I

[27] Mein Vater war Kammerdiener bei Herzog Christian. Da sein Vater Schneider gewesen war, glaubte er es hoch gebracht zu haben; mit mir, seinem einzigen Sprossen, wollte er aber höher hinaus: in Amt und Würden. Bis in seine letzte Stunde träumte er von einem Geheimderat aus dem[27] Stamme der Klösterley. Warum sollte sein Sohn im Herzoglichen nicht gradatim eine Karriere machen, wie er sie dessen Landsmann und ungefähren Altersgenossen, den Junker von Brühl, im Kurfürstlich-Königlichen bei kaum sprossendem Bart eitel lustig von Sprung zu Sprunge machen sah?

Im Pagendienst, wie das freiherrliche Hätschelkind allerhöchster Laune, konnte der Enkel des ehrsamen Schneidermeisters seinen Glückslauf freilich nicht antreten; sein Weg führte weniger vergnüglich durch das Alumnat einer vormaligen Klosterschule, und wennschon er anjetzo ein Fürstenschüler hieß, begann er im philosophischen Umgang mit den freiheitsstolzen Alten, dem er alldort, vom Hahnenruf bis das Talglicht ausgeblasen wurde, obzuliegen hatte, sich seines höfischen Ursprungs zu schämen. Ob er sich desselben auch geschämt haben würde, wenn sein Vater anstatt Kammerdiener eines Herzogs dessen Kammerherr gewesen wäre, soll ununtersucht bleiben; desgleichen der Beweggrund, welcher ihm die ehrsame Schneiderzunft seines Großvaters nicht weniger empfindlich machte als die väterliche Lakaienschaft. Ein römischer Bürger, nicht ein deutscher Bürgersmann war Christian Klösterleys jugendliches Traumgespinst.

Ich habe ein Menschenalter vor dir voraus, du, mein Weib, aus dessen reiner Hand dieses Vermächtnis dereinst in die eines, will's Gott! Glücklicheren als ich übergehen soll; und ich blicke auf ein Jahrhundert zurück, das in deutschen Landen aus den Aschenhaufen einstiger Kultur wenig andere Blüten treiben sah als die Giftblumen üppiger Hofeslust. Der Glaube an Fürstengröße und Fürstentugend hätte in unserem Volke ersticken müssen, wenn nicht[28] – zugleich seine Schwäche und seine Stärke – die Gewohnheit der Untertänigkeit und der Trieb der Treue unausrottbar in ihm gewurzelt hätten. In mir waren beide erstickt. Ich sollte aber nicht ausleben, ohne zu einem großen Fürsten, welcher der Feind meines Landes war, in Bewunderung aufzublicken und vor einem tugendhaften Fürsten, den ich als meinen persönlichen Feind haßte, in reuevoller Zerknirschung meine Augen niederzuschlagen.

Die Erfahrung dieser späten reuevollen Ehrfurcht ist es, welche ich diesen Blättern anvertraue, gleich zeitig als Beichte für eine schwere, heimliche Schuld und als Dankeszoll für eine köstliche Gottesgabe. Gibt es doch keine größere Wohltat inmitten der Wehetaten des Lebens, keinen erhebenderen Trost für ein an Schöpfung und Schöpfer verzweifelndes Herz, als die Erkenntnis eines wahrhaft guten Menschen. Und ich weiß auch keine natürlichere Basis für die Verheißung unserer Unsterblichkeit. Denn wenn man die Masse der Menschheit sich so unverdrossen im Schlamme der niedrigsten Bedürfnisse wälzen sieht und jenes Bruchteil von ihr, welches das glückliche heißt, mit so viel Behagen im Blütenmoder seiner Lüste, da fragt man sich wohl in höhnendem Grimm, was denn eigentlich von diesen aufrechtschreitenden Bestien im Jenseit weiterleben soll? Der aber, welcher ohne Ermatten nach der Gottähnlichkeit strebt und, soweit es einem Irdischen gegeben ist, sie erreicht, der kann, nein, er kann nicht im Grabe aufgehört haben. Du lebst, mein Edler, du lebst in Gott!

Ich war ein fleißiger Schüler gewesen, allein schon dazumal kein fröhlicher Gesell. Ein in mich gekehrter Sinn soll, wie mein Vater es erklärte, mir eingeboren worden sein in meiner ersten Lebensstunde, die meiner Mutter letzte[29] gewesen. Trauriges Eingebinde, wenn es eines war, und nicht vielmehr die mähliche Wirkung einer mutterlosen, liebelosen Kindheit; denn mein Vater war mit Hand und Sinn anderweitig zuviel beschäftigt, als daß ich mich ihm vertraulich hätte anschließen können.

