Vier und funfzigster Brief
Wilhelmine an Reinhold

[204] Diesen Morgen ist der Obriste abgereist. Von ihm und Julien hörte ich kein Wort; aber Antonelli drückte wechselweise ihre Gefühle aus. Dieser wunderbare Mensch scheint durch[204] eine Art von Inspiration die geheimsten Empfindungen zu kennen. Mit bewundernswürdiger Leichtigkeit weiß er sich in jeden Zustand zu versetzen und spricht andere Gefühle mit einer Kraft und Wahrheit aus, die zur Bewunderung hinreißt. Wo er sich naht, da werden alle Gegenstände verwandelt. Man befindet sich nicht mehr auf der kleinen alltäglichen Erde. Alles ist groß, alles verkündigt ein reicheres, höheres Leben. Selbst der Schmerz wird in seiner Nähe zum Genuß; denn er muß sich veredlen und verschönern.

Wahrlich! der Obriste ist und bleibt doch ein verzogenes Kind des Schicksals. Welcher[205] Mensch kann sich zweyer Wesen wie Julie und Antonelli rühmen? – Wenn jetzt etwas aus ihm wird, so kann er sich nicht damit brüsten.

Sonnabend gehe ich mit Julien nach ***. Ich habe einen zweyten Bedienten angenommen, damit Friedrich unser ordentlicher Führer werden kann. Sein Alter, seine Welt- und Menschenkenntniß und sein äußerst gebildeter Ton macht ihn mir in dieser Rücksicht unschätzbar.

In *** kommt er nun recht in seine Sphäre. Er freut sich wie ein Kind auf die Gemählde-Sammlung und hat mir schon wer weiß was für Wunder davon erzählt.[206]

Meine Mutter ist wohl und schreibt mir sehr fleißig. Da aber diese Briefe nur Versicherungen ihrer Liebe und Beschreibungen kleiner häuslicher Scenen enthalten; so habe ich Ihnen bis jetzt nichts davon mittheilen wollen.

Julie läßt Sie grüßen. Leben Sie wohl, aus *** ein Mehreres.[207]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 204-208.
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