Zehntes Kapitel

[466] Ja, diese Ferienwoche! Thilde war wie nicht zum Wiedererkennen und schien eine Verschwenderin geworden.

»Hugo, das ist nun unsre Flitterwoche, wenn ich mir solch Wort, das uns eigentlich nicht zukommt, erlauben darf. Aber ich will es mir erlauben. Es ist so schön, solche Erinnerung zu haben, und ich denk es mir hübsch, wenn wir mal alt geworden sind, von solcher Zeit sprechen zu können. Und drum muß alles wie Sonnenschein sein, und wir wollen es so recht genießen.«

Hugo hielt Thildens Hand und sagte: »Das ist recht, Thilde; das freut mich, daß du so sprichst. Ich dachte, du hättest so nicht den rechten Sinn dafür, für die Freude, für das süße Nichtstun, was doch eigentlich das Beste bleibt.«

Thilde hielt es nicht für klug, ihn eines andern [zu] belehren; sie schwieg unter freundlichem Lächeln, und Hugo fuhr fort: »Und dachte, du wärest immer nur für Pflicht und Ordnung und Stundehalten, was mir, sosehr es mir gefiel, doch auch wieder ängstlich war, weil man auch im Guten zuviel tun kann. Und nun sehe ich, daß ich eine heitre, lebenslustige Braut habe. Ja, das ist beinah mir die Hauptsache. Nun sage, was nehmen wir heute vor? Aber wähle nicht ängstlich und[466] sprich nicht von Geld und bescheidnen Verhältnissen. Wenn man sich verlobt hat, da darf man in nichts ängstlich sein und muß einem zumute sein, wie wenn man das Tischleindeckedich hätte.«

»Nun«, sagte sie, »dann wollen wir ins Opernhaus, Proszeniumsloge. Vielleicht haben wir den Kaiser vis à vis.«

»Ach, Thilde, so darfst du nicht sprechen. Ein bißchen Spott is gut, das kleidet. Aber nicht so. Da werd ich wieder irr an dir.«

»Nun, dann wollen wir zu Kroll und uns die Weihnachtspantomime ansehn.«

Er stimmte freudig zu, fragte dann aber: »Und die Mutter? Werden wir sie mitnehmen müssen?«

»Wir werden es ihr wenigstens anbieten müssen. Vielleicht, daß sie nein sagt. Ich bekenne, daß ich gerne mit dir allein wäre. Solche Freude genießt sich am schönsten zu zweien.«

Hugo war glücklich. Er entdeckte Seiten in seiner Braut, die ihm Perspektiven auf ein höheres und feineres Glück eröffneten, als er an jenem Abend des ersten Geständnisses erwartet hatte. Was damals in ihm lebte, war eine Dankbarkeit, war ein weiches, sentimentales Gefühl, in dem die voraufgegangne Krankheit noch nachspukte. Jetzt schien es ihm, daß Thilde warmer Gefühle fähig sei, vielleicht sogar einer Leidenschaft. Und seine Brust hob sich.

So begann die Festwoche. Man ging zu Kroll und vergnügte sich ganz leidlich, trotz Gegenwart der Mutter, die nach anfänglicher Ablehnung ihren Entschluß geändert hatte, als sie hörte, daß »Schneewittchen und die sieben Zwerge« gegeben würde. Thilde war eigentlich froh darüber; der Alten eine Freude zu machen war ihr eigentlich wichtiger als alles andre. Was sie da von »Genießen zu zweien« gesprochen hatte, war nur so hingesagt, weil sie wußte, daß Hugo gerne so was hörte.

Am zweiten Feiertage fuhr man in einer offnen Droschke, deren Vorbau den Wind abhalten mußte, nach Charlottenburg hinaus, aber nicht die große Chaussee hinunter, sondern auf einem weiten Umwege erst an der Rousseau-Insel und dann am Neuen See vorüber. Auch hier war Mutter Möhring zugegen.[467]

Es war rührend, die alte Frau zu sehn. Am Neuen See stieg man einen Augenblick aus, um die Schlittschuhläufer besser zu sehn. Am meisten freute sie sich über die vielen Flaggen und Fahnen, aber bloß über die großen. Von den vielen kleinen meinte sie, sie sähn aus wie Taschentücher auf der Leine. Möhring habe auch solche bunten gehabt, weil er immer am Schnupfen gelitten habe.

