Fünfzehntes Kapitel

[268] Eine Menge Menschen umlagerte die Eingänge. Überall an den Ecken der in der Nähe gelegenen Straßen prangten riesige Plakate, die in auffälligen Lettern ausschrieen:


LUCIA VON LAMMERMOOR ... OPER ...

DONIZETTI ... GASTSPIEL ... LAGARDY ...


Es war ein schöner, aber heißer Tag. Der Schweiß rann den Leuten über die Stirn, und sie fächelten ihren erhitzten Gesichtern mit den Taschentüchern Kühlung zu. Hin und wieder wehte lauer Wind vom Strome her und blähte ein wenig die Leinwandmarkisen der Restaurants. Weiter unten, an den Kais, wurde man durch einen eisigen Luftzug abgekühlt, in den sich Gerüche von Talg, Leder und Öl aus den zahlreichen dunklen, vom Rollen der großen Fässer lärmigen Gewölben der Karren-Gasse mischten.

Aus Furcht, sich lächerlich zu machen, schlug Frau Bovary vor, noch nicht in das Theater hinein zu gehen und erst einen Spaziergang durch die Hafenpromenaden zu machen. Dabei hielt Karl die Eintrittskarten, die er in der Hosentasche trug, vorsichtig mit seinen Fingern fest und drückte sie gegen die Bauchwand, so daß er sie in einem fort fühlte.

In der Vorhalle bekam Emma Herzklopfen. Als sie wahrnahm, daß sich der Menschenschwall die Nebentreppen nach den Galerieen hinaufschob, während sie selbst die breite Treppe zum ersten Range emporschreiten durfte, lächelte sie unwillkürlich vor Eitelkeit. Es gewährte ihr ein kindliches Vergnügen, die breiten, vergoldeten Türen mit der Hand aufzustoßen. In vollen Zügen atmete sie den Staubgeruch der Gänge ein, und als sie in ihrer Loge saß, machte sie sichs mit der Ungezwungenheit einer Principessa bequem.

Das Haus füllte sich allmählich. Die Operngläser kamen aus ihren Futteralen. Die Stammsitzinhaber nickten sich aus der Entfernung[269] zu. Sie wollten sich hier im Reiche der Kunst von der Unrast ihres Krämerlebens erholen, doch sie vergaßen die Geschäfte nicht, sondern redeten noch immer von Baumwolle, Fusel und Indigo. Das waren Grauköpfe mit friedfertigen Alltagsgesichtern; weiß in der Farbe von Haar und Haut, glichen sie einander wie abgegriffene Silbermünzen. Im Parkett paradierten die jungen Modenarren mit knallroten und grasgrünen Krawatten. Frau Bovary bewunderte sie von oben, wie sie sich mit gelbbehandschuhten Händen auf die goldenen Knäufe ihrer Stöcke stützten.

Jetzt wurden die Orchesterlampen angezündet, und der Kronleuchter ward von der Decke herabgelassen. Sein in den Glasprismen widerglitzerndes Lichtmeer brachte frohe Stimmung in die Menschen. Dann erschienen die Musiker, einer nach dem anderen, und nun hub ein wirres Getöse an von brummenden Kontrabässen, kratzenden Violinen, fauchenden Klarinetten und winselnden Flöten. Endlich drei kurze Schläge mit dem Taktstocke des Kapellmeisters. Paukenwirbel, Hörnerklang. Der Vorhang hob sich.

Auf der Bühne ward eine Landschaft sichtbar: ein Kreuzweg im Walde, zur Linken eine Quelle, von einer Eiche beschattet. Bauern, Mäntel um die Schultern, sangen im Chor ein Lied. Dann tritt ein Edelmann auf, der die Geister der Hölle mit gen Himmel gereckten Armen um Rache anfleht. Noch einer erscheint. Beide gehen zusammen ab. Der Chor singt von neuem.

Emma sah sich in die Atmosphäre ihrer Mädchenlektüre zurückversetzt, in die Welt Walter Scotts. Es war ihr, als höre sie den Klang schottischer Dudelsäcke über die nebelige Heide hallen. Die Erinnerung an den Roman des Briten erleichterte ihr das Verständnis der Oper. Aufmerksam folgte sie der intriganten Handlung, während eine Flut von Gedanken in ihr aufwallte, um alsbald unter den Wogen der Musik wieder zu verfließen. Sie gab sich diesen schmeichelnden Melodieen hin. Sie fühlte, wie ihr die Seele in der Brust mit in Schwingungen geriet, als[270] strichen die Violinenbogen über ihre Nerven. Sie hätte hundert Augen haben mögen, um sich satt sehen zu können an den Dekorationen, Kostümen, Gestalten, an den gemalten und doch zitternden Bäumen, an den Samtbaretten, Rittermänteln und Degen, an allen diesen Trugbildern, in denen eine so seltsame Harmonie wie um Dinge einer ganz anderen Welt lebte ... Eine junge Dame trat auf, die einem Reitknecht in grünem Rocke eine Börse zuwarf. Dann blieb sie allein, und nun kam ein Flötensolo, zart wie Quellengeflüster und Vogelgezwitscher. Lucia begann ihre Kavatine in G-Dur. Sie sang von unglücklicher Liebe und wünschte sich Flügel. Ach, auch Emma hätte aus diesem Leben fliehen mögen, weit weg in Liebesarmen!

