[213] Homais hatte letzthin die Lobpreisung einer neuen Methode, Klumpfüße zu heilen, gelesen, und als Fortschrittler, der er war, verfiel er sofort auf die partikularistische Idee, auch in Yonville müsse es strephopodische Operationen geben, damit es auf der Höhe der Kultur bleibe.
»Was ist denn dabei zu riskieren?« fragte er Frau Bovary. Er zählte ihr die Vorteile eines solchen Versuches an den Fingern auf. Erfolg so gut wie sicher. Wiederherstellung des Kranken. Befreiung von einem Schönheitsfehler. Bedeutende Reklame für den Operateur. »Warum soll Ihr Herr Gemahl nicht beispielsweise den armen Hippolyt vom Goldenen Löwen kurieren? Bedenken Sie, daß er seine Heilung allen Reisenden erzählen würde. Und dann,« der Apotheker begann zu flüstern und blickte scheu um sich, »was sollte mich daran hindern, eine kleine Notiz darüber in die Zeitung zu bringen? Du mein Gott! So ein Artikel wird überall gelesen, – man spricht davon, – schließlich weiß es die ganze Welt. Aus Schneeflocken werden am Ende Lawinen! Und wer weiß? Wer weiß?«
Warum nicht? Bovary konnte in der Tat Erfolg haben. Emma hatte gar keinen Anlaß, Karls chirurgische Geschicklichkeit zu bezweifeln, und was für eine Befriedigung wäre es für sie, die geistige Urheberin eines Entschlusses zu sein, der sein Ansehen und seine Einnahmen steigern mußte. Sie verlangte mehr als nur die Liebe dieses Mannes.
Vom Apotheker und von seiner Frau bestürmt, ließ sich Karl überreden. Er bestellte sich in Rouen das Werk des Doktors Duval, und nun vertiefte er sich jeden Abend, den Kopf zwischen den Händen, in diese Lektüre. Während er sich über Pferdefußbildungen, Varus und Valgus, Strephocatopodie, Strephendopodie, Strephexopodie (das heißt über die verschiedenartigen inneren und äußerlichen Verkrüppelungen des menschlichen Fußes),[214] Strephypopodie und Strephanopodie (das sind Fußleiden, die oberhalb oder unterhalb der Verkrüppelung um sich greifen) unterrichtete, suchte Homais den Hausknecht vom Goldenen Löwen mit allen Mitteln der Überredungskunst zur Operation zu bewegen.
»Du wirst höchstens einen ganz leichten Schmerz spüren«, sagte er zu ihm. »Es ist nichts weiter als ein Einstich wie beim Aderlaß, nicht schlimmer, als wenn du dir ein Hühnerauge schneiden läßt.«
Hippolyts blöde Augen blickten unschlüssig um sich.
»Im übrigen«, fuhr der Apotheker fort, »kann mirs natürlich ganz egal sein. Dein Nutzen ist es. Ich rate dirs nur aus purer Nächstenliebe. Mein lieber Freund, ich möchte dich gar zu gern von deinem scheußlichen Hinkfuß befreit sehen, von diesem ewigen Hinundherwackeln mit den Hüften. Du kannst dagegen sagen, was du willst: es stört dich in der Ausübung deines Berufs doch erheblich!«
Nun schilderte ihm Homais, wie frei und flott er sich nach einer Operation werde bewegen können. Auch gab er ihm zu verstehen, daß er dann mehr Glück bei den Weibern haben werde, worüber der Bursche albern grinste.
»Schockschwerebrett! Du bist doch auch ein Mann! Du hättest doch auch nicht kneifen können, wenn man dich zu den Soldaten ausgehoben und in den Krieg geschickt hätte! Also, Hippolyt!«
Homais wandte sich von ihm ab und meinte, so ein Dickkopf sei ihm noch nicht vorgekommen. Er begreife nicht, wie man sich den Wohltaten der Wissenschaft derartig störrisch entziehen könne.