So brachte jeder Tag was Neues. Das Glanzstück war aber ein Diner apart bei Hiller, zu dem auch Rybinski geladen war, natürlich mit Braut. Bei diesem Diner fehlte die Alte, weil sie, wohl in Folge der Fahrt durch den Tiergarten und zu langen Stehens im Schnee, um die Schlittschuhläufer besser sehn zu können, ihren Hexenschuß gekriegt hatte. Hugo war damit zufrieden und diesmal auch Thilde, die bald einsehn mußte, daß Hiller kein Lokal für die Mutter war.

Rybinski sprach von seinen neusten Bühnentriumphen und machte damit einen großen Eindruck auf seinen Freund und Landsmann, was Thilde mit Sorge sah. Es kam ihr aber Hülfe. Bella, die die ganze Kunstfrage großartig superior behandelte, lachte beständig, wenn das Wort Talent fiel, und sagte, das gänzliche Fehlen davon sei es ja gerade, was ihr ihren Hans so unaussprechlich teuer mache. Talent! Talente gäbe es so viele, sie erschräke schon immer, wenn sie von einem neuen höre, aber es gäbe nur einen Hans von Rybinski. Der wöge ihr zehn Talente auf; sie sei für das schön Menschliche und in der Liebe für das Übermenschliche.

»Glaubt ihr nicht«, sagte Rybinski gutmütig, »mein Kosinsky hat ihr Herz erobert. Ein mir unvergeßlicher Moment. An demselben Abende begann unser Glück.«

»Da sagt er die Wahrheit. Aber warum war es so? Als Kosinsky war er er selbst. Schade, daß die Rolle nicht bedeutender ist und daß man sie drüben nicht recht kennt. Ich ginge sonst mit ihm nach Amerika rüber, immer querdurch, und wenn wir bei San Francisco wieder herauskämen, wären wir Millionäre. Jeden Tag bloß Kosinsky mit Polenmütze und Silbersporen.«[468]

Rybinski trank auf das Brautpaar, und Hugo hätte diesen Toast in gleicher Form eigentlich erwidern und auch von einem »Brautpaar« sprechen müssen. Das konnt er aber doch nicht übers Herz bringen und begnügte sich, die Kunst leben zu lassen und zwei liebenswürdige und befreundete Herzen und dergleichen mehr.

Und nun ging die Weihnachtswoche zu Rüste, der 31. Dezember war da, und die Frage war, ob man in eine Silvestervorstellung mit Schlußakt im Café Bauer gehn oder aber zu Hause bleiben und einen guten Punsch machen und gießen wolle. Man entschied sich für das letztre, weil die alte Möhring zwar schon wieder außer Bett war, aber doch immer noch Schmerzen hatte. Geladen wurde nur der Vetter Architekt, und Ulrike sollte ganz wie am Weihnachtsabend aufwarten. »Die Alte kann ich nicht sehn«, hatte Hugo erklärt. Das mußte berücksichtigt werden, aber man wollte sie doch auch nicht ganz weglassen, und so saß sie draußen in der Küche und hielt den großen Blechlöffel, in dem Thilde das Blei schmolz. Als diese gegossen hatte, konnte nur noch die Frage sein, was es sei. Die Runtschen hielt es für eine »Krone«, Ulrike aber ging weiter und sprach von »Wiege«. Mathilde, die Verlegenwerden albern fand, bestritt Ulrikens Auslegung und behauptete nur, »das ginge nicht«, worauf Ulrike meinte: »Gott, Fräulein, es geht alles.« Denn Ulrike war eine sehr schlaue Person, die ihr Geschlecht kannte. Nur freilich bei Thilde verfing es nicht.

Diese ging mit der »Krone«, oder was es sonst war, in das Vorderzimmer zurück, wo man eine Weile weiterorakelte, bis Hugo die Gläser mit einem guten, nach eignem Rezept gemachten Punsch füllte. Seines Vaters Haus war berühmt in Punsch gewesen. Der Alte hatte solche Spezialitäten. Und nun nahm der Vetter Architekt wie schon am Weihnachtsabend wieder das Wort und trank auf ein glückliches neues [Jahr].