Da erschien auf der Szene Lagardy als Edgard. Er hatte jenen schimmernden blassen Teint, der dem Südländer etwas von der grandiosen Wirkung des Marmors verleiht. Seine männliche Gestalt war in ein braunes Wams gezwängt. Ein kleiner Dolch mit zierlichem Gehänge schlug ihm die linke Lende. Er warf lange, schmachtende Blicke und zeigte seine blendend weißen Zähne. Man hatte Emma erzählt, eine polnische Fürstin habe ihn am Strand von Biarritz singen hören, wo er Schiffszimmermann gewesen sei, und sich in ihn verliebt. Seinetwegen habe sie sich ruiniert. Er habe sie dann einer anderen zuliebe sitzen lassen.

Derartige galante Abenteuer mit sentimentalem Finale dienten dem berühmten Künstler als Reklame. Der schlaue Mime brachte es sogar fertig, in die Rezensionen der Zeitungen poetische Floskeln über den bezaubernden Eindruck seiner Persönlichkeit und die leichte Empfänglichkeit seines Herzens zu lancieren. Er besaß eine schöne Stimme, unfehlbare Sicherheit, mehr Temperament als Intelligenz, mehr Pathos als Empfindung. Er war Genie und Scharlatan zugleich, und in seinem Wesen lag ebensoviel von einem Friseur wie von einem Toreador.

Sobald er nur auf der Bühne erschien, begeisterte er Emma. Er schloß Lucia in seine Arme, wandte sich weg und kam wieder, sichtlich verzweifelt. Bald loderte sein Haß wild auf, bald klagte[271] er in den zartesten Elegieen, und die Töne perlten ihm aus der Kehle, zwischen Tränen und Küssen. Emma beugte sich weit vor, um ihn voll zu sehen, wobei sich ihre Fingernägel in den Plüsch der Logenbrüstung eingruben. Ihr Herz ward voll von diesen wehmütigen Melodieen, die, von den Kontrabässen dumpf begleitet, nicht aufhörten, gleichwie die Notschreie von Schiffbrüchigen im Sturmgebraus. Die junge Frau kannte alle diese Verzücktheiten und Herzensängste, die sie unlängst dem Tode so nahe gebracht hatten. Die Stimme der Primadonna erschütterte sie wie eine laute Verkündung ihrer heimlichsten Beichte. Das Scheinbild der Kunst beleuchtete ihr die eigenen Erlebnisse. Aber ach, so wie Lucia war sie doch von niemandem in der Welt geliebt worden! Rudolf hatte nicht um sie geweint, so wie Edgard, am letzten Abend im Mondenschein, als sie sich Lebewohl sagten ...

Beifall durchstürmte das Haus. Die ganze Stretta mußte wiederholt werden. Noch einmal sangen die Liebenden von den Blumen auf ihren Gräbern, von Treue, Trennung, Verhängnis und Hoffnungen; und als sie sich den letzten Scheidegruß zuriefen, stieß Emma einen lauten Schrei aus, der in der Orchestermusik des Finales verhallte.

»Warum läßt sie denn eigentlich dieser Edelmann nicht in Ruhe?« fragte Bovary.

»Aber nein!« antwortete sie. »Das ist doch ihr Geliebter!«

»Er schwört doch, er wolle sich an ihrer Familie rächen. Und der andere, der dann kam, hat doch gesagt:


Nimm, Teure, meine Schwüre an

Der reinsten, wärmsten Liebe!


Und sie sagt:


So sei es denn!


Übrigens der, mit dem sie fortging, Arm in Arm, der kleine Häßliche mit der Hahnenfeder auf dem Hut, das war doch ihr Vater, nicht wahr?«

Trotz Emmas Berichtigungen blieb Karl, der das Rezitativ im[272] zweiten Akte zwischen Lord Ashton und Gilbert mißverstanden hatte, bei dem Glauben, Edgard habe Lucia ein Liebeszeichen gesandt. Er gestand ein, von der ganzen Handlung nichts begriffen zu haben. Die Musik störe, sie beeinträchtige den Text.