Endlich gab der arme Schlucker nach. Das war ja die reine Verschwörung gegen ihn! Binet, der sich sonst niemals um die Angelegenheiten anderer kümmerte, die Löwenwirtin, Artemisia, die Nachbarn und selbst der Bürgermeister, alle drangen sie in ihn, redeten ihm zu und machten ihn lächerlich. Und was vollends den Ausschlag gab: die Operation sollte ihn keinen roten Heller kosten. Bovary versprach sogar, Material und Medikamente[215] umsonst zu liefern. Emma war die Anstifterin dieser Generosität. Karl pflichtete ihr bei und sagte sich im stillen: ›Meine Frau ist doch wirklich ein Engel!‹
Beraten vom Apotheker, ließ Karl nach drei fehlgeschlagenen Versuchen durch den Tischler unter Beihilfe des Schlossers eine Art Gehäuse anfertigen. Es wog beinahe acht Pfund, und an Holz, Eisen, Blech, Leder, Schrauben und so weiter war nicht gespart worden.
Um nun zu bestimmen, welche Sehne zu durchschneiden sei, mußte zunächst festgestellt werden, welche besondere Art von Klumpfuß hier vorlag. Hippolyts Fuß setzte sich an sein Schienbein nahezu geradlinig an. Dazu war er noch nach innen zu verdreht. Es war also Pferdefuß, verbunden mit etwas Varus oder, anders ausgedrückt, ein Fall leichter Varus mit starker Neigung zu einem Pferdefuß.
Trotz diesem Klumpfuße, der in der Tat plump wie ein Pferdehuf war und runzelige Haut, ausgedörrte Sehnen und dicke Zehen mit schwarzen, wie eisern aussehenden Nägeln hatte, war der Krüppel von früh bis abends munter wie ein Wiesel. Man sah ihn unaufhörlich im Hofe um die Wagen herumhumpeln. Es hatte sogar den Anschein, als sei sein mißratenes Bein kräftiger denn das gesunde. Offenbar hatte sich Hippolyt, von Jugend auf im schweren Dienst, sehr viel Geduld und Ausdauer zu eigen gemacht.
An einem Pferdefuß muß zunächst die Achillessehne durchschnitten werden, dann der vordere Schienbeinmuskel. Eher kann der Varus nicht beseitigt werden. Karl wagte es kaum, beide Schnitte auf einmal zu machen. Auch hatte er große Angst, einen wichtigen Teil zu verletzen. Seine anatomischen Kenntnisse waren mangelhaft.
Ambrosius Paré, der fünfzehn Jahrhunderte nach Celsus die erste unmittelbare Unterbindung einer Arterie wagte, Dupuytren, der es unternahm, einen Abszeß am Gehirn zu öffnen, Gensoul, der als erster eine Oberkiefer-Abtragung ausführte, – allen diesen[216] hat sicherlich nicht so das Herz geklopft und die Hand gezittert, und sie waren gewiß nicht so aufgeregt wie Bovary, als er Hippolyt unter sein Messer nahm.
Im Stübchen des Hausknechts sah es aus wie in einem Lazarett. Auf dem Tische lagen Haufen von Scharpie, gewichste Fäden, Binden, alles was in der Apotheke an Verbandszeug vorrätig gewesen war. Homais hatte das alles eigenhändig vorbereitet, sowohl um die Leute zu verblüffen wie auch, um sich selbst etwas vorzumachen.
Karl führte den Einschnitt aus. Ein platzendes Geräusch. Die Sehne war zerschnitten, die Operation beendet.
Hippolyt war vor Erstaunen außer aller Fassung. Er nahm Bovarys Hände und bedeckte sie mit Küssen.
»Erst mal Ruhe!« gebot der Apotheker. »Die Dankbarkeit für deinen Wohltäter kannst du ja später bezeigen!«
Er ging hinunter, um das Ereignis den fünf oder sechs Neugierigen mitzuteilen, die im Hofe umherstanden und sich eingebildet hatten, Hippolyt werde erscheinen und mit einem Male laufen wie jeder andere. Karl schnallte seinem Patienten das Gehäuse an und begab sich sodann nach Hause, wo ihn Emma angstvoll an der Tür erwartete. Sie fiel ihm um den Hals.
Sie setzten sich zu Tisch. Er aß viel und verlangte zum Nachtisch sogar eine Tasse Kaffee; diesen Luxus erlaubte er sich sonst nur sonntags, wenn ein Gast da war.