Es war noch nicht viel nach Mitternacht, als Mutter und Tochter wieder allein in ihrem Zimmer waren. Es war etwas[469] stickig, eine merkwürdige Luftmischung von Punsch, Wachsstock und türk'schem Tabak, so daß Thilde sagte: »Mutter, wenn es dir nicht schadet, ich möchte wohl das Fenster noch ein bißchen aufmachen.«

»Ja, mach auf, Thilde. Was soll es mir am Ende schaden. Und dann ist mir auch so sonderbar zumut und so feierlich, und weil grade Neujahrsnacht ist, ich möchte wohl die Singuhr spielen hören. Die spielt immer so was Schönes und Frommes.«

Thilde rückte der Alten einen Lehnstuhl ans Fenster, aber so, daß sie der Zug nicht traf. Dann sagte sie: »Ja, Mutter, die Singuhr. Du denkst immer noch, du wohnst Stralauer Straße; da wohnen wir doch aber nich mehr. Und dann, Mitternacht is ja nu schon lange vorbei, und die Singuhr muß sich doch auch ein bißchen ausruhn.«

»Ja, du hast recht, Thilde. Ich vergeß es immer. Ich weiß nicht, ich bin doch noch nicht so alt, aber ich bin schon so taprig, mitunter denk ich, es is gar kein Unterschied mehr zwischen der Runtschen und mir.«

»Das mußt du nich sagen, Mutter. Du hast überhaupt so was Kleines und Ängstliches. Und man muß sich nicht zu klein machen, dann machen einen die Leute immer noch kleiner.«

»Ja, das is schon richtig, aber man muß sich auch nich zu groß machen, und daß wir die Ulrike wieder hier hatten, die bloß immer die Augen so schmeißt und immer denkt, sie is es, und die alte Runtschen mußte draußen sitzen und den Gieße-Löffel halten, und ich sah woll, wie ihr die Hand zitterte, weil sie recht gut gemerkt hat, daß wir sie hier vorne nich mehr sehn wollen – ja, Thilde, das is, wo ich so sage, man soll sich auch nich zu groß machen. Und wenn du sagen willst, daß wir es nich sind und daß bloß unser Herr Hugo es nich will, ja warum will er es nich? Daß sie das Pflaster hat, na, das is ein Unglück, und die meisten haben eins. Und ich sage dir, Hochmut kommt vorm Fall. Und so hoch ist er doch auch nich.«

»Ach, Mutter, was du da wieder alles redst. Na, nachher davon. Aber nu komm erst in die Schlafstube, hier zieht es[470] doch ein bißchen. Und wenn du nicht willst, na, dann bleibe noch, aber das Fenster will ich wieder zumachen.«

»Ja, Thilde, das tu, ich kriege sonst mein Reißen wieder.«

»Und das mit der Runtschen und mit Hugo, da hast du ganz unrecht, und ich freue mich, daß er so is, wie er is.«

»Ja, es is aber doch wie ein hartes Herz und eine Grausamkeit...«

»Ach Unsinn, Mutter. Wenn der ein hartes Herz hat, hat jedes Kaninchen auch eins. Ein zu weiches Herz hat er, das is es, und das muß ich ihm abgewöhnen. Denn die, die ein zu weiches haben, sind immer faul und bequem und können auch nich anders, weil alles was hier sitzt, keinen rechten Schlag hat.«

»Meinst du, Thilde?«

»Ja, Mutter, wenn man verlobt ist, hört man ja mit unter den Schlag, weil man sich so nahe kommt, und geht auch nicht anders, und wenn man anders wollte, so wär es wie Ziererei. Ja, was denkst du, was er für 'n Herzschlag hat? Wie 'ne Taschenuhr.«