Meiner Neigung nach hätte ich studiert, am liebsten Humaniora; allenfalls aber auch die Rechte, so kläglich es um das Recht jener Zeit bestellt war und leider heute noch ist. Mein Vater jedoch war keineswegs gewillt, jahrelang schwere Unkosten zu bestreiten, um einen Rektor oder Amtmann aus dem Ei der Wissenschaft kriechen zu lassen. Er hielt die Schnüre seines Säckels fest und hatte manchmal wohl mehr darin als der flottlebige Herr, dem er das Waschbecken füllte und die Perücke puderte. »Redet Geld, so schweigt die Welt«, lautete eines seiner Worte. Der Gelehrsamkeit war kostenfrei im Alumnat genuggetan, die Praxis erlernte sich in der Kanzlei. Wer, wie Christian Klösterley, der Taufpate eines Herzogs war und sich eines Fürsprechers erfreute, der tagsüber wie zu nachtschlafender Zeit in jeglicher Leibesnot und Lust alert auf der Lauer stand, um sein cæterum censeo zu Gehör zu bringen, der durfte wahrlich sich den akademischen Umweg und die Examina ersparen, ja er brauchte nicht einmal von Adel zu sein, um im Verwaltungswesen sich von Pöstchen zu Posten, von Söldchen zu Sold emporzuschwingen, allgemach als Herr Amtshauptmann dem Regimente näher und zu guter Letzt als Herr Geheimderat dem Throne am nächsten zu steigen. So mein Vater.

Ich entgegnete mit der Würde eines römischen Bürgers, daß Gunst nimmer Kunst ersetze, daß ich zum Höfling nicht das Zeug und nach Gnadenbrot kein Verlangen[30] habe. Der Herr Vater lachte mich aus oder schalt mich auch einen Querkopf, einen alles Besserwisser und, wenn er ernstlich böse ward, einen Republikaner. Für gewöhnlich begnügte er sich indessen mit dem Kalmäuser, der also, von väterlichen Lippen stammend, mein stehender Spitzname geworden ist, wie ich zugestehen muß, mit Grund. Wir unterhandelten. Mein Vater war bei aller Geschmeidigkeit in seinem Amt ein eisenfester Mann, obendrein mein Erzeuger und Ernährer, – Eigenschaften, die ein Kalmäuser, wie überhaupt den Pflichtenpunkt, respektiert –; das Ende vom Liede demnach, daß der Zögling des Plutarch vor dem Meister der Toilettenkunst die Segel strich, froh genug, für seine Lehrjahre das Forstfach durchzusetzen. Man wohnte im Freien, und ich hatte in meiner wohlgelegenen Klosterschule die Natur lieben gelernt; man schaffte zumeist freilich am grünen Tisch, inzwischen doch aber auch im grünen Wald, regierte neben der Feder eine Waffe, hatte Muße, außer einem munteren Rößlein seinen Tacitus und Äschylos zu tummeln, und durfte in einsamer Freiheit die Schneider- und Lakaienabstammung vergessen. Bei meinem Vater mochte den Ausschlag die Betrachtung geben, daß von allen Allerhöchsten Passionen die Jagd die allerhöchste und deren Profession daher für eine Günstlingskarriere die ersprießlichste sei.

Ich schreibe nicht meinen Lebenslauf, sondern nur die Episode desselben, welche für euch wie für mich selbst die einzige bemerkenswerte ist. Es genügt daher zu sagen, daß ich ein Jahrzehnt hindurch, vom Schreiber bis zum Revisor aufwärts, in verschiedenen Oberforstmeistereien des Herzogtums, sonder Aufwand von Kunst noch Studium, mein Wesen trieb. Von Waldkultur war gar nicht,[31] von Wildkultur wenig die Rede. Die Bäume wuchsen von selbst, die Tiere nährten sich auf dem bäuerlichen Acker, waren fruchtbar und mehreten sich. Meine Pflicht und Schuldigkeit beschränkte sich darauf, mit mehr oder minder gewissenhafter Buchung möglichst hohe Erträge von Holzschlägen und Wildhandel an die nimmersatte Hofkammer abzuliefern, den Wilddieben gehörig auf den Dienst zu passen, bei einem allerhöchsten Jagddivertissement den allerhöchsten Standort so ergiebig wie ungefährlich auszuwählen und die treibenden Fröner demgemäß zu dirigieren – sapienti sat.