Der Abend verlief in heiterer Stimmung unter Gesprächen und gemeinsamem Pläneschmieden. Sie plauderten vom kommenden Glücke, von der Hebung ihres Hausstandes. Er sah seinen ärztlichen Ruf wachsen, seinen Wohlstand gedeihen und die Liebe seiner Frau immerdar währen. Und sie, sie fühlte sich beglückt und verjüngt, gesünder und besser in ihrer wieder erstandenen leisen Zuneigung für diesen armen Mann, der sie so sehr liebte. Flüchtig schoß ihr der Gedanke an Rudolf durch den Kopf, aber ihre Augen ruhten alsbald wieder auf Karl, und dabei bemerkte sie erstaunt, daß seine Zähne eigentlich gar nicht häßlich waren.[217]
Sie waren bereits zu Bett, als Homais trotz der Abwehr des Mädchens plötzlich ins Zimmer trat, in der Hand ein frisch beschriebenes Stück Papier. Es war der Reklame-Aufsatz, den er für den ›Leuchtturm von Rouen‹ verfaßt hatte. Er brachte ihn, um ihn dem Arzte zum Lesen zu geben.
»Lesen Sie ihn vor!« bat Bovary.
Der Apotheker tat es:
»Ungeachtet der Vorurteile, in die ein Teil der Europäer noch immer verstrickt ist wie in ein Netz, beginnt es in unserer Gegend doch zu tagen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz einer chirurgischen Tat, die zugleich ein Beispiel edelster Menschenliebe ist. Herr Karl Bovary, einer unserer angesehensten praktischen Ärzte ...«
»Ach, das ist zuviel! Das ist zuviel!« unterbrach ihn Karl, vor Erregung tief atmend.
»Aber durchaus nicht! Wieso denn?«
Er las weiter:
»... hat den verkrüppelten Fuß ...«
Er unterbrach sich selbst:
»Ich habe hier absichtlich den Terminus technicus vermieden, wissen Sie! In einer Tageszeitung muß alles gemeinverständlich sein. Die große Masse ...«
»Sehr richtig!« meinte Bovary. »Bitte fahren Sie fort!«
»Ich wiederhole:
Herr Karl Bovary, einer unserer angesehensten praktischen Ärzte, hat den verkrüppelten Fuß eines gewissen Hippolyt Tautain operiert, des langjährigen Hausknechts im Hotel zum Goldenen Löwen der verwitweten Frau Franz am Markt. Das aktuelle Ereignis und das allgemeine Interesse an der Operation hatten eine derartig große Volksmenge angezogen, daß der Zugang zu dem Etablissement gesperrt werden mußte. Die Operation selbst vollzog sich wunderbar schnell. Bluterguß trat so gut wie nicht ein. Kaum ein paar Blutstropfen verrieten, daß ein hartnäckiges Leiden endlich der Macht der Wissenschaft wich. Der Kranke[218] verspürte dabei erstaunlicherweise – wie der Berichterstatter als Augenzeuge versichern darf – nicht den geringsten Schmerz, und sein Zustand läßt bis jetzt nichts zu wünschen übrig. Allem Dafürhalten nach wird die vollständige Heilung rasch erfolgen, und wer weiß, ob der brave Hippolyt nicht bei der kommenden Kirmes mit den flotten Urlaubern um die Wette tanzen und seine Wiederherstellung durch muntere Sprünge feiern wird? Ehre aber den hochherzigen Gelehrten, Ehre den unermüdlichen Geistern, die ihre Nächte der Menschheit zum Heile opfern! Ehre, dreimal Ehre ihnen!
Der Tag wird noch kommen, wo verkündet werden wird, daß die Blinden sehen, die Tauben hören und die Lahmen gehen! Was der kirchliche Aberglaube ehedem nur den Auserwählten versprach, schenkt die Wissenschaft mehr und mehr allen Menschen. Wir werden unsere verehrten Leser über den weiteren Verlauf dieser so ungemein merkwürdigen Kur auf dem laufenden halten.«
Trotz alledem kam fünf Tage darauf die Löwenwirtin ganz verstört gelaufen und rief:
»Zu Hilfe! Er stirbt! Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
Karl rannte Hals über Kopf nach dem Goldenen Löwen, und der Apotheker, der den Arzt so über den Markt stürmen sah, verließ sofort mit bloßem Kopfe seinen Laden. Atemlos, aufgeregt und mit rotem Gesichte erreichte er den Gasthof und fragte jeden, dem er auf der Treppe begegnete:
»Na, was macht denn unser interessanter Strephopode?«
Der Strephopode wand sich in schrecklichen Zuckungen, so daß das Gehäuse, in das sein Bein eingezwängt war, gegen die Wand geschlagen ward und entzwei zu gehen drohte.