»Am Ende war es auch so.«

»Nein, es war sein Herz. Und das einzige Gute ist, und deshalb is das so wichtig mit der Runtschen, wenn er was Häßliches sieht, dann schlägt es besser, und dann hat er ein starkes menschliches Gefühl und beinah männlich, und ein so guter Mensch er ist, das Liebste an ihm ist mir doch, daß er immer einen so furchtbaren Schreck kriegt, wenn er den Runtschen[schen] Kiepenhut sieht und all das andre. Es ist mir ja leid. Aber er steht mir doch näher, und du glaubst gar nich, wie wichtig das is. Sieh, Mutter, mit einem schwachen Menschen ist eigentlich nich recht was zu machen. Aber man muß auch nich zuviel verlangen, und wenn einer bloß so viel hat, daß er sagen kann: ›Thilde, die Runtschen muß draußen bleiben‹, so is das schon ganz gut. Denn wer so furchtbar gegen das Häßliche ist, der kommt auch zu Kräften, wenn er was sehr Hübsches sieht.«

»Ach, Thilde, das is ja das allerschlimmste, das kenn ich auch, damit komme mir nich.«[471]

»Ja, Mutter, gerade damit komm ich. Du denkst immer bloß an Ulriken und an Schultzen unten. Aber das is nich die richtige Hübschigkeit, das is, was man das Untre nennt...«

»Ja, ja.«

»Das Untre, das Niedre. Daneben gibt es aber auch was, das ist das Höhere. Und sieh, wer das hat, der kann auch das Schwache stark machen. Lange vor hält es wohl nich, aber es kommt doch, es ist doch da. Und wie er gegen das Häßliche is, so is er auch gegen das Schlechte, und wie er für das Hübsche is, für das richtige Hübsche, so is er auch für das Gute. Und ist sogar für Tugend, ich habe die Beweise davon. Und dies habe ich dir alles sagen müssen, damit du mir nich wieder mit der Alten draußen kommst. Daß er so gegen die Runtschen is, das ist mein Hoffnungsanker. Und nu komm, Mutter, es ist ja schon über eins, und morgen is ein schwerer Tag für mich. Denn morgen is die Ferienwoche vorbei, und morgen muß ich ihn ins Gebet nehmen.«

»Ach Gott, Thilde, was soll nun wieder ins Gebet nehmen. Mitunter is mir doch recht bange. Und so geht es nun ins neue Jahr rein, und unser bißchen Erspartes wird immer weniger. Er is ja nich ein Studierter, er is ja doch bloß ein alter Studente.«

»Ja, das is er. Aber laß nur gut sein. Wenn ich auch nich viel aus ihm mache, so viel doch, daß ich ihn heiraten kann und daß ich dir alle Monate was schicken kann und daß ich einen Titel habe.«


Der erste Januar war ein wundervoller Wintertag, alles überreift und übereist, aber nicht sehr kalt und eine helle Sonne am blauen Himmel. Hugo war früh auf, so früh, daß Möhrings noch schliefen; er ging hinüber, klopfte an das Schlafzimmer, und als er Thildens etwas erschreckte Stimme gehört hatte, rief er durch die Türspalte, daß er sein Frühstück in den Zelten nehmen wolle. »Das tu«, sagte Thilde, während die Alte vor sich hin brummelte: »Jott, so fängt er nu an, so is nu Neujahr.« Hugo hörte aber nichts davon, er drückte schon die Entreetür ins Schloß und überließ es Thilden, die Alte ein bißchen zurechtzusetzen.[472]

»Mutter, mit dir is auch gar nichts; du denkst immer gleich an Feuermelder und Hinrichtung. Ich bin doch nu verlobt und seine Braut, und ich muß dir sagen, du mußt nu wirklich ein bißchen anders werden.«

»Ja, ja, Thilde, ich will ja.«

»Sieh, du schadest uns. Ich habe dir neulich gesagt, wir seien keine ›kleinen Leute‹, die Runtschen sei kleine Leut, und das ist auch richtig, aber wenn du immer gleich so weimerst, dann sind wir auch ›kleine Leute‹. Wir müssen nu doch ein bißchen forscher sein und so, was man sagt, einen guten Eindruck machen...«

»Ach, Thilde, es kost' ja alles soviel. Wo soll es denn herkommen.«

»Dafür will ich schon sorgen. Und wenn nicht einen forschen Eindruck, so doch einen anständigen und gebildeten. Aber weimern is ungebildet.«

