|
[397] Die Befürchtungen erfüllten sich schnell. Sophie, die trotz Widerspruch des Arztes die Pflege leitete, schrieb jeden Abend eine Karte nach Haus, in der sie – schon der Tante halber, die die Zeilen vielleicht lesen mochte – zunächst immer nur betonte, »daß noch keine Gefahr sei«. Sie war aber nur zu sehr da, und den siebenten Tag nach Beginn der Krankheit traf ein Brief bei der Mama ein, der dahin lautete:
»Heute mittag ist Onkel Eberhard gestorben; während der Nacht war er noch in großer Unruhe, dann fiel er im Laufe des Vormittags in einen apathischen Zustand, und kurz vor zwölf ist er eingeschlafen. Von Anfang an war wenig Hoffnung,[397] weniger, als ich Dir aussprechen mochte. Ich habe viel an ihm verloren, aber nicht ich nur; wir werden ihn alle sehr vermissen, vielleicht Wendelin ausgenommen, der seinen Weg auch so macht. Über manches, was diese Tage mich sonst noch erleben ließen, mündlich ausführlicher. Ich freue mich, Euch alle wiederzusehen, vor allem Dich, meine liebe gute Mama. Daß Ihr kommt, nehme ich als sicher an. Die Tante wünscht es dringend, und ich glaube, wir müssen ihre Wünsche respektieren. Erst aus Klugheit und dann, weil sie's so sehr verdient. Das Beigeschlossene bittet sie freundlichst aus ihrer Hand annehmen zu wollen und hofft, daß es ausreichen werde, die Reise sowie alles übrige zu bestreiten. Was ich brauche, wird aus Breslau kommen. Ihr werdet am besten übermorgen abend abreisen. Dann seid Ihr am zwölften in aller Frühe hier. In der Mittagsstunde soll die Beisetzung erfolgen.
Deine Sophie«
Die Gefühlsbewegung, als Manon diesen Brief vorgelesen hatte, war bei den drei Damen eine nicht geringe, bewegte sich aber doch nach sehr verschiedenen Seiten hin. Die Mutter hing ganz einer herzlichen Trauer nach, die noch reiner gewesen wäre, wenn sich nicht manche bange Zukunftssorge mit eingemischt hätte; Manon, trotz aller Verehrung und Liebe für den Onkel, empfand es schmerzlich, einer gerade für den zwölften bei Bartensteins angesetzten Soiree nicht beiwohnen zu können, während sich Therese nur von einer Vorstellung beherrscht fühlte: von dem Gedanken an das ihr lediglich als eine Haupt- und Staatsaktion erscheinende Begräbnis. Sie sah sich nicht nur bereits in der vordersten Reihe der Leidtragenden, sondern lebte auch ganz dem Hochgefühle, daß die Repräsentation der Poggenpuhlschen Familie – die beiden alten Damen, als nur angeheiratete, zählten kaum mit – einzig und allein auf ihr beruhe. Dies Hochgefühl sah sich allerdings durch den dem Briefe beigelegten Tausendmarkschein auf Augenblicke beeinträchtigt, aber die Vorzüge lagen andrerseits auch wieder so klar zutage, daß das Bedrückliche schnell hinschwand,[398] besonders nachdem man sich untereinander dahin geeinigt hatte, daß Therese in die Stadt fahren und dort die Trauergarderobe besorgen solle. Nächst dem Begräbnis selbst erschien allen dieser Besuch in einem Trauermagazin als der bedeutungsvollste Moment, und die Miene, mit der sich die ältere Schwester zu dieser Fahrt anschickte, hatte etwas so ausgesprochen Distinguiertes, daß selbst Manon davon berührt und zu einer Art Huldigung hingerissen wurde.