Mit vieler Vorsicht, um ja dabei die Lage des Fußes nicht zu verschieben, entfernte man das Holzgehäuse. Und nun bot sich ein gräßlicher Anblick dar. Die Form des Fußes war unter einer derartigen Schwellung verschwunden, daß es aussah, als platze demnächst die ganze Haut. Diese war blutunterlaufen und von[219] Druckflecken bedeckt, die das famose Gehäuse verursacht hatte. Hippolyt hatte von Anfang an über Schmerzen geklagt, aber man hatte ihn nicht angehört. Nachdem man nun einsah, daß er im Rechte gewesen war, gönnte man ihm ein paar Stunden Befreiung. Aber sowie die Schwellung ein wenig zurückgegangen war, hielten es die beiden Heilkünstler für angebracht, das Bein wieder einzuschienen und es noch fester einzupressen, um dadurch die Wiederherstellung zu beschleunigen.
Aber nach drei Tagen vermochte es Hippolyt nicht mehr auszuhalten. Man nahm ihm den Apparat abermals ab und war über das höchst verwundert, was sich nun herausstellte. Die schwärzlichblau gewordene Schwellung erstreckte sich über das ganze Bein, das ganz voller Blasen war; eine dunkle Flüssigkeit sonderte sich ab. Man wurde bedenklich.
Hippolyt begann sich zu langweilen, und Frau Franz ließ ihn in die kleine Gaststube bringen neben der Küche, damit er wenigstens etwas Zerstreuung hätte. Aber der Steuereinnehmer, der dort seinen Stammplatz hatte, beschwerte sich über diese Nachbarschaft. Da schaffte man den Kranken in das Billardzimmer. Dort lag er wimmernd unter seinen schweren Decken, blaß, unrasiert, mit eingesunkenen Augen. Von Zeit zu Zeit wandte er seinen in Schweiß gebadeten Kopf auf dem schmutzigen Kissen hin und her, wenn ihn die Fliegen quälten.
Frau Bovary besuchte ihn. Sie brachte ihm Leinwand zu den Umschlägen, tröstete ihn und sprach ihm Mut zu. Auch sonst fehlte es ihm nicht an Gesellschaft, zumal an den Markttagen, wenn die Bauern drin bei ihm Billard spielten, mit den Queuen herumfuchtelten, rauchten, zechten, sangen und Spektakel machten.
»Wie geht dirs denn?« fragten sie ihn und klopften ihm auf die Schulter. »So recht auf dem Damme bist du wohl nicht? Bist aber selber schuld daran!« Er hätte dies oder jenes machen sollen. Sie erzählten ihm von Leuten, die durch ganz andere[220] Heilmittel wieder hergestellt worden seien. Und zum sonderbaren Trost meinten sie:
»Du bist viel zu zimperlich! Steh doch auf! Du läßt dich wie ein Fürst verhätscheln! Das ist Unsinn, alter Schlaumeier! Und besonders gut riechst du auch nicht!«
Inzwischen griff der Brand immer weiter um sich. Bovary ward fast selber krank davon. Er kam alle Stunden, alle Augenblicke. Hippolyt sah ihn mit angsterfüllten Augen an. Schluchzend stammelte er:
»Lieber Herr Doktor, wann werd ich denn wieder gesund? Ach, helfen Sie mir! Ich bin so unglücklich, so unglücklich!«
Bovary schrieb ihm alle Tage vor, was er essen solle. Dann verließ er ihn.
»Hör nur gar nicht auf ihn, mein Junge!« meinte die Löwenwirtin. »Sie haben dich schon gerade genug geschunden! Das macht dich bloß immer noch schwächer! Da, trink!«
Sie gab ihm hin und wieder Fleischbrühe, ein Stück Hammelkeule, Speck und manchmal ein Gläschen Schnaps, den er kaum an seine Lippen zu bringen wagte.