»Un so fängt nu das neue Jahr an«, wiederholte die Alte, »so mit Zank und Streit und mit In-die-Zelten. Und ich glaube, so früh kriegt er noch gar keinen Kaffee. Die Zelten sind ja bloß für Nachmittag.«

»Ach, er wird sich schon durchschlagen; in so was is er findig.«


Hugo genoß den schönen Morgen. Er war glücklich, mal wieder einen weiten Spaziergang machen zu können, denn seit dem Tage, daß er krank wurde, war er nicht hinausgekommen. Er freute sich über alles und wußte nur nicht recht, ob es das Bräutigamsgefühl oder bloß das Rekonvaleszentengefühl sei. »Es wird wohl das Rekonvaleszentengefühl sein, aber es ist am Ende gleich.« Er ging bis über Bellevue hinaus, und erst auf dem Rückwege machte er sich's in dem mittleren Zelte, wo der Alte Fritze mit dem Krückstock an der Barre steht, bequem. Dabei hing er seinen Gedanken nach und überlegte: »Heute früh kriegen sie nun meinen Brief, Mutter und Schwester, und dann wird es ein großes Gerede geben. Aurelie ist ein sehr gutes Mädchen und auch nicht eng und nicht kleinlich, aber sie[473] hat doch so 'n sonderbares Honoratiorengefühl, oder eigentlich nicht sonderbar. Und wenn sie nu liest, daß ich mich mit einer Chambre-garnie-Tochter verlobt habe, so wird sie die Nase rümpfen und von Philöse sprechen. Und vielleicht schreibt sie mir auch so was. Na, ich muß es hinnehmen. Möhrings sind sehr gut, auch die Alte so auf ihre Art, aber wenn sich einer mokieren will, dann kann er's. Schließlich schadet es nichts. Man kann sich über alles mokieren. Und wenn Aurelie Thilden sieht, wird sie sich vielleicht auch wundern. Thilde hat nichts Verführerisches, aber das ist doch auch ein Glück; wenn sie so was hätte, wohin sollte das sonst führen, bei so weiten Aussichten und so täglichem Verkehr. Und auch schon jetzt, ich muß mich vor Intimitäten hüten. Sie hat was Herbes, aber das kann angelegte Rüstung sein. Im übrigen weiß ich, was ich mir und andern schuldig bin.«


Es war schon zwölf, als er wieder nach Hause kam. Er hatte noch an der Ecke der Friedrichsstraße eine Litfaßsäule durchstudiert und war zu dem Resultat gekommen, daß sie den Abend über in den Reichshallen verbringen wollten, wo eine Luftkünstlerin merkwürdige Sachen aufführen wollte. Sie war auch abgebildet auf dem Zettel, ein leichtes Kostüm, eigentlich nur eine Andeutung, und flog durch die Luft. »Ich sehe gern so was«, sagte er, als er von der Säule her in die Friedrichsstraße einbog. »Es ist sonderbar, daß mir alles Praktische so sehr widerstreitet. Man kann es eine Schwäche nennen, aber vielleicht ist es auch eine Stärke. Wenn ich solche schöne Person durch die Luft fliegen sehe, bin ich wie benommen und eigentlich beinah glücklich. Ich hätte doch wohl so was werden müssen, ausübender Künstler oder Luftschiffer oder irgendwas recht Phantastisches. Oder Tierbändiger, das hat von klein an einen besondren Reiz für mich gehabt. Es soll auch alles nicht so gefährlich sein, wie's aussieht; sie machen sich etwas Moschus oder Zibet ins Haar, dann schnappt er nicht zu. Gott, wenn Thilde wüßte, daß ich so verwegne Gedanken habe. Nun, Gedanken sind zollfrei, und es zieht nur so über mich hin. Wenn[474] ich ernsthaft zusehe, seh ich, daß alles lächerlich ist. Tierbändiger. Und dabei hat mich Thilde in Händen; sie denkt, ich merke es nicht, aber ich merke es recht gut. Ich laß es gehn, weil ich es so am besten finde. Schließlich is man, wie man is... Und wenn ich nur so leidlich bequem durchkomme...«