Ob nun meine schreib- und rechenkünstlerische Beflissenheit darob zu rühmen ist oder lediglich das cæterum censeo meines väterlichen Kato: kurzum, nach einer zehnjährigen Schule im grünen Wald und am grünen Tisch wurde mir der Vorzug, an die Spitze der Hofkämmerei berufen zu werden; will sagen: bei dem Mißverhältnis der Durchlauchtigen Gemütsflut zu der konstanten Ebbe von Dero Schatulle auf einen schier desperaten Posten.

Warum ich ihn annahm? Warum Gracchus Sempronius sich zum Fürstendiener aus dem Grundtext erniedrigte? Aus geschmeichelter Eitelkeit ob Rangerhöhung und Titulatur? Aus dem für einen Römer so wenig wie für einen Deutschen unnatürlichen Verlangen, etwas mehr von der Welt als Wald und Wild kennen zu lernen? Ob aus hilflosem Erbarmen mit den unsinnig gefällten urwüchsigen Bäumen, meiner Herzenslust, und den verzweifelnd sich wehrenden jagdfrevelnden Bauern, meiner tagtäglichen Qual? Ob lediglich aus der Schwachheit eines Kalmäusers gegenüber väterlicher und landesväterlicher Autorität? – Gelten viele Gründe für einen Grund: – ich nahm an.[32]

Der Forstrevisor Klösterley fungierte nunmehr als Serenissimi Geheimer Kämmerier, item Rechenknecht, schlug sich mit Advokaten und Juden herum, begleitete, wie ein unentbehrlicher Pudel den Blinden, richtiger ausgedrückt: als ein recht bärbeißiger Zerberus, seinen durchlauchtigen Herrn Paten auf Lust- und Vetternreisen, zu Revüen und Jagdpartien an verschiedene Höfe, die ein Klein-Versailles hießen, lernte alldort, wie am heimischen Hofe von Klein-Dresden und Klein-Warschau, »die Blüte der deutschen Menschheit« aus dem ff kennen, will sagen, weil aus bürgerlichem Abstand just aus der richtigen Sehweite, und wurde von Sonnenwende zu Sonnenwende immer gründlicher zum kalmäusernden Rebellen.

Ein Jahrzehent hielt ich auch diese dritte Lehrzeit aus, die unfruchtbarste von allen. Endlich aber schwollen Ekel und Galle bis zum Überlauf. Bei einem Anlaß, der nicht hierher gehört, setzte ich Serenissimus den Stuhl vor die Tür, das heißt meinen Stuhl vor die seine, und als er mir zu bleiben befahl, wurde ich grob. Eine der trefflichsten deutschen Eigenschaften, die Grobheit! Leider eignete sie mir nur bei einem hohen innerlichen Temperaturgrad. Ob aus Unverträglichkeit mit der eingepfropften klassischen Würde oder dem eingeborenen väterlichen Blut, bleibe wiederum dahingestellt.

Das freie Amerika, in welchem die englischen Republikaner Zuflucht und ein neues Vaterland gefunden hatten, begann jenerzeit in Deutschland die mißvergnügten Köpfe zu locken. Auch den meinen. Besser im Urwald mich mit wilden Rothäuten, als in fürstlichen Prunkgemächern mit den Launen überfeiner, insolventer Schuldner und den Forderungen insolenter Gläubiger zu Tode zu hetzen![33]

Ich war allenfalls noch jung genug für solch abenteuerndes Unterfangen, ein Mann in seinen besten Jahren, will sagen das Schwabenalter kaum über schritten. Mein Vater, kürzlich verblichen, hatte mir aus fürstlichen Salärs und Douceurs einen Spar- und Heckepfennig hinterlassen, der ein Vermögen genannt werden durfte. Ohne Geschwister und nahe Anverwandte, ohne Freunde, fehlten mir sogar die Gewohnheitsnachbarn, welche der Reformator der Bitte um das tägliche Brot einverleibt hat, welche aber für einen Schloßinsassen weiße Sperlinge sind. Vom Serenissimus abwärts bis zum Heiducken reckt man sich über die Köpfe der Unterstehenden hinweg zu den Zehenspitzen der Höherstehenden hinan, zu beiden Seiten ist kahler Raum. Ich für mein Teil war indes noch übler daran als die allgemeine Kategorie; denn verkehrte ich nicht wie sie mit einem meinesgleichen, so streckte ich mich auch nicht wie sie zu einem Häuptling empor. Ich war ein einsamer Mann, ledig jedes Bandes, jeder Pflicht.