Dieses Gefühl machte freilich rasch einer entgegengesetzten Empfindung Platz, als Therese von ihrer Fahrt zurückkehrte. Die Kleider, so berichtete sie, würden bis morgen früh geliefert werden, kleine Änderungen seien leicht zu bewerkstelligen; alles andre aber habe sie gleich erstanden und in einem großen Karton mitgebracht. Es waren dies Krepphüte, lange schwarze Schleier und drei Trauerhauben mit einer tiefen Stirnschnebbe.
»Gehst du davon aus«, sagte Manon, »daß wir diese Hauben mit Schnebbe wirklich tragen sollen?«
»Eine sonderbare Frage.«
»Das heißt also ›ja‹?«
Therese nickte.
»Nun, dann erlaube mir, dir zu sagen, daß ich mich davon ausschließen werde.«
»Das wirst du nicht. An solchem Tage wenigstens wirst du dich auf das besinnen, was du deinem Namen schuldig bist.«
»Ich weiß, was ich meinem Namen schuldig bin.«
»Und das wäre?«
»Wenn es sein kann, nicht ins Ridiküle zu fallen.«
»Was in deinen Augen worin besteht?«
»... Uns à tout prix als Königinwitwe herauszustaffieren. Wir sind einfach die Nichten eines alten Generals.«
»Des Generals von Poggenpuhl. Ich wenigstens stehe in der alten guten Tradition.«
»Aber nicht in der des guten Geschmacks.«
Man erhitzte sich immer mehr; zuletzt sollte die Mama entscheiden. Diese lehnte das aber ab. »Ich bin nicht bewandert genug in derlei Fragen und weiß nicht, ob es paßt oder ob es[399] zuviel ist. Ich denke mir, wir nehmen die Kartons mit und richten uns nach dem Ausspruch der Tante.«
Dies fand Zustimmung, und als am andern Morgen die gleich »wie angegossen« sitzenden Kleider erschienen, wurde vor dem langen schmalen Spiegel, in dem man sich gemustert und gegenseitig befriedigend gefunden hatte, der schwesterliche Friede neu besiegelt.
»Er war doch ein herrlicher Mann«, sagte Manon.
»Das war er, und sein Andenken sei gesegnet. Aus meinem Herzen kann sein Bild nie wieder schwinden.«
Um zehn Uhr ging der Nachtzug, vom Friedrichsstraßenbahnhof aus, ab. Schon vor neun stand man in voller Reisetoilette da, bei der Manon, die sehr gut aussah, auf einen zufällig vorhandenen Krimstecher nur ungern verzichtet hatte. Sie sagte sich aber, daß es »stillos« sein würde (stillos war eine Lieblingswendung Floras), und als sie dies erlösende Wort gefunden hatte, wurde ihr der Verzicht auch leichter. Friederike befand sich mit im Vorzimmer, um zu helfen, wenn die Mäntel umgenommen werden sollten; es war aber immer noch viel zu früh, und man kam in Verlegenheit, wie die Zeit hinzubringen sei. Das benutzte die Majorin, um noch eindringlich eine Rede zu halten.
»Ich kann dir nur sagen, Friederike, sei vorsichtig und denke daran, was alles vorkommt. Erst gestern stand wieder was drin.«
»Ich weiß ja, gnäd'ge Frau. Aber man is doch auch kein Kind mehr.«
»Und wenn es klingelt, mache nicht gleich auf und schiebe dir lieber erst eine Fußbank ran, daß du durchs Oberfenster sehen kannst, wer eigentlich draußen ist...«
»Ja, gnäd'ge Frau.«
»Und wenn du aufmachst, immer noch die Kette vor und immer bloß durch die Ritze... Neulich ist erst wieder eine Witwe totgemacht worden, und wenn du gleich alles aufreißt, kann es dir auch passieren, oder sie streuen dir Schnupftabak[400] in die Augen, oder sie haben auch einen Knebel, und du kannst nicht mal schreien. Und dann rauben sie alles aus...«
»Ach Gott, gnäd'ge Frau, die wissen ja immer gut Bescheid, hier kommen sie nicht.«
»Sage das nicht. Die denken auch, wer das Kleine nicht ehrt, ist des Großen nicht wert. Immer besser bewahrt als beklagt!«
Friederike versprach alles, und nun trennte man sich.