»Was schadet das?« wandte Emma ein. »Nun sei aber still!«

Er lehnte sich an ihren Arm. »Ich möchte gern im Bilde sein, weißt du?«

»Sei doch endlich still!« sagte sie unwillig. »Schweig!«

Lucia nahte, von ihren Dienerinnen gestützt, einen Myrtenkranz im Haar, bleicher als der weiße Atlas ihres Kleides ... Emma gedachte ihres eigenen Hochzeitstages, sie sah sich zwischen den Kornfeldern, auf dem schmalen Fußweg auf dem Gange zur Kirche. Warum hatte sie sich da nicht so widersetzt wie Lucia, unter leidenschaftlichem Flehen? Sie war vielmehr so fröhlich gewesen, ohne im geringsten zu ahnen, welcher Niederung sie zuschritt ... Ach, hätte sie, jung und frisch und schön, noch nicht besudelt durch die Ehe, noch nicht enttäuscht in ihrem Ehe bruch, auf ein festes edles Herz bauen und Tugend, Zärtlichkeit, Sinnenlust und Pflichttreue zusammen fühlen dürfen! Niemals wäre sie von der Höhe solcher Glückseligkeit herabgesunken! ›Nein, nein!‹ rief sie schmerzlich bei sich aus. ›All das große Glück da unten ist doch nur Lug und Trug, erdichtet von sehnsüchtigen oder verzweifelten Phantasten!‹ Jetzt erkannte sie, daß die Leidenschaften in der Wirklichkeit armselig sind und nur in der Überschwenglichkeit der Kunst etwas Großes. Sie versuchte sich zur nüchternen Anschauung zu zwingen. Sie wollte in dieser Wiedergabe ihrer eigenen Schmerzen nichts mehr sehen als ein plastisches Phantasiegebilde, nichts mehr und nichts weniger als eine amüsante Augenweide. Und so lächelte sie in Gedanken überlegen-nachsichtig, als im Hintergrunde der Bühne hinter einer Samtportiere ein Mann in einem schwarzen Mantel erschien, dem sein breitkrempiger großer Hut bei einer Körperbewegung vom Kopfe fiel.

Das Sextett begann. Sänger und Orchester entfalten sich. Edgard rast vor Wut; sein glockenklarer Tenor dominiert, Ashton[273] schleudert ihm in wuchtigen Tönen seine Todesdrohungen entgegen, Lucia klagt in schrillen Schreien, Arthur bleibt im Maße der Nebenrolle, und Raimunds Baß brummt wie Orgelgebraus. Die Frauen des Chores wiederholen die Worte, ein köstliches Echo. Gestikulierend stehen sie alle in einer Reihe. Zorn, Rachgier, Eifersucht, Angst, Mitleid und Erstaunen entströmen gleichzeitig ihren aufgerissenen Mündern. Der wütende Liebhaber schwingt seinen blanken Degen. Der Spitzenkragen wogt ihm auf der schwer atmenden Brust auf und nieder, während er mächtigen Schrittes in seinen sporenklirrenden Stulpenstiefeln über die Bühne schreitet.

›Er muß eine unerschöpfliche Liebe in sich tragen,‹ dachte Emma, ›daß er sie an die Menge so verschwenden kann.‹ Ihre Anwandlung von Geringschätzigkeit schwand vor dem Zauber seiner Rolle. Sie fühlte sich zu dem Menschen hingezogen, der sie unter dieser Gestalt berauschte. Sie versuchte, sich sein Leben vorzustellen, sein bewegtes, ungewöhnliches, glänzendes Leben, an dem sie hätte teilnehmen können, wenn es der Zufall gefügt hätte. Warum hatten sie sich nicht kennen gelernt und sich ineinander verliebt! Sie wäre mit ihm durch alle Länder Europas gereist, von Hauptstadt zu Hauptstadt, hätte mit ihm Mühen und Erfolge geteilt, die Blumen aufgelesen, die man ihm streute, und seine Bühnenkostüme eigenhändig gestickt. Alle Abende hätte sie, im Dunkel einer Loge, hinter vergoldetem Gitter aufmerksam den Sängen seiner Seele gelauscht, die einzig und allein ihr gewidmet wären. Von der Szene, beim Singen, hätte er zu ihr geschaut ...