Es soll an dieser Stelle bemerkt sein, daß ein Kalmäuser nicht notwendigerweise auch ein Misogyn oder Ehefeind sein muß. Ich zum wenigsten war es keineswegs. Dennoch hatte ich an Heiraten bisher niemals gedacht. Während meines Waldlebens fehlte mir wie die Gelegenheit, so der geziemende Platz für eine Frau; ein Bürgerlicher im Hofdienst aber bleibt naturgemäß Junggesell, und das jus hagestolziatus, wo es überhaupt oder zurzeit noch bestand, hätte für ihn außer Kraft gesetzt werden müssen. Die feinen Damen, die er stündlich vor Augen sieht, reizen sein Wohlgefallen nicht selten bis zum Verlangen; zum Weibe jedoch möchte er keines dieser Püppchen haben, selbst wenn es ihn als Notbehelf, für seinesgleichen, achten[34] wollte. Die dagegen, welche seinesgleichen sind, gefallen ihm nicht, weil ihnen das gebricht, was ihn an den zierlichen Püppchen reizt. Dachte ich bei einem Gemahl auch durchaus nicht als Römer an eine Kornelia oder Portia, sondern als deutscher Mann an ein deutsches Weib – wo fand ich das Traumbild eines holden Naturkindes verwirklicht, das häuslichen Sinnes, doch ohne küchenrote Backen und aufgesprungene Hände seine Muttersprache in reinen Lauten redete? Um so besser, daß ich es nicht gefunden. Die Heimat im Urwald schickte sich für einen ledigen Mann, nicht für einen Familienvater.

Überaus verdrießlich wurde ich daher überrascht, als ich statt der Bestätigung meines Abschiedsgesuches – notabene ohne Pensionsbeanspruchung – einen neuen Dienstantrag erhielt. Man bot mir den Aufsichtsposten über die weitläufige nördliche Heidestrecke, welche, abgetrennt vom Herzogtum, das Apanagengut des noch einzigen fürstlichen Bruders bildete. Mochte von letzterem auch indirekt die Berufung ausgehen, direkt stand sie dem Landesherrn zu, ein Zeichen, daß er mir meinen galligen Ausfall nicht nachgetragen hatte. Gutherzig war ja Pate Serenissimus, wie die meisten leichtlebigen Leute es sind, und mein Irrtum nur, daß ich zu ehren, wohl gar zu bewundern verlangte, wo ich einfach hätte lieben sollen, und ein Examen rigorosum anstellte, wo ich zum Richter nicht berufen war. Ich galt für einen moralischen Mann, item bei Hofe, nahezu bis zum Gespött, für einen weißen Raben, und ich galt mir selbst dafür. Ist Tugendstolz denn aber löblicher oder auch nur erträglicher als die Eitelkeit der Welt?

War es nun eine Anwandlung dieser bescheidenen[35] Selbsterkenntnis oder – wiederum ein Fragezeichen! – lediglich ein gesunder Instinkt, der über meine Verstimmung den Obsieg errang? Ein Kalmäuser ist naturgemäß eines Abenteurers Gegensatz. Ein Stückchen Urwald, wenn es auch nur Kiefernheide war, fand ich hier wie dort; die Klause in einem Jagdschlößchen paßte für einen, der seinen Horaz in der Brusttasche trug und mit dem Platon zu Bette ging, offenbar besser als die in einem Blockhause, zu dem er sich die Stämme erst eigenhändig hätte fällen müssen. Blieb ich auch ein Fürstendiener, ich wurde auf einem abgelegenen, einsamen Revier so ziemlich mein eigener Herr. »Versuch's erst mit dem heimischen Amerika; das über dem großen Wasser läuft dir nicht davon,« dachte ich. Und wie gedacht, so getan.