Abbé Bournisien, der gehört hatte, daß es Hippolyt schlechter ging, kam, ihn zu besuchen. Er bedauerte ihn, dann aber erklärte er, in gewisser Beziehung müsse sich der Kranke freuen, denn es sei des Herrn Wille, der ihm Gelegenheit gäbe, sich mit dem Himmel zu versöhnen.
»Siehst du,« sagte der Priester in väterlichem Tone, »du hast deine Pflichten recht vernachlässigt! Man hat dich selten in der Kirche gesehen. Wieviel Jahre lang hast du das heilige Abendmahl nicht genommen? Ich gebe zu, daß deine Beschäftigung und der Trubel der Welt dich abgehalten haben, für dein Seelenheil zu sorgen. Aber jetzt ist es an der Zeit, daß du dich darum kümmerst. Verzweifle indessen nicht! Ich habe große Sünder gekannt, die, kurz ehe sie vor Gottes Thron traten (du bist noch nicht so weit, das weiß ich wohl!), seine Gnade erfleht haben; sie sind ohne Verdammnis gestorben! Hoffen wir, daß auch du[221] uns gleich ihnen ein gutes Beispiel gibst! Darum: sei vorsichtig! Niemand verwehrt dir, morgens ein Ave-Maria und abends ein Paternoster zu beten! Ja, tue das! Mir zuliebe! Was kostet dich das? Willst du mir das versprechen?«
Der arme Teufel gelobte es. Tag für Tag kam der Seelsorger wieder. Er plauderte mit ihm und der Wirtin, und bisweilen erzählte er den beiden sogar Anekdoten, Späße und faule Witze, die Hippolyt allerdings nicht verstand. Aber bei jeder Gelegenheit kam er auf religiöse Dinge zu sprechen, wobei er jedesmal eine salbungsvolle Miene annahm.
Dieser Eifer verfehlte seine Wirkung nicht. Es dauerte nicht lange, da bekundete der Strephopode die Absicht, eine Wallfahrt nach Bon-Secours zu unternehmen, wenn er wieder gesund würde, worauf der Priester entgegnete, das sei nicht übel. Doppelt genäht halte besser. Er riskiere ja dabei nichts.
Der Apotheker war empört über ›diese Pfaffenschliche‹, wie er sich ausdrückte. Er behauptete, das verzögere die Genesung des Hausknechts nur.
»Laßt ihn doch nur in Ruhe!« sagte er zur Löwenwirtin. »Mit eueren Salbadereien macht ihr den Mann nur verdreht!«
Aber die gute Frau wollte davon nichts hören. Er und kein anderer sei ja an der ganzen Geschichte schuld! Und auch rein aus Widerspruchsgeist hing sie dem Kranken zu Häupten einen Weihwasserkessel und einen Buchsbaumzweig auf.
Allerdings nützten offenbar weder der kirchliche noch der chirurgische Segen. Unaufhaltsam schritt die Blutvergiftung vom Beine weiter in den Körper hinauf. Man versuchte immer neue Salben und Pflaster, aber der Fuß wurde immer brandiger, und schließlich antwortete Bovary mit einem zustimmenden Kopfnicken, als Mutter Franz ihn fragte, ob man angesichts dieser hoffnungslosen Lage nicht den Doktor Canivet aus Neufchâtel kommen lassen solle, der doch weitberühmt sei.
Canivet war Doktor der Medizin, fünfzig Jahre alt, ebenso wohlhabend wie selbstbewußt. Er kam und entblödete sich nicht,[222] über den Kollegen geringschätzig zu lächeln, als er das bis an das Knie brandig gewordene Bein untersuchte. Sodann erklärte er, das Glied müsse amputiert werden.
