuhen heraus und eilte den brüllenden Kühen zu. »Wo sind Weib und Kind?« fragte Hans in furchtbarer Aufregung. »Weiß nicht«, war des Andreas kurze Antwort, dann eilte er in den schon überall brennenden Stall, um die brüllenden Tiere zu erlösen. Eben waren die ersten Männer mit Feuerhaken angekommen und hatten die Antwort des Andreas gehört. Daß er noch nicht ganz ernüchtert war, wußten sie nicht, und seine Herzlosigkeit kam ihnen so unnatürlich vor, daß sie wie erstarrt stehen blieben und den aus einer Rauchwolke heraustaumelnden Tieren nachsahen. Nur Hans war immer unruhiger.[342] »Angelika!« schrie er, daß es den Leuten durch Mark und Bein ging, und mit einer Schnelligkeit, die kein Mensch ihm zugemutet hätte, sprang er durch den schon brennenden Schopf in das Haus. Zwei Flammensäulen schlugen hinter ihm zusammen und fuhren durch die nicht mehr ganz zugeworfene Türe dem Burschen nach. Die Zuschauer sprachen ein stilles Gebet, bis sie in der Andacht gestört wurden durch ihren Ärger über Andreas, der jetzt seiner letzten Kuh nach aus dem Stalle schwankte.

Hunderte standen ums Haus herum, und jeder wollte befehlen, obwohl er selbst nicht wußte, was er sollte. Einzelne sagten vom Niederreißen des Hauses, aber ihnen wurde erwidert, es seien noch Leute drinnen, und so geschah denn eigentlich nichts, wieviel auch jeder tat und wie günstig die Zeit auch gewesen wäre. Der Wind hatte gänzlich aufgehört, und ruhig verglühten die letzten Reste des Stadels auf dem Boden. Andreas starrte eine Weile in die Glut, dann rief er: »Plündert das Haus, ihr Narren! Werft alles heraus, das Geld, die Kleider, Herrgott, und das Kind und – –«

Niemand wußte, ob die Hölle sich aufgetan oder der Blitz vom Himmel eingeschlagen habe. Auf einmal war's da, wo der Stadel stand, hell – furchtbar, gewaltig. Balken, Steine und Eisenzeug flogen aus der blitzartigen Flamme. Andreas lag schwer getroffen im Schnee, den das Blut des Bewußtlosen färbte.

Des Krämers Pulverfaß war in die Luft geflogen.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 329-343.
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