Virginia an Adele

[9] Am Bord des »Washington«.

Im Hafen von Marseille, den 20. August 1814


Wie wirst Du erschrocken sein, arme Adele, als Du mein Zimmer leer fandest? Wie verstohlen und mit immer steigender Angst wirst Du Dich nach mir erkundigt haben, fast mehr fürchtend, meine Spur zu finden als sie zu verlieren. Glaube mir, diese Vorstellung hat mich sehr gequält. Gern hätte ich Dir mein Vorhaben vertraut. Es wäre mir so süß gewesen, mich noch einmal scheidend an die Brust zu legen, an der ich oftmals meine stummen Tränen barg! Aber wie durft ich wagen, die Last dieses Geheimnisses auf Deine zarte Seele zu wälzen. Woher hättest Du die Fassung genommen, Deiner Mutter das gewöhnliche, kindlich fröhliche Mädchen zu zeigen? oder mit Unbefangenheit dem Späherblicke Deines Vaters zu begegnen? Nein, ich konnte Dir diese Angst nicht ersparen, ich glaube vielmehr, ich habe sie abgekürzt. Während Du sorglos schliefest, dann ahndetest, hofftest, zweifeltest, trennten uns schon Berge und Täler; ach! und wenn Du diesen Brief erhältst, liegt das Weltmeer zwischen uns, und ich bin außer der Gewalt der Menschen, nur in der Gewalt Gottes und seiner Elemente. Ihm, dem Allmächtigen, übergebe ich mich; nur der Willkür der Menschen widerstrebt mein Herz, es hat zuviel unter ihren rohen Händen gelitten. Ihre triumphierenden Blicke könnten mich bis ins Grab treiben. Triumphierend? worüber denn? War's ihr Verdienst? O nein! Ihre Schlechtigkeit, ihre[9] Ränke haben wohl mitgewirkt, dessen mögen sie sich nicht überheben. Aber auch die Schlechtigkeit ihrer Gegner, die Selbstsucht aller, zufällige Ereignisse – was weiß ich? Am Ende Gott. Wohl, wohl! Ohne seine Zulassung geschieht nichts. Aber warum er es zuläßt? wozu? Da liegt's. Mit der Beantwortung sind die meisten so fertig da, als habe der Ewige mit ihnen darüber beratschlagt, und nur wenige fühlen es lebendig, daß Irren das gemeine Los der Sterblichen ist, daß das Warum vielleicht erst halb in künftigen Jahrhunderten, ganz erst in der Ewigkeit begriffen wird. Soviel aber ist mir Armen klar, daß alles dies nimmermehr geschah, damit die P... s und O... s wieder in den Vorsälen der Bourboniden glänzen möchten oder die M... s und R... s auf ihren ehemaligen Schlössern wieder schwelgen und Bauern quälen könnten. Noch viel weniger, damit die Güter der Montorins und Polignys durch die Hände Deiner einfachen Virginia und des zierlichen Louis vermählt würden. Vergib mir, teure Adele! er ist Dein Bruder; aber hat er Dein Herz? Und wenn selbst – nimmer, nimmer! Und wohnte auch in meiner Seele kein fremdes Bild – nimmer! nimmer! Er ist nicht der Sohn meines Vaterlandes, wie wollte er mein Gefühl verstehen, wie das schonen können, was er verdammt? O mein armes verratenes, zerrissenes, verlassenes Vaterland! auch Virginia muß dich verlassen, mit blutendem Herzen verlassen. Wäre sie ein Mann, sie würde bleiben und kämpfen; vielleicht könnte sie dir noch etwas nützen, und wär's auch nur mit ihrem Blute. Aber ein Weib, ein unterjochtes Weib? Qualvolles, nutzloses Leben; dazustehen im Kampf der Parteien, beobachtet in jeder Miene, gemißhandelt um jeder unfreiwilligen Träne, beargwohnt um jedes Wort, am meisten beim duldenden Schweigen! Nein, Vaterland, ich muß dich verlassen! Schweigen könnte ich. Aber nein, ich soll reden, reden in ihrem Sinne. Nicht genug. Eine Bekehrungsgeschichte meines Innern müßte ich erlügen, verdammend anklagen meine angebornen Gefühle,[10] abschwörend dartun die ererbten Ansichten meines trefflichen Vaters. Unglückliches Weib! Der Mann kämpft für seine Meinung und macht sich Bahn; das Weib soll keine Meinung haben. – Wie oft, fröhliche Adele, habe ich Dich beneidet, daß Deine Gedanken nur den engen Raum zwischen der letzten Oper und dem nächsten Ball durchliefen; und doch strafte mich sogleich ein (wie mir schien) besseres Selbstgefühl. Du begriffst mich nicht, wenn Du meine Wange erblassen, mein Auge weinen sahst; doch liebten wir uns so herzlich, Du mit dem kindlich unbekümmerten Gemüt, ich mit der Erkenntnis, daß nur zufällige Umstände uns so verschieden gebildet und Liebe und Güte selbst das Ungleichste binden können. Oh, meine Adele! noch immer seh ich Dich, als Du zum erstenmal übers Meer herübergekommen warst und an der Hand Deiner Mutter in unser Zimmer tratest, ein freundliches, engelschönes Kind, kaum acht Jahre alt. Wie flog mein Herz Dir da entgegen, der jüngeren lieblichen Schwester; wie dankte ich dem Vater, daß er Euch durch seinen rastlosen Eifer die Rückkehr bewirkt. Oh, wäret Ihr doch nimmer wieder geschieden! Dann hättest Du mich ganz verstehen lernen mit zunehmenden Jahren, und spätere Ereignisse wären Dir nicht unbekannt. So aber riß die Lebenswoge uns schon wieder auseinander, als Du kaum das zwölfte Jahr vollendet, und dem seltenen, gefährlichen Briefwechsel war nichts Bedeutendes zu vertrauen, weniger noch dem stets beobachteten Gespräch in den letzten Monden unserer Wiedervereinigung. Und doch treibt mich ein unwiderstehlicher Drang, Dir mein ganzes Innerstes zu zeigen. Ich folge ihm; die Einsamkeit einer Seereise gibt mir volle Muße.

Ja, eine Seereise. Und weit, sehr weit. In das Land der Freiheit schiffe ich hinüber. Wo mein Vater als Jüngling kämpfte unter dem Panier der Freiheit, wo mein hochherziger Oheim, für sie blutend, starb, da ist mein zweites Vaterland. Amerika! Amerika! Schon erhebt sich ein[11] frischer Ostwind, alles eilt an Bord. So lebe denn wohl, Adele! Dieser Brief muß ans Land. Ach, zum letzten Male sehe ich den mütterlichen Boden, der mich gebar; seine freundlichen Rebenhügel, das frohe Treiben im Hafen von Marseille. Zum letzten Male schallen die muntern Lieder der Fischer zu mir herüber. Oh, es ist schwer, von der Heimat zu scheiden! Schwer, wie das Sterben! Sterben ist ja auch nur eine Reise nach unbekannter Küste, ohne Wiederkehr. Lebe wohl, Adele! Lebe wohl, mein Frankreich!

Quelle:
Henriette Frölich: Virginia oder Die Kolonie in Kentucky. Berlin 1963, S. 9-12.
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