Er suchte den Apotheker auf und wetterte gegen ›die Esel, die das arme Luder so zugerichtet‹ hätten. Er faßte Homais am Rockknopf und hielt ihm in seiner Apotheke eine Standpauke:
»Da habt Ihr so 'ne Pariser Erfindung! Solchen Unsinn hecken die Herren Gelehrten der Weltstadt nun aus! Genau so steht es mit ihren Schieloperationen, Chloroform-Betäubungen, Blaseneingriffen! Das ist alles Kapitalunfug, gegen den sich der Staat ins Zeug legen sollte! Diese Scharlatane wollen nur immer was zu tun haben. Sie erfinden die unglaublichsten Verfahren, aber an die Folgen denken sie nicht. Wir andern aber, wir sind rückständig. Wir sind keine Gelehrten, keine Zauberkünstler, keine Salonhelden. Wir haben unsere Praxis, wir heilen lumpige Krankheiten, aber es fällt uns nicht ein, Leute zu operieren, die kerngesund herumlaufen! Klumpfüße gerade zu hacken! Du lieber Gott! Ebenso könnte man auch einem Buckligen seinen Höcker abhobeln wollen!«
Homais war bei diesem Erguß gar nicht besonders wohl zumute, aber er verbarg sein Mißbehagen hinter einem verbindlichen Lächeln. Er mußte mit Canivet auf gutem Fuße bleiben, dieweil dieser in der Yonviller Gegend öfters konsultiert wurde und ihm dabei durch Rezepte zu verdienen gab. Aus diesem Grunde hütete er sich, für Bovary einzutreten. Er muckste sich nicht, ließ Grundsätze Grundsätze sein und opferte seine Würde den ihm wichtigeren Interessen seines Geschäfts.
Die Amputation des Beines, die der Doktor Canivet ausführte, war für den ganzen Ort ein wichtiges Ereignis. Frühzeitig waren die Leute schon auf den Beinen, und die Hauptstraße war voller Menschen, die allesamt etwas Trübseliges an sich hatten, als solle eine Hinrichtung stattfinden. Im Laden des Krämers stritt man sich über Hippolyts Krankheit. Ans Kaufen dachte niemand. Und Frau Tuvache, die Gattin des Bürgermeisters,[223] lag vom frühen Morgen an in ihrem Fenster, um ja nicht zu verpassen, wenn der Operateur ankäme.
Er kam in seinem Wägelchen angefahren, das er selber kutschierte. Durch die Last seines Körpers war die rechte Feder des Gefährts derartig niedergedrückt, daß der Wagenkasten schief stand. Neben dem Insassen auf dem Sitzpolster stand eine rotlederne Reisetasche, deren Messingschlösser prächtig funkelten. In starkem Trabe fuhr Canivet bis vor die kleine Freitreppe des Goldenen Löwen. Mit lauter Stimme befahl er, das Pferd auszuspannen. Er ging mit in den Stall und überzeugte sich, daß der Gaul ordentlich Hafer geschüttet bekam. Es war seine Gewohnheit, daß er sich immer zuerst seinem Tier und seinem Fuhrwerk widmete. Er galt deshalb im Munde der Leute für einen ›Pferdejockel‹. Aber gerade weil er sich darin unabbringbar gleich blieb, schätzte man ihn um so mehr. Und wenn der letzte Mensch auf Gottes ganzem Erdboden in den letzten Zügen gelegen hätte: Doktor Canivet wäre zunächst seiner kavalleristischen Pflicht nachgekommen.
Homais stellte sich ein.
»Ich rechne auf Ihre Unterstützung!« sagte der Chirurg. »Ist alles bereit? Na, dann kanns losgehen!«
Der Apotheker gestand errötend ein, daß er zu empfindlich sei, einer solchen Operation assistieren zu können. »Als passiver Zuschauer«, sagte er, »greift einen so was doppelt an. Meine Nerven sind so herunter ...«
»Quatsch!« unterbrach ihn Canivet. »Mir machen Sie vielmehr den Eindruck, als solle Sie demnächst der Schlag rühren. Übrigens kein Wunder! Ihr Herren Apotheker hockt ja von früh bis spät in euerer Giftbude. Das muß sich ja schließlich auf die Nerven legen! Gucken Sie mich mal an! Tag für Tag stehe ich um vier Uhr morgens auf, wasche mich mit eiskaltem Wasser ... Frieren kenne ich nicht, Flanellhemden gibts für mich nicht, das Zipperlein kriege ich nicht, und mein Magen ist mordsgesund. Dabei lebe ich heute so und morgen so, wie mirs gerade einfällt,[224] aber immer als Lebenskünstler! Und deshalb bin ich auch nicht so zimperlich wie Sie. Es ist mir total Wurst, ob ich einem Rebhuhn oder einem christlichen Individuum das Bein abschneide. Sie haben mir neulich mal gesagt, der Mensch sei ein Gewohnheitstier. Sehr richtig! Es ist alles nur Gewohnheit ...«
Ohne irgendwelche Rücksicht auf Hippolyt, der nebenan auf seinem Lager vor Angst schwitzte, führten die beiden ihre Unterhaltung in diesem Stile weiter. Der Apotheker verglich die Kaltblütigkeit eines Chirurgen mit der eines Feldherrn. Durch diesen Vergleich geschmeichelt, ließ sich Canivet des längeren über die Erfordernisse seiner Kunst aus. Der Beruf des Arztes sei ein Priesteramt, und wer es nicht als das, sondern als gemeines Handwerk ausübe, der sei ein Heiligtumschänder.