Sie erschrak und ward verwirrt. Der Sänger sah zu ihr hinauf. Kein Zweifel! Sie hätte zu ihm hinstürzen mögen, in seine Arme, in seine Umarmung fliehen, als sei er die Verkörperung der Liebe, und ihm laut zurufen:

»Nimm mich, entführe mich! Komm! Ich gehöre dir, nur dir! Dir gelten alle meine Träume, mein ganzes heißes Herz!«

Der Vorhang fiel.

Gasgeruch erschwerte das Atmen, und das Fächeln der Fächer[274] machte die Luft noch unerträglicher. Emma wollte die Loge verlassen, aber die Gänge waren durch die vielen Menschen versperrt. Sie sank in ihren Sessel zurück. Sie bekam Herzklopfen und Atemnot. Da Karl fürchtete, sie könne ohnmächtig werden, eilte er nach dem Büfett, um ihr ein Glas Mandelmilch zu holen.

Er hatte große Mühe, wieder nach der Loge zu gelangen. Das Glas in beiden Händen, rannte er bei jedem Schritte, den er tat, jemanden mit den Ellenbogen an. Schließlich goß er dreiviertel des Inhalts einer Dame in ausgeschnittener Toilette über die Schulter. Als sie das kühle Naß, das ihr den Rücken hinabrann, spürte, schrie sie laut auf, als ob man ihr ans Leben wolle. Ihr Gatte, ein Rouener Seifenfabrikant, ereiferte sich über diese Ungeschicktheit. Während seine Frau mit dem Taschentuche die Flecke von ihrem schönen roten Taftkleide abtupfte, knurrte er wütend etwas von Schadenersatz, Wert und Bezahlen. Endlich kam Karl glücklich bei Emma wieder an. Gänzlich außer Atem berichtete er ihr:

»Weiß Gott, beinahe hätt ich mich nicht durchgewürgt! Nein, diese Menschheit, diese Menschheit!« Nach einigem Verschnaufen fügte er hinzu: »Und ahnst du, wer mir da oben begegnet ist? Leo!«

»Leo?«

»Jawohl! Er wird gleich kommen, dir Guten Tag zu sagen!«

Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als der Adjunkt auch schon in der Loge erschien. Mit weltmännischer Ungezwungenheit reichte er ihr die Hand. Mechanisch streckte Frau Bovary die ihrige aus, wie im Banne eines stärkeren Willens. Diesen fremden Einfluß hatte sie lange nicht empfunden, seit jenem Frühlingsnachmittage nicht, an dem sie voneinander Abschied genommen. Sie hatte am Fenster gestanden, und draußen war leiser Regen auf die Blätter gefallen. Aber rasch besann sie sich auf das, was die jetzige Situation und die Konvenienz erheischten. Mit aller Kraft schüttelte sie den alten Bann und die alten Erinnerungen[275] von sich ab und begann ein paar hastige Redensarten zu stammeln:

»Ach, guten Tag! Wie? Sie hier?«

»Ruhe!« ertönte eine Stimme im Parkett. Inzwischen hatte nämlich der dritte Akt begonnen.

»So sind Sie also in Rouen?«

»Ja, gnädige Frau!«

»Und seit wann?«

»Hinaus! Hinaus!«

Alles drehte sich nach ihnen um. Sie verstummten.

Von diesem Augenblick war es mit Emmas Aufmerksamkeit vorbei. Der Chor der Hochzeitsgäste, die Szene zwischen Ashton und seinem Diener, das große Duett in D-Dur, alles das spielte sich für sie wie in großer Entfernung ab. Es war ihr, als klänge das Orchester nur noch gedämpft, als sängen die Personen ihr weit entrückt. Sie dachte zurück an die Spielabende im Hause des Apothekers, an den Gang zu der Amme ihres Kindes, an das Vorlesen in der Laube, an die Plauderstunden zu zweit am Kamin, an alle Einzelheiten dieser armen Liebe, die so friedsam, so traulich und so zart gewesen war und die sie längst vergessen hatte. Warum war er wieder da? Welches Zusammentreffen von besonderen Umständen ließ ihn von neuem ihren Lebenspfad kreuzen?

Er stand hinter ihr, die Schulter an die Logenwand gelehnt. Von Zeit zu Zeit schauerte Emma zusammen, wenn sie den warmen Hauch seiner Atemzüge auf ihrem Haar spürte.

»Macht Ihnen denn das Spaß?« fragte er sie, indem er sich über sie beugte, so daß die Spitze seines Schnurrbarts ihre Wange streifte.

»Nein, nicht besonders!« entgegnete sie leichthin.

Daraufhin machte er den Vorschlag, das Theater zu verlassen und irgendwo eine Portion Eis zu essen.