Bei dieser Stelle seiner Betrachtung war er bis vor Schultzes Palazzo angelangt und sah hinauf. Schultze stand in Samtschlafrock und türkischem Fez am Fenster und grüßte gnädig hinunter, wobei er seinen Fez zog. Hugo erwiderte den Gruß, war aber nicht sehr erbaut davon, weil sich in dem Ganzen was von Überhebung aussprach, jedenfalls nicht viel Respekt. Und nun stieg er hinauf. Das Messingschild eine Treppe hoch war glänzend geputzt, und ein Hausmädchen mit kokettem Häubchen und Tändelschürze, das Schultze selbst ausgewählt hatte, stand auf dem Vorflur am Treppengeländer und sah in den Hausflur hinunter. Als Hugo vorüberging, wandte sie sich und grüßte sehr artig, aber mit einem Gefühl von Überlegenheit über ihn oder eigentlich über Thilde. Hugo fühlte es heraus und kam ziemlich kleinlaut oben an. Ein Glück war, daß er solchen Stimmungen ebenso rasch entrissen werden konnte, wie sie ihm kamen. Als er oben war, dachte er wieder an die Reichshallen und das Bild auf dem Zettel, und wieder gehoben in seiner Stimmung, trat er in das Entree, legte den Überzieher ab und ging zu Möhrings hinüber.

Er fand nur Thilde, die merkwürdig gut aussah und sich ihm in einem neuen Kleide präsentierte. Die Alte war nicht da.

»Guten Tag, Thilde, und viel Glück zum Neujahr. Aber wo ist denn die Mutter?«

»Die wollte zwei Neujahrsbesuche machen bei Schmädickes und bei Donners. Das sind noch alte Hausbekannte, als wir noch in der Stralauer Straße wohnten.«

»Davon hab ich ja nie gehört.«

»Kann auch nich. Sie machen sich nichts aus uns, und wir machen uns nichts aus ihnen, sehr langweilig und sehr ungebildet, aber Mutter hat so alte Sätze: ›Man soll alte gute Freunde nicht aufgeben‹, als ob es alte Freunde wären. Aber es sind[475] keine, bloß alt sind sie, das is richtig, aber alle Neujahr geht Mutter hin. Ich denke mir, es is ein bißchen Neugier. Und nu sage, wo warst du?«

Hugo berichtete getreulich, und während sich Thilde auf das Sofa und Hugo dicht neben sie setzte, sprach er auch von der Litfaßsäule und daß sie heut abend in die Reichshallen wollten, da wäre die »Tochter der Luft«, eine pompöse Person und doch ganz ätherisch. Die Mutter könne ja gut mitkommen.

Thilde sah ihn an und lächelte. Dann nahm sie seine Hand und sagte: »Reichshallen. Nein, Hugo, das ist nun vorbei. Wir waren nu von Heiligabend bis Silvester jeden Tag aus oder hatten unsern Punsch, und einmal waren wir in einem ganz feinen Lokal, ich möchte beinah sagen über unsren Stand und unsre Verhältnisse; aber nun ist es genug, und nu müssen wir anfangen.«

»Ja womit denn, Thilde?«

»Nimm es mir nicht übel, aber so was kannst nur du fragen. Willst du mir erlauben, dir offen meine Meinung zu sagen, und willst du mir versprechen, mir nichts übelzunehmen und von vornherein davon auszugehn, daß ich's gut meine mit dir und allerdings auch mit mir.«

»Gewiß, Thilde. Sprich nur, ich weiß ja, daß es immer was Vernünftiges ist, was du sagst. Mitunter ein bißchen zu sehr. Aber in dieser Woche habe ich dich auch von der lebelustigen Seite kennengelernt.«

»Und das sollst du auch weiter, Hugo. Ich bin gar nicht so schlimm und so schrecklich vernünftig, wie manche glauben. Ich bin auch für Sichputzen und für Vergnügen. Aber mit Arbeit muß es anfangen. Daß wir arme Leute sind, weißt du, und daß du nicht reich bist, weißt du auch. Zweimal null macht null. Und mit Null kann man nicht in teure Lokale gehn und nicht einmal die Tochter der Luft sehn. Wir sind nun verlobt, und ich bin glücklich, einen so guten und einen so hübschen Mann zu haben, und bin sicher, daß ihn mir viele nicht gönnen, die Rätin unten gewiß nicht und die Frau Leutnant Petermann auch nicht. Das sind neidische alte Weiber. Und das schöne[476] blonde Frauenzimmer unten mit der Spitzhaube sieht mich auch immer so an. Nu, Neid macht glücklich, und ich bin es. Aber Stillstand ist Rückschritt, sagte mein Vater das Jahr vor seinem Tode, als er keine Weihnachtszulage gekriegt hatte.«

»Du hast ganz recht«, unterbrach Hugo.

