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Es ist schwer, die erste Liebe festzustellen; hat man sie oder glaubt man sie zu haben, so findet sich in der Regel, daß es noch eine allererste gab. Ein verstorbener Freund von mir war denn auch wirklich bei dieser retrospektiven Untersuchung bis an sein viertes Lebensjahr zurückgeraten.
Mit der ersten literarischen Arbeit verhält es sich ähnlich. Wenn man eben seinen Erstgebornen in einem auf liniiertem Papier geschriebenen Geburtstagskarmen entdeckt zu haben glaubt, ergibt sich plötzlich, daß man schon anderthalb Jahre vorher zu einer Wilhelm-Tell-Puppentheatervorstellung einen Prolog gedichtet hat, drin, unter mehr oder weniger deutlilichen Anspielungen auf Klassenlehrer, Tyrannenmord als einziges Rettungsmittel gepredigt wird. Wirklich, es ist schwer, seinem ersten literarischen Sündenfall ein präzises Datum zu geben. Ich laß es aber darauf ankommen und bemächtige mich ohne weitres eines Sonnabendnachmittags, an dem ich, als Untertertianer, eine Fußpartie nach dem mir durch Familienbeziehungen bekannten und befreundeten Dorfe Löwenbruch hin unternahm, um mich daselbst, einen Tag lang, all meiner Schulsorgen, unter denen ein »Deutscher Aufsatz nach selbstgewähltem Thema« voranstand, zu entschlagen.
Löwenbruch liegt drei Meilen südlich von Berlin und ist eines jener vielen Teltowplateaudörfer, durch die König Friedrich Wilhelm I. eine prächtige Doppelallee von Kastanien und Linden ziehen ließ, um, wenn er von Potsdam aus nach dem Duberow-Walde bei Königswusterhausen fuhr, immer einen grünen Schirm zur Seite zu haben. Er kam freilich, was seine Person angeht, nicht recht in die Lage, sich dieser schönen Anlage zu freun (es dauert eben lange, bevor Bäume sich dankbar erweisen), jetzt aber, nach anderthalb Jahrhunderten, spenden die damals gepflanzten Kastanien und Linden uns Nachgeborenen einen reichen Schatten, und jeder, der in heißen Sommertagen diese Dörferreihe passiert, wird des grünen Schirmes froh und segnet den König, unbeschadet[189] der Tatsache, daß man sich bei seinen Lebzeiten vor ihm fürchtete.
Nach diesem schattigen Löwenbruch hin also richteten sich meine Schritte, dessen prächtige Bäume samt saurer Milch und gelben Pflaumen – eine Zusammenstellung, vor der ich keinen Augenblick erschrak – mein Leben wieder froh machen sollten.
Es war ein scharfer Nachmittagsmarsch. Etwa gegen drei war ich am Halleschen Tor, dem zu jener Zeit noch zwei griechisch angekränkelte Torhäuser als architektonische Zierde dienten, und passierte gleich den trägen Nebenlauf der Spree, der damals, statt der späteren Bezeichnung »Kanal«, noch den anspruchsloseren Namen »Schafgraben« führte. Dahinter kamen Kreuzberg und Tempelhof, auch noch andre Dörfer, bis ich, angesichts von Groß-Beeren, auf einem zusammengeharkten Haufen kleiner Chausseesteine Rast machte. Neben mir erhob sich eine Pappel, dran ich, zu größerer Bequemlichkeit, mich anlehnte. Die Sonne war eben im Untergehen, und über den schon wieder umgepflügten Acker, der in voller Breite vor mir lag, zogen dünne Nebel und bewegten sich langsam auf die leis ansteigende Großbeerner Kirchhofshöhe zu. Die Kirche selbst, von der scheidenden Sonne beschienen, stand im letzten Tagesschimmer.
Über ebendies Feld hin waren zwanzig Jahre früher (es stimmte fast auf den Tag) unsre preußischen Bataillone, meist Landwehr, unter strömendem Regen angerückt, auch auf jene Großbeerener Kirche zu, denselben Weg, den jetzt die Nebel zogen.
Es war nicht viel, was ich von der Schlacht als solcher wußte, nur das eine, daß der König von Schweden bis hinter die Spree zurückgewollt, General von Bülow aber ihm geantwortet hatte, er würde vorziehn, die Gebeine seiner Landwehrmänner vor als hinter Berlin bleichen zu sehn. Auch das wußt ich, daß da, mehr nach rechts hin, ein Prinz von Hessen-Homburg – ganz wie sein Ahnherr bei Fehrbellin – an der Entscheidung teilgenommen und den Hügel, auf dem sich jetzt die Windmühle drehte, mit ein paar havelländischen Bataillonen genommen hatte. Dazu kamen noch ein paar Namen:[190] Gagern, Thümen, Borstell. Mehr aber als all dies auf die Schlacht selbst Bezügliche war mir, aus frühesten Kindheitserzählungen her, ein kleiner Vorgang in Erinnerung geblieben, den meine Mutter, am Tage nach der Großbeeren-Affäre, persönlich erlebt hatte. Die war damals, noch halb ein Kind, mit auf das Schlachtfeld hinausgefahren, um den Verwundeten Hilfe zu leisten, und der erste, dessen sie gewahr geworden, war ein blutjunger Franzose gewesen, der – kaum noch einen Atemzug in der Brust – sich, als er sich plötzlich in seiner Sprache angeredet hörte, wie verklärt aufgerichtet hatte. Dann mit der einen Hand den Becher Wein, mit der andern die Hand meiner Mutter haltend, war er, eh er trinken konnte, gestorben.
Als ich bei Dunkelwerden in Löwenbruch ankam und eine Stunde danach mich behaglich in meinem Bette streckte, kam mir die Frage: »Wäre das nicht ein Stoff?«
Und kaum in meine Berliner Pensionsöde zurückgekehrt, schrieb ich den unter meinen Schulsorgen obenanstehenden »Deutschen Aufsatz nach selbstgewähltem Thema« im Fluge nieder, ein phantastisches Skriptum, dem es, die Wahrheit zu gestehn, an Anklängen an die Zedlitzsche »Nächtliche Heerschau« nicht fehlte. Der Tambour ging in einem fort wirbelnd um, und die Knochenhände streckten, mehr als nötig, die langen Schwerter empor. Denn Kavallerie war kaum zur Aktion gekommen.
Nach acht Tagen erhielt ich aus den Händen Philipp Wackernagels, meines hochverehrten Lehrers, meinen Aufsatz zurück, und wer beschreibt mein Entzücken, als ich, der ich bis dahin über ein »vidi W.« nie hinausgekommen war, jetzt zum ersten und leider auch einzigen Male las: »Recht gut. W.«
Daß meine »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« auf dieses »Recht gut« zurückzuführen seien, will ich nicht gerade behaupten, aber daß der Aufsatz, der den forschen Titel: »Auf dem Schlachtfelde von Groß-Beeren« führte, meine erste Wanderung durch die Mark Brandenburg gewesen ist, das ist richtig.