Viertes Kapitel
Was Zusel am Ostersonntag erlebt

[65] »Wie das Wetter am Ostertag ist, so wird es jeden Sommersonntag sein.« Diese Bauernregel entstand wohl auch weit weniger durch langjährige Beobachtung als aus den Eindrücken schöner und trüber Ostertage auf Menschen, die sich Kirche, Haus und Feld, Göttliches und Weltliches nur als eines oder doch bloß als gegenseitig sich bindend und tragend zu denken vermochten. Verständige Kinder unserer verständigen, alles teilenden und trennenden Zeit zucken freilich über solche Wetterregeln mitleidig die Achseln und meinen, mit den Festen der Kirche würden Sonne und Nebel nicht viel zu tun haben. Als ob man das nicht schon lange gewußt und allenfalls von Jahr zu Jahr erfahren hätte! Wo fiel es wohl je einem ein, wegen Ostern am Weißen Sonntag ernstlich schönes oder trübes Wetter zu erwarten? Dieser poetische Glaube jedoch hat sich stets vom Vater auf den Sohn vererbt und wird sich vererben, solange Ostern das Auferstehungsfest bleibt, an dem alle Stämme und Stengel sich füllen mit frischem Lebenssaft und um die mit dem Karsamstagswasser geweihten Bächlein die ersten Blumen und Gräser sich wieder herauswagen. Die ernste Karwoche schließt den Winter nicht[65] nur für Mietsleute und Dienstboten, sondern auch für den Bauern, der sich am Ostertag, in dem er das Bild des Frühlings sieht, schon so in die mildere Jahreszeit hineindenkt, daß er, der Himmel und die Erde mögen aussehen, wie sie wollen, nun wieder zum erstenmal im leichten, buntfärbigen Sommerkleide zur Kirche geht.

Das müßte ein armes, recht unglückliches Menschenkind sein, das am lieben heiligen Osterfeste gar nichts Funkelnagelneues anzuziehen und gleichsam einzuweihen hätte. Es sehen daher nicht nur ernste Bauern, denen ein trüber Tag die erste und reinste Frühlingsfreude verderben würde, schon früh am Morgen besorgt zum Himmel auf, sondern auch junge, sonst sorglos lebende Mädchen, die denn doch ihren Festschmuck nicht gerne verderben möchten, beobachten ängstlich jedes Wölkchen droben am Himmel und finden es heute fast so unangenehm wie einen Schmutzfleck im neuen Festtagskleide. Schon in der wie gewichst glänzenden engfaltigen Juppe prangend, holen sie endlich auch die allerweißesten Strümpfe aus dem Kasten und öffnen die von Rosmarin duftende Schachtel, in der, von unzähligen Papierstreifen umwickelt, der neue goldgestickte Brustfleck mit dem von Glasperlen gefaßten Namenszuge liegt.

Endlich schimmert alles an seinem Orte, der glanzlederne Gürtel mit den drei silbernen Schnallen umfängt die schöne Gestalt und sucht ihre vollen Formen unter der etwas starren Juppe zu verbergen. Nun wär's doch wirklich jammerschade, wenn es regnen würde. Aber wer nichts wagt, gewinnt nichts. Ostern ist's nur einmal im Jahr, und übrigens kann man ja auch einen Regenschirm mitnehmen, der dann im schlimmsten Falle alles ein wenig schützt und doch – nicht alles verbirgt.

Noch ein Blick in den verstohlen gekauften kleinen Spiegel hinter den Kleidern im Kasten oder in das gegen die Wand geöffnete Kammerfenster, das weniger Verwöhnten als Spiegel schon manchmal dienen mußte; dann fort zur Nachbarin,[66] um doch auch noch geschwind zu sehen, was die heute wieder Neues hat.

