Sechster Brief
Julie an Wilhelmine

[15] Was denkt meine Wilhelmine von mir? – Ich sollte Schuld seyn, daß eins der reizendsten Mädchen einsam verblühte? – daß es einen glücklichen Mann weniger in der Welt gäbe? – Nimmermehr! Auch ist das alles Schwärmerey. Weißt Du noch, wie wir einmal beyde ins Kloster wollten? – Ach sage was Du willst! sind wir mit einem Mann nicht glücklich, ohne ihn sind wir es noch weniger.[15]

Bedarfst Du keiner Stütze, keines Schutzes? Bedarfst Du nicht der Mutterfreuden, und gewiß auch der Mutterleiden, um ganz gebildet zu werden? Bedarfst Du nicht der Härte, der Ungerechtigkeit eines gröber gebildeten Wesens, um Deine ganze Weiblichkeit kennen zu lernen, und in ihrem Heiligthume Deinen Himmel zu bilden? – Ist es nicht deswegen nothwendig, daß es an Deiner Seite stehe, um die Blicke der Menge anzuziehen? Wie könntest Du sonst, von allen Welthändeln befreit, in der Stille nur Deiner höhern Bildung leben.

Ach sage! merkst Du denn nicht den Willen der Natur? – Sie haßt alle plötzlichen[16] Übergänge, darum stellte sie das Weib zwischen den Mann und die glücklicheren Wesen der künftigen Welt. Gewiß! dahin deuten alle unsere Leiden und Freuden! Ja sogar das Bedürfniß der Männer. Sie verlangen offenbar etwas mehr als blos menschliches von den Weibern. Das gründet sich nicht auf Ungerechtigkeit, sondern auf reinen Instinkt. Wenn wir mit Demuth und kindlichem Sinne dies glauben, werden es die Männer wohl dulden.[17]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Die Honigmonathe, Band 1, Posen und Leipzig 1802, S. 15-18.
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