Ich hatte meine neue Welt seit Jahren nicht betreten, kannte sie aber gründlich von den Jagdfesten her, welche die seitdem verblichenen älteren apanagierten Prinzen ihrem herzoglichen Bruder alldort bereitet hatten, die Hauptjagden innerhalb seines gesamten Dominiums. Denn just weil nichts weniger als ein Paradiesgärtlein, war sie für einen Nimrod deutscher Nation das erwünschteste Beuterevier. Hoch- und Schwarzwild, Rot- und Damwild tummelten sich darin nach Herzenslust; an Hasen, Dachsen und Füchsen war kein Mangel; die Vogelpirsch lohnte bis zur Trappe und dann und wann, freilich ganz ausnahmsweise, zu dem verliebten Eremiten Auerhahn hinan, und wenn man auch nicht mehr, wie der Allerhöchste Herr Vetter in Polen, mit Wölfen und Bären aufzuwarten vermochte, so gab es doch noch hinreichend Wildkatzen, deren Erlegung zu einem Kampf auf Tod und Leben ausarten konnte. Aus düsterem Schlupfwinkel in[36] die Tageshelle gescheucht, wütig von Ast zu Ast, von Wipfel zu Wipfel und, bei einem verzweifelten Sprung, nicht selten auf des Jägers Leib gehetzt, galten der Ritz der Krallen, der Geifer des Bisses für kaum minder verderblich als die eines toll gewordenen Hundes. Mit dem kostbaren Augenlicht mindestens hatte schon mancher seine wilde Jägerlust gebüßt. Aber was ist Jägerlust ohne Gefahr? In dem Vestibül des Heideschlößchens, meiner künftigen Residenz, mahnte ausgestopft mehr als ein Prachtexemplar dieser schönen Bestie, der einzigen unserer Zone, die sich einer Löwenverwandtschaft rühmen darf, – denn was bedeutet die zivilisierte Sippe, mit welcher wir hausfreundlich verkehren? – an des Menschen Herrschaft auch über das adligste Tiergeschlecht.

Unter dem gegenwärtig einzigen Nutznießer der Domäne, meinem neuen Gebieter, hatten diese größeren Jagdfestlichkeiten aufgehört. Noch niemals, soviel mir bekannt, war er in seine Residenz, die kleine Stadt, nach welcher die große Heide ihren Namen trägt, und demzufolge in das benachbarte Jagdschlößchen zu längerem Aufenthalt eingekehrt; seine militärischen Funktionen hielten ihn fern.

Als jüngster von fünf Brüdern, die sämtlich mit Nachkommenschaft gesegnet waren, war seine Apanage gering, und er hatte weise getan, fast von Kindesbeinen ab, sich mit Leib und Seele dem Waffenhandwerk zu ergeben. In verschiedenen deutschen wie außerdeutschen Herrendiensten stieg er gradatim zu Ansehen und Ehren, um schließlich im verwandten kurfürstlich-königlichen die höchste kriegerische Würde zu erreichen. Von Jahr zu Jahr mehrte jedoch sich sein Erbteil, und die Aussicht auf das allerhöchste rückte nahe und näher. Die Brüder starben bis auf den regierenden[37] Herrn, die Bruderskinder bis auf den jüngsten von des letzteren Söhnen, unseren kleinen Erbprinzen.