Die überall beneidete, getadelte und bewunderte Susanna, des reichen Krämers verzogenes Töchterlein, hatte schon etliche Jahre hintereinander den Dorfbewohnerinnen am Osterfeste gezeigt, was für den kommenden Sommer Mode sein werde; doch einen so schönen Ostermorgen wie den heutigen hatte selbst sie noch niemals erlebt. Nicht einmal wecken mußte man sie heute. Die Magd hatte noch kaum ein Feuer, als sie schon zu ihr in die Küche kam und fragte, ob denn der Kaffee noch nicht bald fertig sei. Auf das »Na« der Köchin befahl sie dieser streng, sich einmal ein wenig zu tummeln, und doch mußte man ihr dann hernach dreimal rufen, bis sie endlich ihren wohlgefüllten Kleiderkasten verließ und in die Stube kam, wo der Krämer lächelnd auf sie wartete. Der Kaffee hätte spottschlecht sein können, ohne daß die sonst von der Magd so gefürchtete Feinschmeckerin es heute bemerkt haben würde.

Unter allen, welche fast ein Gefühl hatten, als ob eigentlich der Ostertag nur ihretwegen endlich gekommen sei, blieb wohl keine vor dem Kirchengehen so lange im Schlaf- und Ankleidezimmer wie die Zusel, was ihr auch vom Krämer durchaus nicht verargt wurde, da er ja wußte und oft schon mit unverkennbarem Behagen erzählte, daß die es mit Ankleiden überhaupt ungemein genau nehme. Es verlohne sich das aber bei ihr auch wie nur bei wenigen, fügte er dann nicht ohne Stolz bei, und seltsamerweise gab es nicht viele im Dorfe, die ihm solche Reden öffentlich verargten, eine Nachsicht, die er wohl mehr seiner wirklich schönen Tochter als eigenem Ansehen verdankte.

»Er ist eben ein Emporkömmling und hat es nun wie die hungrige Kuh, wenn sie in den Heustadel kommt.« Mit diesen Worten schlossen die meisten Erzählungen von dem stolzen Manne, dem seine frühere Armut und seine gemeine Verwandtschaft immer auf eine ihm freilich nicht erwünschte Weise zu seiner Entschuldigung angeführt wurde. Von ihm,[67] der noch immer für einen Auswärtigen galt, schien kein Mensch viel Gutes zu erwarten. Er konnte tun und reden, was er wollte, ohne jemals ernstlichen Tadel fürchten zu müssen. Der Jos hätte sich über diese Nachsicht nicht so ärgern, sie nicht Kriecherei vor dem Goldenen Kalbe nennen sollen, sondern nur Gleichgültigkeit gegen den Bruder der Schnepfauerin, den Fremden. Eine Zeitlang hatte man sich doch schon etwas mehr um ihn gekümmert. Das war damals gewesen, als er zuerst mit seinem kleinen Kram im Dorfe hausierte und einem der reichsten Mädchen derart den Kopf verdrehte, daß es ihn am Ende noch sogar heiraten mußte. Selbst noch hernach konnten sich viele nicht recht erklären, wie das zuging, obwohl es sechs Monate nach der Hochzeit die kleine Angelika ins Dorf hinaus zu schreien begann. Freilich war der Krämer ein merkwürdig durchtriebener Gesell und hatte als Hausierer so gut als einer jeden bei seiner Eigenheit zu fassen und seinem Zwecke zuzuleiten gelernt. Sein Ehrgefühl vermochte ihn nie zu beschränken; das schadete ihm in der öffentlichen Meinung trotz seines erworbenen Vermögens bei weitem mehr als seine später nach Au gekommene unglückliche Schwester, und es wäre wohl nicht nötig gewesen, der Gefallenen sein Haus zu verbieten, solange er auf Wucher auslieh, mit armen Witwen herzlos die unverschämtesten Nothändel machte und keinen Weg für zu schlecht hielt, wenn er darauf nur zu irgendeinem Vorteil kam. Nur noch lauter wurde freilich das Reden und Lachen über ihn wegen dem Lisabethle, und viele gönnten ihn jetzt als Strafe Gottes dem ehemals so eitlen Mädchen, das nur verächtlich aus seinem hochdachstuhligen Hause auf die wackersten Burschen des Dorfes herabgesehen hatte. Ihn ärgerte es schrecklich und machte ihn mit der Zeit trotzig, daß man ihn nie zu denen zählen wollte, neben welchen er doch im Steuerbuche stand. Aufgeben aber kann ein Mann mit eisernem Willen, der es schon so weit gebracht hat wie der Krämer, seinen Lieblingsplan nicht so leicht. Rom ist auch nicht an einem Tage gebaut worden. Der Boden war jetzt glücklich geschaffen zum Fundament,[68] und das weitere dachte Josef Anton seinen beiden hübschen Töchtern zu überlassen. Die mußten wohl kein Tröpflein von seinem Blut haben, wenn es ihnen nicht fast von selbst wie spielend gelang, auch alle die Türen aufzutun, die man ihm bisher stolz und trotzig vor der Nase zugeschlagen hatte. Mit der Angelika nun hatte dem Krämer seine Rechnung gänzlich gefehlt, und zwar gerade darum, weil die Stigerin fürchtete, daß sie nur zu viele Tropfen von seinem Blute, seiner Art habe. So entschieden war sie noch nie gegen Hansen aufgetreten, hatte es auch noch nie so lange und mit aller Kraft und List zu tun nötig gehabt, als da es eine Neigung im Herzen des Sohnes zu bekämpfen galt, die ein so gemeiner Verwandtschaft entstammendes Mädchen mit Gewalt zu ihrer Schwiegertochter machen wollte. Als Hans endlich der Mutter nachgab, kam die gute Angelika in ein böses Gerede, wie das fast jedem Mädchen geht, wenn es einen Liebhaber verliert, den ihm viele längst mißgönnten, ohne dieses Gefühl auch nur durch ein Wort verraten zu dürfen.