Endlich erinnerte er sich des Patienten und begann das von Homais gelieferte Verbandszeug zu prüfen. Es war dasselbe, das bereits bei der ersten Operation zur Stelle gewesen war. Sodann erbat er sich jemanden, der das Bein festhalten könne. Lestiboudois ward geholt.
Der Doktor zog den Rock aus, streifte sich die Hemdsärmel hoch und begab sich in das Billardzimmer, während der Apotheker in die Küche ging, wo die Wirtin sowie Artemisia neugierig und ängstlich warteten. Die Gesichter der beiden Frauen waren weißer als ihre Schürzen.
Währenddessen wagte sich Bovary nicht aus seinem Hause heraus. Er saß unten in der großen Stube, zusammengeduckt und die Hände gefaltet, im Winkel neben dem Kamin, in dem kein Feuer brannte, und starrte vor sich hin. »Welch ein Mißgeschick!« seufzte er. »Was für eine große Enttäuschung!« Er hatte doch alle denkbaren Vorsichtsmaßregeln getroffen, und doch war der Teufel mit seiner Hand dazwischen gekommen! Nicht zu ändern! Wenn Hippolyt noch stürbe, dann wäre er schuld daran! Und was sollte er antworten, wenn ihn seine Patienten danach fragten? Sollte er sagen, er habe einen Fehler begangen? Aber welchen? Er wußte doch selber keinen, so sehr er auch darüber nachsann.[225] Die berühmtesten Chirurgen versehen sich einmal. Aber das wird kein Mensch bedenken. Sie werden ihn alle nur auslachen und in Verruf bringen. Die Sache wird bis Forges ruchbar werden, bis Neufchâtel, bis Rouen und noch weiter! Vielleicht würde irgendein Kollege einen Bericht gegen ihn veröffentlichen, dem dann eine Polemik folgte, die ihn zwänge, in den Zeitungen eine Entgegnung zu bringen. Hippolyt könnte auf Schadenersatz klagen.
Karl sah ich entehrt, zugrunde gerichtet, verloren! Seine von tausend Befürchtungen bestürmte Phantasie schwankte hin und her wie eine leere Tonne auf den Wogen des Meeres.
Emma saß ihm gegenüber und beobachtete ihn. An seine Demütigung dachte sie nicht. Ihre Gedanken arbeiteten in anderer Richtung. Wie hatte sie sich nur einbilden können, daß sich ein Mann seines Schlages zu einer Leistung aufschwänge, wo sich seine Unfähigkeit doch schon mehr als ein dutzendmal erwiesen hatte!
Er lief im Zimmer auf und ab. Seine Stiefel knarrten.
»Setz dich doch!« sagte sie. »Du machst mich noch ganz verrückt!«
Er tat es.
Wie hatte sie es nur fertig gebracht – wo sie doch so klug war! –, daß sie sich abermals so getäuscht hatte? Aber ja, ihr ganzer Lebenspfad war doch fortwährend durch das traurige Tal der Entbehrungen gegangen. Wie vom Wahnwitz geleitet! Sie rief sich alles einzeln ins Gedächtnis zurück: ihren unbefriedigten Hang zum Lebensgenuß, die Einsamkeit ihrer Seele, die Armseligkeit ihrer Ehe, ihres Hausstandes, ihre Träume und Illusionen, die in den Sumpf hinabgefallen waren wie verwundete Schwalben. Sie dachte an alles das, was sie sich ersehnt, an alles, was sie von sich gewiesen, an alles, was sie hätte haben können! Sie begriff den geheimen Zusammenhang nicht. Warum war denn alles so? Warum?
Das Städtchen lag in tiefer Ruhe. Plötzlich erscholl ein herzzerreißender Schrei. Bovary ward blaß und beinahe ohnmächtig.[226] Emma zuckte nervös mit den Augenbrauen. Dann aber war ihr nichts mehr anzusehen.