Nun ja, es mag und wird ein Naturlauf gewesen sein, daß eine Reihe jugendkräftiger Männer rasch nacheinander dahingerafft, daß ein nachfolgendes Geschlecht schon im Knöspchenalter geknickt worden ist. Rotten die schwarzen Blattern denn nicht unseren jungen Nachwuchs aus in manchem Kirchspiel bis auf eines Jahrgangs letzten Sprossen? Fromme Seelenhirten nennen solches kindliche Sterben eine Geißel Gottes zur Strafe für elterliche Sündenschuld; aufgeklärte Volkswirtschaftslehrer nennen es eine weise Maßregel der Vorsehung, da ohne zeitweilige Seuchenherrschaft die Kriegsgeißel geschwungen werden müßte, um die überhandnehmende Bevölkerung auf eine Ziffer herabzudrücken, für welche der Boden Nahrung gewährt. Und die misera plebs gibt sich mit dem Entweder-Oder dieser Geißelung zufrieden und schätzt, als nun einmal unvermeidliche Blutsteuer, die Pockenfurie ihrer Kleinen, deren Heranbringen Mühsal heischt, für einen Gewinn gegenüber der Kriegsfurie der Herangewachsenen, welche die Mühsal erleichtern sollen. Für das Siechen und Sterben in unserem Prinzengeschlechte machte der Volksglaube nun aber eine greifbarere Geißel, als irgendeine böse Seuche war, verantwortlich; und ich selbst, wenn ich in unserer Herzogsgruft die lange Reihe kleiner Särge, in welchen die wohlgenährtesten und wohlgewartetsten Kinder des Landes gebettet lagen, überblickte, ich konnte den schlimmen Volksglauben nicht verdammlich finden. Wäre es denn das erstemal gewesen, daß man die unheilvollen Folgen einer schwächlichen Staatskunst – und eine solche nannte ich die vielfältige Zerstückelung des gemeinsamen Stammlandes[38] – durch eine gewalttätige Staatskunst zu heilen suchte, so wie man durch ein sengendes Eisen eine Wunde heilt, die als Vätererbe einen Körper auszehrt? Was aber die Hand anbelangt, welche die Landesgeißel schwang, ei nun, ein Machiavell im großen wird freilich nicht in jedem Jahrhundert geboren, aber an Machiavelli im kleinen hat noch keines Mangel gelitten. Als kalmäusernder Republikaner teilte ich übrigens – dem natürlichen Mitleiden bei jedem Einzelfall zum Trotz – in betreff alles Prinzensterbens die Ansicht, welche Seelenhirten und Volksweise betreffs der gemeinen Kindheit verkündeten: für jede eingehende fürstliche Wucherpflanze fanden hundert darbende Nährpflanzen Raum und Bodenkraft. In gleichem Betracht erachtete ich es einen Landessegen, daß die Ehe des Prinzen, meines gegenwärtigen Herrn, kinderlos geblieben war und daß er, vor Jahr und Tag verwitwet, an eine zweite bis jetzt nicht zu denken schien.

Ich kannte ihn, wie unsereiner einen Prinzen kennen lernt; von seinen Besuchen am brüderlichen Hofe, von Jagdpartien und Lustlagern her. Die Welt pries ihn als einen tapferen Soldaten, sogar als einen bewährten General. Ich war Zeuge gewesen der Ehrenpforten, welche man ihm errichtete, der Lorbeeren, welche man ihm entgegentrug; es gab schwerlich einen europäischen hohen Ordensstern, der nicht an dem Firmamente seiner Brust geglänzt und den Neid seiner militärisch wenig berühmten Herren Brüder und Vettern erweckt hätte. Für die Gegenwart ist Kriegerruhm ja allemal der höchste. Aber derselbige ist kurzlebiger Natur. Eine schließliche Niederlage oder der verfehlte Kampfespreis löschen hundert erfochtene Siege aus, und nur die Taten der hehrsten Vaterlandsverteidiger, wie[39] die der Staatengründer und Welteroberer, leben zu Segen oder Fluch in der Nachwelt fort. So großen Stils aber waren die Schlachten nicht, welche unser Herr als General und Generalissimus in dynastischem Interesse geschlagen hatte; keiner seiner Erfolge schwellte das Herz des deutschen Volkes, das nach seiner greulichen Zerfleischung vor hundert Jahren noch immer Frieden brauchte, nichts als Frieden. Schon das nächstfolgende Geschlecht würde wenig Redens und Rühmens von diesen Triumphen machen.

So dachte ich dazumal und, es soll gesagt sein, so denke ich heute noch über unseren Herrn als historische Person, heute, wo ich mich vor ihm wie ein Wurm im Staube krümme. Aber es ist ja auch nicht seine Feldherrnkunst, über welche ich in diesen Blättern zu berichten habe, sondern von einem Beispiel jener anderen, in welcher ich Zeuge seiner Meisterschaft geworden bin. Denn der Mensch ist kein so einfaches Gebilde, daß er lediglich wirke nach der Hauptseite hin, in welcher er mit Fleiß und Mühe seine Fähigkeiten zu entwickeln strebt. Wie die Blume ihr bestes Teil, den Duft, haucht er, kaum bewußt, stille Tugenden aus, die dem vorüberziehenden Wanderer das matte Herz erquicken.