Dem Krämer, der wohl wußte, daß der Spott umsonst kommt, wenn man den Schaden hat, machte das weit weniger Kopfweh, als es wohl seinem seligen Weibe gemacht hätte. Ihr war Angelika immer lieber gewesen als dem Krämer, welcher behauptete, daß sie gar nicht seine Art habe. Als dann sein Weib starb, indem sie der Zusel das Leben gab, wurde Angelika, damals sechs Jahre alt, zu einer Verwandten der Mutter gebracht, die Gott von Herzen dankte, daß wenigstens ein Kind ihrer unglücklichen Base nun doch noch ordentlich erzogen werden könne. Der Krämer gönnte ihr diese Freude von Herzen und nahm sich der Zusel um so mehr an, die viel von seiner Art hatte und aus der er nun etwas Rechtes machen wollte. Zuweilen redete er wohl davon, auch die Angelika wieder heimzunehmen, aber neben dem ernsten Wesen war ihm nie recht wohl, und so kam er denn auch nie dazu, obwohl ihm ihre Erzieherin gar nichts recht machte, als da sie ihr Verhältnis mit dem Stighans auf jede Weise begünstigte und mit allen Kräften vorwärts half. Aber als dann der Base[69] doch ihre Rechnung fehlte, empfand er etwas wie Schadenfreude und meinte, zum lieben Glück sei denn auch noch eine Zusel da, die schon fangen werde, was der Angelika entronnen sei. Angelikas mütterliche Verwandte nahmen die Sache viel weniger leicht. Sie hielten es für höchst nötig, die von Hansen, wenn auch wider Willen, so vielen Redereien preisgegebene Base sofort zu verheiraten, um dem Geschwätz für immer ein Ende zu machen, bevor sie bei keinem reichen Burschen mehr etwas gelte.

Zum lieben Glück erklärte sich der Andreas, ein wohlhabender Bursche, sogleich bereit, durch die Tat zu beweisen, daß Angelika schon noch einen rechten Burschen bekomme, wenn auch der Hans zurückgetreten sei. Dem Mädchen war er so recht oder unrecht als außer Stighansen fast jeder andere. Sein Leichtsinn machte ihr wenig Sorge, obwohl sie die Hoffnung der Basen, daß sie ihn leicht bekehre, nicht zu teilen vermochte. Sie wollte nun einmal aus dem Gerede heraus und lieber einen Gebieter als zwanzig Gebieterinnen. War er verschwenderisch, wie man sagte, so brauchte sie nicht zu zittern, wenn sie einen alten Topf zerbrach, und sein Leichtsinn ließ sie wohl einmal frei atmen, wenn auch sie ihm das Leben nicht allzuschwer machte. Sie hatte es also immerhin besser als bisher. Der Krämer sprach es offen aus, daß er mit diesem Töchtermann durchaus nicht zufrieden sei; doch ließ er sich die Leute darüber streiten, ob diese Abneigung mehr dem zügellosen Leichtsinn oder der Starrköpfigkeit des Töchtermanns gelte. Andreas selbst kümmerte sich darum nicht viel, nur das verletzte ihn, daß der Krämer die wegen Verwandtschaft eingeholte kirchliche Dispens nicht bezahlen wollte, sondern trotzig sagte, er würde die hundert Gulden lieber geben, wenn er von dieser Verwandtschaft loskommen könne, als dafür, daß nun sein Kind sich wieder darin verheirate. Diese Rede verzieh Andreas dem Krämer nie, und selbst Angelika empfand sie wie eine Beleidigung ihrer lieben seligen Mutter. So kam es, daß Andreas und sein junges Weib nicht viel mit dem Krämer zu tun hatten. Dieser dagegen[70] wendete nur noch mehr all seine Liebe und Sorgfalt der damals dreizehnjährigen Zusel zu, oder – um mit den Nachbarn zu reden – er verzog und verdarb sie, daß man oft zuerst ihm und dann ihr mit der Rute hätte nachlaufen mögen.

Der Ostertag war daher auch für ihn ein wahrer Festtag, wie er noch selten einen erlebt hatte. Mit der Auswahl der Stoffe zu neuen Kleidern hatte er es noch viel strenger genommen als selbst Zusel, welche zu oberflächlich war, um sich schon jetzt so ängstlich mit der Sache zu beschäftigen. Der Krämer jedoch wußte aus Erfahrung nur zu gut, daß man schließlich böse Stunden erlebe, wenn etwas nicht recht paßte und allen Anforderungen entspräche. Redlich hatte er das Seine getan bei der Auswahl und dann der Nähterin wenigstens eine Viertelstunde lang vorgepredigt; drum konnte er jetzt auch mit ruhigem Gewissen seines Lieblings Rückkehr aus dem Ankleidezimmer erwarten. Die Geduld aber wär' ihm beinahe ausgegangen, bis sich endlich die Stubentüre auftat und ihn die hohe, im Festschmuck strahlende Gestalt seines wirklich wunderlieblichen Kindes mit dem etwas herausfordernd aufgeworfenen Blondköpfchen sehen ließ.

»Nun, wie gefall' ich dir jetzt?« fragte sie mit einem Blicke, daß der Krämer – Stighansen an seinen Platz gewünscht hätte. Ja, sie war schön mit dem lachenden Blick und dem selbstsicheren Trotz, der bei jeder Frage um den kleinen Mund zu spielen schien. Die Leute nannten sie Angelikas treues Ebenbild, der Krämer jedoch fand sie viel, viel schöner. Angelikas ernster Blick machte einem ganz angst. Sie tat oft, als ob sie die Mutter Gottes zu spielen hätte; neben der Zusel aber wurde einem wohl. Die war doch eher ein Mädchen für den etwas unbeholfenen, allzu gewissenhaften Hans. Die sollte der Gemeinde beweisen, daß es früher nicht nur am Ansehen seiner Verwandtschaft fehlte und daß seine Mädchen sich wenigstens durch ihre Erziehung sehr unähnlich geworden seien.

»Nun, wie gefall' ich dir?« fragte das Mädchen abermals, und ohne den Krämer zu einer Antwort kommen zu lassen, eilte[71] sie hinaus auf die Gasse, wo man frohe Mädchenstimmen hörte.