Der da, der war der Schuldige! Dieser Mensch ohne Intelligenz und ohne Feingefühl! Da saß er, stumpfsinnig und ohne Verständnis dafür, daß er nicht nur seinen Namen lächerlich und ehrlos gemacht hatte, sondern den gemeinsamen Namen, also auch ihren Namen! Und sie, sie hatte sich solche Mühe gegeben, ihn zu lieben! Hatte unter Tränen bereut, daß sie ihm untreu geworden war!
»Vielleicht war es ein Valgus?« rief Karl plötzlich laut aus. Das war das Ergebnis seines Nachsinnens.
Bei dem unerwarteten Schlag, den dieser Ausruf den Gedanken Emmas versetzte – er fiel wie eine Bleikugel auf eine silberne Platte –, hob sie erschrocken ihr Haupt. ›Was wollte er damit sagen?‹ fragte sie sich. Sie sahen einander stumm an, gleichsam erstaunt, sich gegenseitig zu erblicken. Alle beide waren sie sich seelisch himmelweit fern. Karl starrte sie an mit dem wirren Blick eines Trunkenen und lauschte dabei, ohne sich zu regen, den verhallenden Schreien des Amputierten. Der heulte in langgedehnten Tönen, die ab und zu von grellem Gebrüll unterbrochen wurden. Alles das klang wie das ferne Gejammer eines Tieres, das man schlachtet. Emma biß sich auf die blassen Lippen. Ihre Finger spielten mit dem Blatt einer Blume, die sie zerpflückt hatte, und ihre heißen Blicke trafen ihn wie Brandpfeile. Jetzt reizte sie alles an ihm: sein Gesicht, sein Anzug, sein Schweigen, seine ganze Erscheinung, ja seine Existenz. Wie über ein Verbrechen empfand sie darob Reue, daß sie ihm so lange treu geblieben, und was noch von Anhänglichkeit übrig war, ging jetzt in den lodernden Flammen ihres Ingrimms auf. Mit wilder Schadenfreude genoß sie den Siegesjubel über ihre gebrochene Ehe. Von neuen gedachte sie des Geliebten und fühlte sich taumelnd zu ihm gezogen. Sein Bild entzückte und verführte sie in Gedanken abermals. Sie gab ihm ihre ganze Seele. Es war ihr, als sei Karl aus ihrem Leben herausgerissen, für immer entfremdet, unmöglich[227] geworden, ausgetilgt. Als sei er gestorben, nachdem er vor ihren Augen den Todeskampf gekämpft hatte. Vom Trottoir her drang das Geräusch von Tritten herauf. Karl ging an das Fenster und sah durch die niedergelassenen Jalousieen den Doktor Canivet an den Hallen in der vollen Sonne hingehen. Er wischte sich gerade die Stirn mit seinem Taschentuche. Hinter ihm schritt Homais, die große rote Reisetasche in der Hand. Beide steuerten auf die Apotheke zu.
In einem Anfall von Mutlosigkeit und Liebesbedürfnis näherte sich Karl seiner Frau:
»Gib mir einen Kuß, Geliebte!«
»Laß mich!« wehrte sie ab, ganz rot vor Zorn.
»Was hast du denn? Was ist dir?« fragte er betroffen. »Sei doch ruhig! Ärgere dich nicht! Du weißt ja, wie sehr ich dich liebe! Komm!«
»Weg!« rief sie mit verzerrtem Gesicht. Sie stürzte aus dem Zimmer, wobei sie die Tür so heftig hinter sich zuschlug, daß das Barometer von der Wand fiel und in Stücke ging.
Karl sank in seinen Lehnstuhl. Erschrocken sann er darüber nach, was sie wohl habe. Er bildete sich ein, sie leide an einer Nervenkrankheit. Er fing an zu weinen im ahnenden Vorgefühl von etwas Unheilvollem, Unfaßbarem.
Als Rudolf an diesem Abend hinten in den Garten kam, fand er seine Geliebte auf der obersten Stufe der kleinen Gartentreppe sitzen und auf ihn warten. Sie küßten sich, und all ihr Ärger schmolz in der Glut der Umarmung wie der Schnee vor der Sonne.
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