Erstes Kapitel
Ein Spruch des Pfarrers von Newgate, wert, in Gold graviert zu werden. Neuer Beweis von Freindlys Narrheit, nebst einem schrecklichen Unfall, der unsern Helden ereilt.

[129] Hartfree war noch nicht lange in Newgate gewesen, als seine beständige Unterhaltung mit seinen Kindern und andere Zeichen eines guten Herzens, die sich in jeder seiner Handlungen verrieten, jedermann auf die Meinung brachten, er müßte einer der einfältigsten Tröpfe von der Welt sein. Selbst der Pfarrer, ein sehr ehrenwerter Mann, erklärte ihn für einen verdammten Schurken.

Zu dieser Beschuldigung hatte Hartfree indessen selbst die Veranlassung gegeben, weil er eines Tages in Gegenwart Seiner Wohlehrwürden die gottlose Meinung äußerte, daß ein rechtschaffener Türke auch wohl selig werden könne. Der gute fromme Mann beantwortete dies mit gehörigem Eifer und Unwillen und sagte: »Was aus einem Türken werden mag, weiß ich nicht; aber ist dies Ihre Meinung, so erkläre ich geradeheraus, daß Sie nicht selig werden können. Weit gefehlt, daß ein aufrichtiger Türke ins Himmelreich kommen kann; das kann nicht einmal ein Presbyterianer, Anabaptist oder ein Quäker.«

Aber selbst dieser Ausspruch Seiner Wohlehrwürden konnte Freindly nicht bewegen, seinen alten Herrn zu verlassen. Er brachte seine ganze Zeit bei ihm zu, außer, wenn er ihn in seinen eigenen Geschäften verließ, etwa um ihm einen Zeugen zu seinem Verhör aufzutreiben, das immer näher heranrückte. Dieser junge Mann war außer einem guten Gewissen und den Hoffnungen jenseits des Grabes der einzige Trost, der unserm Helden übrig blieb; denn der Anblick seiner Kinder diente nur, seinen Schmerz zu erhöhen und zu verstärken.

Eines Tages war Freindly dabei, als Hartfree seine älteste Tochter mit weinenden Augen umarmte; und über die unglückliche Lage jammerte, worin er sie zurücklassen mußte; da sprach er so zu[129] ihm: »Schon längst habe ich die Seelengröße bewundert, womit Sie alle Ihre Leiden ertragen, und die Gleichmütigkeit, mit der Sie dem Tode entgegengehen. Ich habe bemerkt, daß Ihr einziger Schmerz aus dem Gedanken entsteht, Sie müssen sich von Ihren Kindern trennen und sie in einer traurigen Lage zurücklassen. Seien Sie versichert, daß mich nichts empfindlicher rühren kann, als Ihr Kummer, und daß ich kein seligeres Vergnügen kenne, als einem so guten Herrn die Last abzunehmen, die ihn am meisten drückt. Darum verlassen Sie sich auf mich: ich will mein Vermögen, das, wie Sie wissen, nicht ganz unbeträchtlich ist, einzig und allein zur Unterstützung Ihrer kleinen Familie anwenden. Ich will der Vater Ihrer Kinder sein, wenn Ihnen das Schlimmste widerfahren sollte; so viel nur in meinen Kräften steht, sollen Ihre Kleinen wahrhaftig keine Not leiden. Für Ihre jüngste Tochter will ich anderweitig Sorge tragen, und Ihre älteste, meine kleine Schwätzerin hier, will ich mir von Ihnen zur Frau ausbitten und sie nimmer verlassen.« Hartfree flog auf ihn zu und umarmte ihn mit allen Äußerungen der wärmsten Dankbarkeit. Er sagte ihm, nun sei er ganz ruhig, bis auf einen quälenden Gedanken, den er nicht loswerden könne. »O Freindly«, rief er, »dies ist der Gedanke an das beste Weib unter der Sonne; o wie hasse ich mich selbst, daß ich nur den Schatten eines Verdachtes auf sie habe werfen können! Du hast ihre Güte, ihre Menschenfreundlichkeit gekannt, aber ihren Charakter nur Gott und ich. Sie besaß jede Vollkommenheit ihres Geschlechts, besaß sie alle im höchsten Maße. Kann ich den Verlust eines solchen Weibes ertragen? Kann ich mich mit dem Gedanken an all das Elend aussöhnen, das sie vielleicht durch den Verräter dulden muß, der sie aus meinen Armen riß? Ach, vielleicht ist der Tod noch bei weitem nicht das Schrecklichste –« Hier unterbrach ihn Freindly und bemühte sich, ihm Trost einzusprechen, indem er ihn auf jeden Umstand aufmerksam machte, aus welchem sich nur irgend etwas hoffen ließ.