»Es ist doch ein prächtiges Ding«, sagte er, der Forteilenden langsam folgend. »Lustig wie ein Vogel und stolz. Das ist recht. Besser noch freilich wär's gewesen, wenn sie diesen Stolz schon vor drei Jahren gehabt hätte ... Nun – eine Dummheit kann man ihr schon verzeihen, besonders eine, die ihr jetzt nichts mehr schaden wird.«

In der Kirche wird Zusel sich wohl über die Auferstehung des Herrn gefreut haben, wie der Pfarrer das in der Predigt von jedem Christen erwartete, heim aber kam sie nach dem Gottesdienst in der allerübelsten Stimmung. Die ihr entgegeneilende Katze, die plötzlich zischend unter den Kachelofen sprang, mußte das eher bemerkt haben als die Magd, die ihren Bericht über das Aufsehen, welches Zusel heute gemacht habe, nicht eher endete, als da eine Stimme, wie sie dem hübschen Mädchen unmöglich anzugehören schien, ihr zu schweigen und lieber an das Mittagessen zu denken befahl. Der Vater fand sein Kind auf dem Kanapee, wo es das verweinte Gesichtchen in die Kissen vergrub.

»Nun?« fragte er nach einer Weile erstaunt.

»Nun«, fuhr das Mädchen auf, »jetzt können wieder einmal alle lachen über mich, bis sie genug haben.«

»Das hab' ich durchaus nicht bemerkt«, tröstete der Krämer.

»Übrigens hat es schon von je geheißen: Neid bringt Glück.«

»Dann müßt' ich viel Glück haben, und ich wollte das, nur damit sie dann fast vergehen täten vor Neid.«

»Was hat's denn gegeben?«

»Aber, Vater, wo bist du denn ins Haus hereingekommen?«

»Natürlich durch die Tür. Warum?«

»Dann mußt du auch gesehen haben, daß gleich nach dem Gottesdienst – oder wohl auch unter der Messe – die Leute nehmen es nicht so genau ...« Das Mädchen verbarg sein glühendes Gesicht wieder tief in die Kissen.[72]

»Eierschalen für den Biggel gestreut worden sind«, ergänzte der Krämer ruhig, und auf seinem Gesicht erschien wieder das frühere Lächeln.

»Ja«, sagte Zusel, sich wieder aufrichtend. Sie mußte den Vater ernstlich drum ansehen, daß er das so heiter sagen konnte, als ob es ein fröhliches Ereignis wäre. »Und weißt du auch, von wem?« fragte der Krämer.

»Nun, von einem altmodischen Tropf. Ein paar Neidhämmel werden das angerichtet haben.«

»Nein«, widersprach der Vater. »Diesen Possen hat dir einer gespielt, daß du dich mit mir darüber freuen kannst.«

»Wer?«

»Stighans«, antwortete der Krämer mit einer Feierlichkeit, die deutlich genug sagte, für wie wichtig er diese Mitteilung halte. »Der?« fuhr Zusel auf, »also eigentlich die alte Stigerin, der er folgen muß wie ein Schulbub. Was hat denn die gegen mich? Soll ich auch noch dafür büßen, daß ihr dickköpfiger Hans der Angelika zuweilen ein gutes Wort gönnte?«

»Die Alte hat nichts gegen dich, und der gute Hans hat nur einen Spaß machen wollen, den du ihm ganz anders, viel besser auslegen solltest.«

Zusel war durchaus nicht überzeugt, aber sie schämte sich ihrer Aufregung, und indem sie sich mit Gewalt zur Ruhe zwang, sagte sie, das würde die Stigerin wieder ganz rasend machen.

»Die hat jetzt nichts mehr gegen uns«, versicherte der Krämer. »Hätt' auch keine Ursache mehr dazu. Wie kommst du schon darauf, daß Hans so etwas zu tun imstande gewesen sei?«

»Der Hans ist nicht so übel. Sein bisheriger Knecht, von dem ich manches aus dem Hause erfuhr, hat mir oft gesagt, er wäre gar nicht so einfältig, als er aussähe, und mit keinem Menschen wäre besser auszukommen als mit ihm.«

»Aber der Knecht ist schon vor einigen Tagen fort und hat nicht mehr sagen können, daß ...«[73]

»Ich hab' aber die Schalen gestern abend selbst in seinem Hut auf einem Balken der Brücke gesehen.«

»Und dann wird er dir gesagt haben, die seien für mich?«

»Du einfältiges Mädchen! Das ist gar nicht nötig für mich. Welche von allen andern wäre denn, daß man ihretwegen dem Hans etwas derartiges zumuten sollte?«

»Und ich möchte fragen: Welche von allen wär' ihm nicht gut genug? Wie eine aussieht, wird ihn wenig kümmern, und Geld hat er selbst, und für eine Magd könnte die Alte mich nicht brauchen. Wie sollte er da an mich denken, und warum müßte ich mich noch gar freuen, wenn dieses Wunder wirklich geschähe?«

»Zusel«, sprach der Vater streng, »deinen Stolz hab' ich dir nicht wie die andern verargt, diese Demut aber ist zu groß. Jetzt gefällst du mir so wenig als den anderen. Ist das eine Rede für dich?«

»Aber wär' es stolzer und großartiger, wenn ich mich über so eines Hansen Gunst gleich einem armen Bettler freute? Wünschtest du mich so ähnlich jeder anderen, der die Sorge für die Zukunft auf dem Halse liegt? Wenn ich der Magd einmal irgendwo helfe oder sobald ich sonst einmal versuchen will, was ich könnte, so heißt es gleich, ich solle nur alles sein lassen. Dann sagst du mir, du hättest dir eben darum Tag und Nacht keine Ruhe gegönnt, daß ich es um so ruhiger bekäme. Ich bin dir denn auch dankbar, daß du mir eine so schöne Zukunft schaffen wolltest. So hab' ich denken gelernt. Du sagst mir immer, ich brauche mich um niemand zu kümmern. Gut, also auch um Stighansen nicht, und selbst wenn sein Anwesen noch einmal so groß wäre.«

Zusel stand auf, stellte sich kerzengerade vor den erstaunten Krämer hin und fuhr mit immer wachsender Leidenschaftlichkeit fort: »Mein Stolz ist nicht, hoch droben just neben dem oder dem zu sitzen, wenn mir das nicht nach meinem Kopf ist. Was hätte ich dir zu danken, als daß du es mir möglich machtest, fröhlich zu leben, ohne daß ich mich um jemand etwas kümmern muß?«[74]

So hatte der Krämer seine Zusel noch nie gehört. Unfähig, seinen Ärger noch länger zu verbergen, wollte er jetzt das Kind von seiner stolzen Höhe bringen. Mehr nur, um sie zu bestrafen, als aus Berechnung sagte er so ruhig, als es ihm in diesem Augenblicke möglich war: »Ich weiß nicht, wie lang es her ist, seit du dich um keinen Menschen kümmerst, doch immer kann das nicht der Fall gewesen sein, wie trotzig du auch jetzt das Köpfchen aufrichten magst. Damals, als der Hansjörg zuerst bei den Soldaten war, hast du ihm noch geschrieben, daß du es ohne ihn hier beinahe gar nicht aushalten könntest.«

Das Mädchen sank wie vernichtet aufs Kanapee zurück. Als nun der Krämer, seine Rede beinahe bereuend, seufzend mit der Hand sich über die faltenreiche Stirne fuhr, sagte sie: »Ja, Vater, das und ähnliches hab' ich ihm geschrieben. Ich schäme mich auch gar nicht, das zu gestehen, obwohl ich's jetzt nicht mehr tun würde. Er war ein stolzer Bursche, der nicht immer rechnete, sondern herzhaft zugriff und alles dransetzte, wenn er einmal etwas erreichen wollte. Du wirst mich nicht kleiner, schlechter sehen wollen, Vater, als der Hansjörg ist?«

»Gelt, von dem hätte dich der Spaß mit den Eierschalen schon besser gefreut als vom Stighans?«