»Ach nein! Noch nicht! Bleiben wir!« sagte Bovary. »Sie hat aufgelöstes Haar! Es scheint also tragisch zu werden!«[276]

Aber die Wahnsinnsszene interessierte Emma gar nicht. Das Spiel der Sängerin schien ihr übertrieben.

»Sie schreit zu sehr!« meinte sie, zu Karl gewandt, der aufmerksam zuhörte.

»Möglich! Jawohl! Ein wenig!« gab er zur Antwort. Eigentlich gefiel ihm die Sängerin, aber die Meinung seiner Frau, die er immer zu respektieren pflegte, machte ihn unschlüssig.

Leo stöhnte:

»Ist das eine Hitze!«

»Tatsächlich! Nicht zum Aushalten!« sagte Emma.

»Verträgst du's nicht mehr?« fragte Bovary.

»Ich ersticke! Wir wollen gehen!«

Leo legte ihr behutsam den langen Spitzenschal um. Dann schlenderten sie alle drei nach dem Hafen, wo sie vor einem Kaffeehause im Freien Platz nahmen.

Anfangs unterhielten sie sich von Emmas Krankheit. Sie versuchte mehrfach, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, indem sie die Bemerkung machte, sie fürchte, Herrn Leo könne das langweilen. Darauf erzählte dieser, er müsse sich in Rouen zwei Jahre tüchtig auf die Hosen setzen, um sich in die hiesige Rechtspflege einzuarbeiten. In der Normandie mache man alles anders als in Paris. Dann erkundigte er sich nach der kleinen Berta, nach der Familie Homais, nach der Löwenwirtin. Mehr konnten sie sich in Karls Gegenwart nicht sagen, und so stockte die Unterhaltung.

Aus der Oper kommende Leute gingen vorüber, laut pfeifend und trällernd: ›O Engel reiner Liebe!‹

Leo kehrte den Kunstkenner heraus und begann über Musik zu sprechen. Er habe Tamburini, Rubini, Persiani, Crisi gehört. Im Vergleich mit denen sei Lagardy trotz seinen großen Erfolgen gar nichts.

Karl, der sein Sorbett mit Rum in ganz kleinen Dosen vertilgte, unterbrach ihn:

»Aber im letzten Akt, da soll er ganz wunderbar sein! Ich bedauere,[277] daß ich nicht bis zu Ende drin geblieben bin. Es fing mir gerade an zu gefallen!«

»Demnächst gibts ja eine Wiederholung!« tröstete ihn Leo.

Karl erwiderte, daß sie am nächsten Tage wieder nach Hause müßten. »Es sei denn,« meinte er, zu Emma gewandt, »du bliebst allein hier, mein Herzchen?«

Bei dieser unerwarteten Aussicht, die sich seiner Begehrlichkeit bot, änderte der junge Mann seine Taktik. Nun lobte er das Finale des Sängers. Er sei da köstlich, großartig!

Von neuem redete Karl seiner Frau zu:

»Du kannst ja am Sonntag zurückfahren. Entschließe dich nur! Es wäre unrecht von dir, wenn du es nicht tätest, sofern du dir auch nur ein wenig Vergnügen davon versprichst!«

Inzwischen waren die Nachbartische leer geworden. Der Kellner stand fortwährend in ihrer nächsten Nähe umher. Karl begriff und zog seine Börse. Leo kam ihm zuvor und gab obendrein zwei Silberstücke Trinkgeld, die er auf der Marmorplatte klirren ließ.

»Es ist mir wirklich nicht recht,« murmelte Bovary, »daß Sie für uns Geld ...«

Der andere machte die aufrichtig gemeinte Geste der Nebensächlichkeit und ergriff seinen Hut.

»Es bleibt dabei! Morgen um sechs Uhr!«

Karl beteuerte nochmals, daß er unmöglich so lange bleiben könne. Emma indessen sei durch nichts gehindert.

»Es ist nur ...« stotterte sie, verlegen lächelnd, »ich weiß nicht recht ...«

»Na, überleg dirs noch! Wir können ja noch mal darüber reden, wenn du's beschlafen hast.« Und zu Leo gewandt, der sie begleitete, sagte er: »Wo Sie jetzt wieder in unserer Gegend sind, hoffe ich, daß Sie sich ab und zu bei uns zu Tisch ansagen!«

Der Adjunkt versicherte, er werde nicht verfehlen, da er ohnehin demnächst in Yonville beruflich zu tun habe.

Als man sich vor dem Durchgang Saint-Herbland voneinander verabschiedete, schlug die Uhr der Kathedrale halb zwölf.


Quelle:
Flaubert, Gustave: Frau Bovary. Leipzig 1952, S. 268-278.
Lizenz:
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