Zweites Kapitel
Ein Selbstgespräch Hartfrees voll jämmerlicher Ideen, worin auch nicht eine Silbe von Größe vorkommt.

[91] Als er nun allein war, saß er erst einige Minuten schweigend da, dann brach er in das nachstehende Selbstgespräch aus:

»Was soll ich tun? Soll ich mich der mutlosen Verzweiflung überlassen oder wohl gar dem Himmel trotzen? Wahrhaftig, beides schickt sich nicht für einen Weisen; denn was kann törichter sein, als über mein Elend zu jammern, wenn es nicht abzuändern ist, oder, wenn ich noch nicht alle Hoffnung aufgeben darf, das Wesen zu beleidigen, das mich allein wieder emporbringen kann? Doch – hängen meine Empfindungen von mir selbst ab? Stehen sie so unter meiner Gewalt, daß ich gebieten kann; nur so weit soll mein Schmerz gehen? Nein, wahrhaftig nicht. Mögen wir uns noch so viel auf unsere Vernunft zugute tun, sie hat nicht so viel Herrschaft über uns, daß sie die Stimme der Natur und des Schmerzes im ersten Augenblick zum Stillschweigen bringen kann. Was haben wir denn für Nutzen von ihr? Sie ist entweder ein leeres Wort, und wir täuschen uns, wenn wir Vernunft bei uns annehmen, oder sie ist uns vom allweisen Schöpfer zu irgendeinem Endzweck gegeben.[91] Ist dies der Fall, so muß es ihr Geschäft sein, den Wert der Dinge richtig abzuwägen und uns zu der Weisheit zu leiten, die jedem Gute seinen verhältnismäßigen Wert beilegt und uns verbietet, was wir hoffen, besitzen oder verlieren, zu hoch oder zu gering zu schätzen. Unsere Vernunft sagt uns nicht auf eine törichte Weise: freue dich nicht, betrübe dich nicht, das hieße den reißenden Strom in seinem Laufe aufhalten und dem rasenden Winde zu blasen verbieten. Sie befiehlt uns bloß, nicht wie Kinder zu frohlocken, wenn uns ein Spielzeug geschenkt wird, oder in Tränen zu zerfließen, wenn wir es wieder verlieren. Gesetzt nun: ich bin um alle Freuden dieser Welt gekommen, gesetzt: alle meine Aussichten auf eine glückliche Zukunft sind mir versperrt – was für einen Trost kann mir die Vernunft da gewähren? Zeigen kann sie mir, daß ich meine Liebe an Armseligkeiten verschwendet habe: daß der Gegenstand meines Verlangens von keinem Weisen weder ungestüm begehrt, noch untröstlich beweint werden müsse. Denn gibt es nicht Spielzeuge für jedes Alter? Spielzeuge von der Kinderklapper bis zum Throne? (Der Thron ist wohl eigentlich seiner Bestimmung nach keine Kinderklapper – aber wie viele Fürsten gibt es, die ihn nicht für eine Kinderklapper ansehen?) Und in den Augen ihrer Besitzer haben alle diese Dinge gleichen Wert: denn wie das Ohr des Kindes sich an der Klapper ergötzt, so ergötzt sich das Ohr des Monarchen an dem süßen Ton der Schmeichelei. Letzterer dringt ebensowenig in das Wesen und den Ursprung seines Vergnügens, als das erstere: täten sie das – müßten sie beide den Gegenstand ihrer Wünsche verächtlich finden. Und wahrhaftig, sehen wir diese Dinge von der ernsthaftesten Seite an, vergleichen wir sie miteinander, so werden wir bemerken, daß all der Prunk, all die Vergnügungen, wonach der Mensch strebt und ringt und die er oft durch so viele Gefahren und Gewalttätigkeiten erkaufen muß, nicht mehr oder weniger armselig sind, als das Spielwerk, das man in einem Galanterieladen zum Verkauf ausbietet. Wie oft habe ich nicht meine kleine Tochter einen Hampelmann mit gierigen Blicken betrachten sehen; was für Bitten, was für Liebkosungen hat sie nicht verschwendet, bis ich mich überreden ließ, ihr das Dingelchen zu kaufen; welch eine Freude glänzte in ihrem Gesicht, wenn ich es ihr hingab; mit welch einem Entzücken nahm sie es nicht in Besitz! Und wie wenig befriedigte es ihre Wünsche, wie viel Mühe kostete es ihr nicht, ihm wieder Geschmack abzugewinnen. Sein Putz mußte verändert werden, der Flitter, der zuerst ihr Auge fesselte, zieht sie nicht mehr an; vergebens bemüht sie sich, es zum Stehen und Gehen zu bringen, es sieht sich sogar genötigt, es mit[92] Worten zu unterhalten. Binnen zwölf Stunden liegt es im Winkel, und ein anderes, vielleicht weniger kostbares Spielzeug muß seinen Platz einnehmen. Wie gleicht der Zustand dieses Kindes doch dem Zustande eines jeden erwachsenen Menschen; welchen Schwierigkeiten muß er sich unterziehen, um seine Wünsche erfüllt zu sehn! Und wie bald wird er der Genüsse satt, die ihm dauerhaftes Vergnügen zu versprechen schienen! Die Ergötzlichkeiten der meisten Menschen sind ebenso kindisch, wie die Spiele meines kleinen Mädchens; eine Feder, eine Fiedel ist der Gegenstand ihrer Wünsche bis zu den reifen Jahren, wenn man anders behaupten kann, daß diese Menschen je zu reifem Alter gelangen. Aber werfen wir einen Blick auf diejenigen, deren Verstand erhabener und verfeinerter ist: wie bald finden sie die Welt und alle Genüsse derselben ihrer Mühe und ihres Strebens unwürdig! Wie bald ziehen sie sich in Einsamkeit und Ruhe zurück, beschäftigen sich mit dem Gartenbau, mit Pflanzen und solchen ländlichen Ergötzlichkeiten, genießen mit den selbstgezogenen Bäumen eine Luft und eine Sonne und vegetieren mit ihnen um die Wette. Gesetzt aber, es ließe sich in allen diesen Glücksgütern auch wesentlicher, echter Genuß ausfinden: würde nicht schon allein die Ungewißheit, mit der wir sie besitzen, ihren Wert herabsetzen? Welch ein erbärmlicher Zustand, von einem Gute abzuhängen, das uns Zufall, Gewalt und List mit jedem Tage entreißen kann und oft um so eher entreißen wird, je fester unser Herz an ihm hängt! Heißt das nicht unsere Liebe auf eine Wasserblase oder auf ein gemaltes Luftbild werfen? Nur ein Tor wird sein Haus oder einen schönen Garten auf ein Stück Land bauen, dessen Besitz ihm so ungewiß und prekär ist. Aber gesetzt, das Glück erteilte uns auch den Besitz aller dieser Dinge auf Lebenszeit: wie wenig kommt selbst dies in Betracht! Angenommen, daß alle diese Annehmlichkeiten uns gar nicht können entrissen werden, so ist doch nichts gewisser, als daß wir ihnen entrissen werden müssen! Vielleicht schon morgen, oder wohl gar noch früher. Denn wie der vortreffliche Dichter sagt: ›Wo ist morgen? In der andern Welt. Für Tausende ist dies gewiß, das Gegenteil ist es für niemand.‹ Aber wenn mir in dieser Welt nichts mehr zu hoffen bleibt, ist es darum aus mit meinen Hoffnungen? Wahrhaftig, jene dienstfertigen Schriftsteller, die sich so viele Mühe gegeben haben, den Beweisen für ein künftiges Leben ihre Kraft zu nehmen, haben uns doch wenigstens die Hoffnung dazu nicht rauben können. Die immer wirksame Selbstliebe, die uns unaufhörlich durch Schwierigkeiten und Mühseligkeiten jagt, wenn wir uns nur mit der entferntesten Aussicht auf ein Glück schmeicheln können,[93] läßt uns auch sehnsuchtsvoll nach jenen schönen Wohnungen hinblicken, die doch immer, man mag sie für so chimärisch ausschreien wie man will, das Schönste sind, was sich die menschliche Einbildungskraft denken kann; zudem hat die rechte Straße zu diesen Wohnungen der Dornen und Disteln so wenig und es reist sich so bequem darauf, daß man sie mit Recht die Straße des Vergnügens und den Weg des Friedens nennen kann. Haben die Beweise für das Christentum so viel Grund, wie sie mir zu haben scheinen, so kann man sich aus dieser Quelle schon Trost genug schöpfen, um sich im größten Elende aufrecht zu erhalten. Das wenigstens sagt mir meine Vernunft: wenn die Verteidiger des Unglaubens recht haben, so lohnt es sich nicht der Mühe, über den Verlust zu weinen, den man durch den Tod leidet; aber – haben sie unrecht, wie es mir sehr wahrscheinlich dünkte, so kann man das Glück, das der Tod uns bringt, nicht eifrig und feurig genug begehren.

Für mich habe ich also nicht Ursache zu klagen – aber für meine Kinder. Doch: eben das Wesen, in dessen Hand meine Glückseligkeit steht, wird ja auch imstande sein, wird ja auch den Willen haben, für sie zu sorgen. Gleichviel welch einen Stand, welch eine Lebensart es ihnen anweist, ob sie sich ihr Brot durch ihrer Hände Arbeit verdienen müssen, oder ob andere es ihnen im Schweiße ihres Angesichts erwerben. Überlegen wir alles mit gehöriger Aufmerksamkeit und gehen dabei ohne Vorurteil zu Werke, so ist der erstere Weg, durch die Welt zu kommen, bei weitem der süßeste. Der Bauer ist vielleicht glücklicher als sein Herr; denn hat er nicht weniger Begierden, weniger zu fürchten und mehr zu hoffen, als dieser? Ich will mein Äußerstes tun, den Grund zum Glücke meiner Kinder zu legen, ich will sie ihrem Stande und ihrer Lage gemäß erziehen und für alles übrige das Wesen sorgen lassen, das noch keinen in der Not verlassen hat.«

So armselig räsonierte dieser jämmerliche Mensch, bis er sich in einen Enthusiasmus gesetzt hatte, der ihn für Schmerz und Leiden unverwundbar machte. Als daher Herr Snap ihm die Nachricht gab, er müsse ihn nach Newgate bringen, so nahm er diese Botschaft mit eben der Gleichgültigkeit auf, als weiland Sokrates die Nachricht, daß er sich zum Tode bereiten müsse.[94]

Quelle:
-, S. 91-95.
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