»Ich glaube, ja.«

»Nun, da könnte der Hansjörg sich freuen«, lachte der Krämer bitter und fuhr dann nach einigem Besinnen, gleichsam jedes Wort abwägend und zuspitzend, fort: »Es ist nur jammerschade, ja fast zum Verzweifeln, daß er dein Vertrauen, deine bewundernswerte Treue, von der man eine Geschichte in den Kalender machen könnte, so ganz und gar nicht zu schätzen weiß. Aber fragst du denn nicht, wie ich etwas von jenem Brief erfuhr?«

»Du hast ja überall deine Berichtmacher und Horcher, als ob du alles am Fädchen ziehen müßtest. Da geht es ja zu wie im Räderwerk der Kirchenuhr.«

»Von dem Briefe«, sagte der Krämer mit Nachdruck, »weiß ich nur durch Hansjörg selbst. Von dem Briefe und von noch[75] einigen, verstanden! Später jedoch scheinen sie seltener geworden zu sein, diese verliebten Zettelchen, oder sie müssen ihn sonst minder gefreut haben, kurz, er mochte sie nicht länger aufbewahren. In einem Schreiben, über das man sich so seine Gedanken machen könnte, fragt er mich ohne viele Umschweife, ob er deine Briefe seinem Vater, also dem schwatzhaften Mathisle, zuschicken soll oder ob ich ihm zehn Taler dafür geben würde. Du kannst dir denken, was ich tat. Wahrhaftig, ich hätte dem Spitzbuben auch zehn Goldstücke dafür gegeben, doch scheint er sie eben nicht so hoch geschätzt zu haben.«

Wenn der Krämer mit den letzten Worten Zusels Herz noch schmerzlicher treffen, noch schwerer belasten wollte, um jede darin etwa noch lebende Neigung zu erdrücken, so schien er seinen Zweck nicht zu erreichen. Das Mädchen wurde um nichts bleicher und regte kein Glied. Wie erstarrt saß es da und starrte ins Leere. Dem Krämer wurde siedend heiß. Er bereute von Herzen, so der Leidenschaftlichkeit nachgegeben zu haben. Das war dem wohlberechnenden Manne wohl noch selten begegnet. Eben nur, wenn er, statt zu berechnen, empfand, wenn er liebte. Daß das aber seinem hübschen Kinde gegenüber der Fall war, hörte man sogar aus dem Klange der Worte heraus, mit denen er die Erstarrte wieder zu beleben und aufzurichten suchte. »Gott Lob und Dank«, hauchte er unwillkürlich, als sie die noch umflorten Augen wieder auf ihn richtete und die Lippen zu bewegen begann.

»Gelt, Vater, ich hab' geträumt!« fragte sie kaum hörbar.

»Du bist nicht mehr recht bei dir selbst gewesen.«

»Ja, gelt, Vater, und du hast nichts von ihm – dem Hansjörg gesagt?«

»Wenn ich nur nichts gesagt hätte.«

»Es ist also nicht wahr?«

»Oh, wie wollt' ich das jetzt so gern, ich gäb' wahrhaftig viel drum, wenn ich es widerrufen könnte.«

Zusel, die sich schon wieder einigermaßen gefaßt hatte, fragte[76] mit tonloser Stimme: »Warum hast du mir denn früher nie etwas davon gesagt?«

»Nur in meinem dummen Zorn konnte ich dir weh machen mit der erbärmlichen Geschichte«, sagte der Krämer und verließ das Mädchen, welches wie vernichtet aufs Kanapee zurücksank.