Eine Droschke – die Portierfrau hatte sich dazu verstanden, eine von der Ecke her herbeizuholen – hielt schon vor der Tür, und nach nochmaligem Abschied von Friederike ging es auf die Potsdamer Straße zu.
Morgens gleich nach fünf kam der Zug in Schmiedeberg an, von dem aus es nur eine kleine Stunde bis Adamsdorf war. Johann hielt in einem offenen Wagen am Bahnhofe; der große Koffer kam nach vorn, die alte Majorin in den Fond, ebenso Therese; Manon dagegen saß auf dem Rücksitz und freute sich über das Landschaftsbild. Die Sonne war noch nicht auf, die Berge ringsum aber röteten sich schon, und dazu ging eine frische Luft. Alles versprach einen schönen Herbsttag.
Auch Therese war ganz hingenommen davon, und als die Berglinien immer schärfer und klarer hervortraten, deutete sie darauf hin und sagte, sich von ihrem Sitz erhebend: »Das also ist das Riesengebirge?«
Johann, an den sich diese Frage richtete, fand sich in dem ungewohnten Worte nicht gleich zurecht und sagte deshalb: »Ja, da links, das ist die Koppe.«
»Die Schneekoppe?«
»Ja, die Koppe.«
Manon amüsierte sich, daß der Kutscher auf das Bildungsdeutsch ihrer älteren Schwester nicht recht eingehen wollte, während Therese selbst ihrer Lieblingsvorstellung von der Volksbeschränkung behaglich nachhing.[401]
Es war gerade sechs, als der Wagen vor Schloß Adamsdorf hielt. Ein Diener half den Damen beim Aussteigen, und gleich nach ihm erschien Sophie, die sichtlich erfreut war, alle drei wiederzusehen, Therese mit eingeschlossen, trotzdem diese sich etwas reserviert zeigte. Sie fand nämlich den Empfang anders als erwartet und vermißte namentlich die Tante.
»Wo ist die Tante?« fragte sie. »Doch nicht krank?«
»Nein, nicht krank«, erwiderte Sophie, die sofort erriet, was in Theresens Seele vorging. »Die letzten Tage waren so schwere Tage. Da will sie sich ausruhen, solange es irgend geht. Sie hat mich gebeten, sie zu entschuldigen.«
»Arme Verwandte«, sagte Therese mit halblauter Stimme vor sich hin.
Danach stiegen alle die breite Treppe hinauf in den ersten Stock, wo zwei Fremdenzimmer hergerichtet waren, ein großes und ein kleines, beide nebeneinander und die Zwischentür auf, nur durch eine schwere Portiere geschlossen. In dem großen Zimmer sollte die Mama mit Manon schlafen, in dem kleineren Therese. Die Auszeichnung, die darin lag, söhnte diese halb wieder aus.
»Und nun könnt ihr euch«, sagte Sophie, »noch volle zwei Stunden ausruhen. Oder soll ich euch gleich ein Frühstück aufs Zimmer schicken, und ihr geht dann im Park spazieren, bis die Tante kommt? Es ist am schönsten des Morgens.«
Manon und die Mama schienen auch wirklich zu schwanken, namentlich erstere, die von »Morgenspaziergängen im Park« eine hohe Vorstellung hatte. Therese hielt es aber für unklug, diese Dinge zu sehr zu betonen und zu tun, als ob man dergleichen noch nie gesehen habe; die Güter in Pommern, die sie kannte, hatten doch schließlich auch ihre Paris, und so sagte sie denn, es wurde wohl das beste sein, dem Beispiel der Tante zu folgen und für das, was der Tag noch alles bringen müsse, nach Möglichkeit Kräfte zu sammeln.[402]
Ausgewählte Ausgaben von
Die Poggenpuhls
|
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro