Ein und dreißigster Brief
Olivier an Reinhold

[96] Warum bin ich abgereist? warum habe ich Dich nicht gezwungen, mir ihren Aufenthalt zu entdecken? – Und hätte ich Dir den Degen auf die Brust setzen sollen – nicht wahr? endlich mußtest Du nachgeben? – Gestehe es! Du wanktest schon? – O ich knirsche vor Wuth, daß ich Dich so entwischen ließ![96]

Wie ich hier ankam, wie ich das alles überlegte, wollte ich gleich wieder umkehren. Aber da verwirrten mich die dummen Nachrichten meiner Bedienten. Der Eine wollte dies, der Andere das gehört haben. Am Ende bist Du auch wohl so tückisch, Julien eine Veränderung des Aufenthalts vorzuschlagen, um Dich nachher mit Deiner Unwissenheit brüsten, und mich dann völlig rasend machen zu können.

Siehe! ich schwöre es! Wo ich es Dir, wo ich es Euch allen vergebe; so möge Gott mir keine meiner Sünden vergeben. Mich diesem entsetzlichen Schmerze, diesen Höllenquaalen Preis zu geben! – Und was wird nun[97] die Frucht Eurer Weisheit seyn? – Unglück! schreckliches Unglück! denn wenn ich sie nicht finde – o ich mag es nicht ausdenken, was ich dann thue.

Dummköpfe! Ihr grausamen Dummköpfe! Wolltet Ihr mich in Euer moralisches Joch spannen; nur mit Ihrer Hülfe war es möglich. Ach! ich fühlte wie es Tag ward in meiner Seele, wie mein beßres Selbst anfieng zu erwachen, wie Glaube und Hofnung zu lebendigen Gestalten sich entwickelten. Das habt Ihr nun alles zerstört. Es ist wieder Nacht, tiefe Nacht um mich her, und ein lebenzerstöhrender Schmerz nagt in meinem Innern. –[98] Was soll ich nun thun? – Thun? – Hier ist nicht von einem Thun, von einem Leiden ist die Rede. Olivier leiden? – Nimmermehr! Ehe zerfleischt er sein eigenes Herz.

Muth! Muth! ich werde sie finden! und dann sollt Ihr alle dafür büßen.[99]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 96-100.
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