Er konnte sein Kind so nicht sehen. Das hatte er angerichtet, und nun fand er kein Wort mehr, das die so schmerzlich Getroffene auch nur ein wenig wieder aufzurichten vermochte. Wohl sagte er sich, daß er länger als ein Jahr schwieg, obwohl er wußte, daß mit der heute gemachten Mitteilung die noch immer vorhandenen Spuren einer ihm so verhaßten Neigung verwischt werden konnten. Ja, das war seine Verteidigung gegen die Vorwürfe des Herzens, aber sie half ihm nichts. Es trieb ihn zuerst fort von ihr und dann wieder vor die Türe ihres Zimmers zurück. Er fand diese verschlossen. Lange blieb er horchend stehen, aber er hörte nichts, nicht einmal ein leises Schluchzen. Des Mädchens Schmerz hatte keine Träne mehr. Regungslos lag es noch, wie der Krämer es hinsinken sah, und verbarg das Gesicht in den weichen Kissen. Oh, die Arme hätte versinken, hätte die draußen hoch aufragenden Berge über sich herstürzen sehen mögen vor Zorn und Scham. Zuerst schien es ihr auch, als ob wirklich etwas Unerhörtes geschehen werde. Alles drehte sich um sie herum; das Zwitschern der Vögel wurde ein furchtbares Hohngelächter, die Ach rauschte immer näher, immer lauter, und bald mußte sie da, unter dem Haus, hier im Zimmer sein und Kühle und Erlösung bringen. Dann aber auf einmal ward es so still, daß sie das Klopfen ihrer Pulse hörte. Der Klang der bekannten Hausglocke, die sie sonst aus dem tiefsten Schlaf geweckt hatte, ließ sie regungslos liegen. Sie kümmerte sich jetzt nicht mehr um den Laden, und es kam ihr wunderbar vor, daß der Vater so rasch wie gewöhnlich die Stiege hinuntergehen und jemandem Rauchtabak geben konnte. War es möglich, daß der jetzt da unten wieder plaudern und handeln konnte, als ob gar nichts vorgefallen sei! Dazu gehörte[77] ein recht herzloser Mensch – und doch noch kein so herzloser, wie der war, den sie bisher so hoch schätzte und der nun ihr teuerstes Geheimnis um einige Gulden verkauft hatte. Ha! Schon früher war das geschehen, und sie hatte noch heute an ihn gedacht und gewünscht, daß er sie sehen, sie wieder einmal mit ihm sprechen könnte. Lange Zeit sann sie und litt, ohne daß auch nur das leiseste Zucken ihren furchtbaren Schmerz verraten hätte. Dann aber schrie sie plötzlich: »O Welt, o du Welt!« Und dann, als ob sie alle Kraft verlasse, sank sie mit dem Seufzer: »Das wäre nun mein Ostertag!« wieder in die Kissen zurück.

Erst gegen Abend ließ sie den Krämer zu sich ins Zimmer, welches er und die Magd am Nachmittage mehrmals vergeblich zu öffnen versuchten. Er erschrak über ihr Aussehen, doch hatte er sich wieder so gefaßt, daß er ihr nicht lange wortlos gegenüberstand. »Es ist nun einmal so«, sagte er. »Ich bedaure dich, wenn dieser dein Kummer auch nur aus deinem Eigensinn entstand. Ich glaubte, du würdest den Nichtsnutz endlich vergessen haben.«

»Das kann ich nie – nie!«

»Aber jetzt doch?«

»Jetzt – oh, wie schäm' ich mich. Ich darf nicht daran denken, wie mir noch gestern wohl war, wenn ich an ihn dachte. Ach, wenn er in unser langweiliges Haus kam, dann war's, wie wenn man frische, duftende Blumen in ein Krankenzimmer bringt und dem Vogelsang die Fenster öffnet und dem frischen Luftzug. Und nun! – Ich sehe mich unterhöhlt, ich bin aufs Eis gekommen; drei ganze Jahre ging ich vorwärts, weit, weit hinaus ... und nun bricht alles unter mir zusammen. Hu, mir ist's, als ob ich's krachen hörte.«

»Ah, das sind Dummheiten.«

»Ja, Vater, du hast recht. Ich hab's nicht mehr gehörig im Kopf, das merk' ich nur zu gut. Ich weiß mir nicht mehr zu raten und zu helfen. Nimm mich, du starker, du kluger Mann, und verkaufe mich oder mache mit mir, was du willst.«

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 65-78.
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