»Freilich hab ich recht. Aber du sagst das nur, weil du nicht weiter zuhören willst. Ich weiß das. All so was, was doch schließlich wichtiger ist als Kosinsky, womit ich aber nichts gegen unsren Schiller gesagt haben will, all so was hörst du nicht gern, es soll alles bloß hübsch aussehn und glattgehn und bequem sein. Nu gewiß, Bequemlichkeit ist immer das bequemste, versteht sich, und ich kann dir sagen, wenn früher die Herren um sieben ihren Kaffee wollten, und einen hatten wir, der war schon immer um Klock sechse auf, und ich mußte dann raus und Kien spalten und mit einem Tuch übern Kopf zu Bäcker Pfannschmidt, um die Semmeln zu holen, ich kann dir sagen, da hätt ich mich auch lieber noch mal rumgedreht und das Kissen übers Kinn gezogen, denn es war ein bitterkalter Winter, und ich bibberte man so...«

»Na, Thilde, das is nu vorbei.«

»Ja, das sagst du so hin, vorbei. Was heißt vorbei. Verlobt sind wir, das heißt also, wir wollen doch mal heiraten und in eine christliche Ehe eintreten. Darum muß ich bitten. Komme mir nicht so mit so bloß drüberhin. Dafür bin ich nicht. Alles muß sein Vergnügen haben, aber auch seinen Ernst. Und der Ernst kommt erst. Und da wir doch nicht als Herr und Frau Student oder Kandidat, was eigentlich dasselbe ist, durch die Welt gehen können, schon deshalb nicht, weil, wer kein Amt und keinen Dienst hat, auch kein dienstliches Einkommen hat, was wir doch haben müssen, wenn wir leben wollen und eine Familie bilden wollen...«

»Ach, Thilde, das ist ja noch weit hin...«

»... Also leben wollen, so mußt du für das sorgen, was zum Leben nötig ist, das heißt, du mußt nun endlich dein Examen machen und nicht immer die Bücher beiseite schieben und die ›Gespenster‹ lesen, was übrigens, wie es sein Titel schon ausdrückt,[477] ein greuliches Stück ist. Dein Examen machen, sag ich, je eher, je lieber. Und von morgen ab wird angefangen...«

»Aber wie denn?«

»Ganz einfach. Statt an die Reichshallen und die Tochter der Luft zu denken, denkst du an dein Repetitorium, was du während deiner Krankheit ganz vergessen hast, und schon vorher war es auch nicht viel, und du bezahltest bloß und gingst spazieren. Aber nun mußt du wirklich hingehn. Und abends, ihr habt da ja solche Fragehefte mit beigeschriebner Antwort, was ich alles auf deinem Stehpult habe liegen sehn, abends kommst du zu Mutter und mir herüber und kannst dich auch auf die Chaiselongue legen, wenn es dir paßt, und dich mit deiner alten Reisedecke, mit dem Löwen drauf, zudecken. Und wenn du so daliegst, werd ich dir die Künste abfragen und nicht eher ruhen, als bis du mir Red und Antwort stehen kannst und alles ganz genau weißt wie am Schnürchen.«

»Aber Thilde.«

»Verlaß dich drauf. Wenn es was werden soll, so kommst du und legst dich hin oder kannst auch sitzen bleiben, und ich frage dich. Und heute abend, wenn dir so sehr daran liegt, kannst du noch mal die ›Tochter der Luft‹ sehn. Aber ich gehe nicht mit, ich habe vorläufig keinen Sinn für dergleichen, und morgen abend fangen wir an.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 7, Berlin und Weimar 21973, S. 466-478.
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