Durch dies Betragen, durch solche Äußerungen von Freundschaft erwarb sich der junge Mann sehr bald einen ebenso verächtlichen Charakter wie sein Herr, im ganzen Gefängnisse waren sie beide das beständige Ziel des Spottes und des Gelächters.

Jetzt kam die Zeit der Sitzungen in Oldbaily heran. Am zweiten Tage dieser Sitzungen ward Hartfree verhört; und weil alle Umstände die Aussage Firebloods und Wilds, der den größten Widerwillen äußerte, gegen seinen alten Freund als Zeugen aufzutreten, bestärkten, erklärten die Geschworenen unseren Hartfree für schuldig.[130]

Wild hatte nun seinen Plan ausgeführt; denn was noch zur Vollkommenheit desselben fehlte, war für Hartfree unvermeidlich, weil er ohne Kredit bei Hofe und eines Verbrechens überwiesen war, das durchaus keine Verzeihung verstattete.

Unser Held hatte sich bei dieser Gelegenheit so sehr in seiner ganzen Größe gezeigt, daß die Göttin des Glücks vielleicht selbst auf ihren Liebling neidisch wurde; doch mochte es auch wohl nur die gewöhnliche Folge einer Unbeständigkeit sein, die man ihr schon so oft zur Last gelegt und die sie antreibt, einen Menschen auf den höchsten Gipfel der Größe zu erheben, bloß damit er wieder desto tiefer fallen soll. Genug, unser Wild sollte jetzt auch ihre Tücke erfahren, vermutlich weil er das Ziel erreicht hatte, das noch keiner ihrer Lieblinge jemals überschritten hat. Wie es scheint, gibt es ein gewisses Maß von Bosheit und Ungerechtigkeit, das jeder große Mann ausfüllen muß, und wenn das geschehen ist, vernachlässigt ihn das Glück, wie wir einen Seidenwurm, der sich ausgesponnen hat. An eben diesem Tage ward auch Herr Blueskin eines Straßenraubes überwiesen. Bekanntermaßen verdankte er dies unserm Helden, der sich zu diesem Schritte genötigt sah. Als nun unser Wild mit aller der Kälte und Gleichgültigkeit, die große Männer gegen ihre Schlachtopfer zu affektieren pflegen, neben ihm stand, zog Blueskin ganz heimlich ein Messer hervor und stieß es unserm Helden mit solch einer Gewalt in den Leib, daß alle Zuschauer glaubten, er sei geliefert. Die Wahrheit zu sagen, hätte nicht das Glück noch eine andere Absicht mit ihm gehabt, wie wir schon oben angedeutet haben, und zu diesem Behuf seine Eingeweide aufs sorgfältigste in Schutz genommen, so wäre er der Wut seines Feindes zum Opfer gefallen, die er, wie er in der Folge sagte, doch nicht verdiente: denn wäre Blueskin kein Tor gewesen, hätte er sich hübsch seinem Willen unterworfen und für ihn gemordet und geplündert, so hätte er in Ruhe und Sicherheit zeitlebens unter der Bande bleiben können. Doch dem sei, wie ihm wolle, genug das Messer verfehlte die edlen Teile, ging bloß durch die Höhlung des Bauches und verursachte unserm Helden keinen Schaden, außer daß er viel Blut verlor, von welchem Verlust er sich aber bald wieder erholte.

Indessen hatte dieser Vorfall noch schlimmere Folgen. Denn da es wenige Menschen gibt (die größten aller Menschen, eigenmächtigen Fürsten ausgenommen), welche einem andern aus bloßem Mutwillen nach dem Leben trachten, sondern fast jeder Mörder irgendein Motiv, sei es Habsucht oder Rache, zu seiner Tat zu haben pflegt, so erkundigten sich auch die Richter bei Blueskin[131] nach seinen Beweggründen. Bei dieser Gelegenheit kamen nun einige von Wilds ungeheuren Plänen zum Vorschein, und weil sie nun gewissen Personen mehr zum Ruhme dieses großen Mannes selbst, als zum Besten der Gesellschaft abzuzwecken schienen, so begannen einige von den Leuten, welche es für ihre Schuldigkeit hielten, den weiteren Fortschritten unseres Helden Einhalt zu tun, ihm eine Falle zu legen. Zu dem Ende bewirkte ein sehr gelehrter Richter, der aber im übrigen eben kein Freund der Größe war, eine Klausel in einer Parlamentsakte, die den Strang darauf setzte, wenn ein Dieb sich fremder Hände zum Stehlen bedienen würde. Dies Gesetz zweckte so gerade und offenbar auf den gänzlichen Untergang der echten und wahren Industrie ab, daß unser Held ihm unmöglich ausweichen konnte.

Quelle:
-, S. 129-132.
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