Ich wußte von des Prinzen Privatcharakter so gut wie nichts. Aber was brauchte ich auch von ihm zu wissen? Warum sollte er anders geartet sein als tutti quanti unserer deutschen Dynasten? Kleine Gernegroße, die ihre Ehre darein setzen, Kaisern und Königen schwelgerische Gastereien auszurichten, leichtherzige Lustigleber, die lachenden Muts ihre Völkerchen gleich einer Schafherde scheren und den Kuckuck danach fragen, ob sie mit dem das Kredit täglich übersteigenden Debet ihrer Schatulle ihren Säckelmeistern[40] die Köpfe rauchen machen. Dem Äußeren nach war Prinz Johann eine stattliche Erscheinung von rein germanischem Typus, ungefähr gleichviel Lustren zählend wie ich, das heißt, weil ein hoher Herr und General, noch in jungen Jahren. Seine Ehe hatte für keine glückliche gegolten. Was Wunder, wenn man weiß, wie solche Fürstenehen geschlossen und geführt werden. Überdies war sie, wie bereits erwähnt, kinderlos geblieben.

Gottlob, daß ich hinfort nicht länger als schlimmstenfalls ein paar Herbstwochen jedes Jahr dieses wurmstichigen Gleißens Zeuge zu sein brauchte und in der übrigen Zeit als ein natürlicher Mensch mir selber leben konnte, inmitten von zahmen Hasen und wilden Säuen und Katzen, mit meinem Homer und Plutarch in einer Welt, die größere Menschen als die heutigen gezeitigt hat!

Den alten Spruch von dem Wohlleben dessen, der verborgen lebt, vor mich hinsummend, schwang ich mich an einem taufrischen Julimorgen auf mein Rößlein und trabte, von meinem getreuen Nero umkreist, wollte es Gott, auf Nimmerwiedersehen! aus dem Tore meiner Vaterstadt, in welcher ich keinen Bluts-oder Herzensfreund, keinen Landsmann, den ich wert hielt, zurückließ, vorüber an blühenden Gärten, an dem gedeihlichen Talhof, auf welchem der Hahnenschrei reges Tagestreiben erweckte, zur Linken den rasch bewegten Fluß, zur Rechten das buchenbewaldete Felsenufer, auf saftigem Rasenpfad in das fruchttragende Flachland hinein.

Und dieser frohe Mut beseelte mich während des ganzen ersten und zweiten Tagesritts. Als ich aber am dritten Morgen den Strom überschritt und nunmehr auf seinem rechten Ufer Tritt um Tritt meines Gaules Hufe tief und[41] immer tiefer versanken in das Füllsel der heillosen Streubüchse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, da wurde mir schwül um Sinn und Brust. Ich war in der Heide; nicht in der Heide des Nordens, die ich auf meinen litauischen Jagdfahrten hatte kennen lernen, der korrekten, wildlosen, baumarmen Heide, auf deren felsenharter Decke nur die rote Erika und dann und wann ein Wacholderbusch treibt, deren einziger Wechsel jene seltsamen Hügel sind, die für Hünengräber gelten; nein, in dem urwüchsigen Kiefernwald, den wir im Mittellande Heide nennen, die aber in der Zeit, wo in der Aue die Linden blühen und ihre nordische Schwester ein rosiger Blumenteppich deckt, mehr als diese ein Reich der Trostlosigkeit ist.

Ich sah sie als solches zum ersten Male, da ich sie bisher nur in ihrer winterlichen Glanzzeit hatte kennen lernen. Der letzte Halm, welcher nach dem schmelzenden Schnee in dem fußhohen Sande gesproßt, ist verdorrt, jedes Wasserfädchen eingetrocknet; aus kahlem Schaft streckt die Kiefer ihre staubgrauen Äste, gleich Skelettenarmen, über Weg und Steg; von oben herab sengender Brand, von unten herauf sengender Brand, eine Aschenschicht über einem Vulkan, mit verkohlten Nadeln bestreut; der Dunst des Harzes, der in der Frühlingssonne würzig labt, beklemmt die Brust, ein Höllenqualm in der Höllenglut, und außer ihm kein Hauch in der Luft, kein Laut unter einem Zweig, keine Schattenspende der hochragenden Wipfel; selbst das Wild hat sich geflüchtet in die Oasen, auf deren dichterer Bodenschicht, von einem Gerinne umsickert, die Birke gedeiht und die rote und blaue Heidelbeere zwischen Moos und Farren an ein Labsal mahnen. Immer schleppender wird des Gaules Schritt, immer lechzender hängt[42] der Dogge Zunge aus dem Schlund, immer schläfriger wird des Mannes Hirn.

Und in dieses Reich der Trostlosigkeit hatte ich freiwillig mich gebannt; in dieser Wüste sollte ich meine Zeit verleben; vielleicht beschließen, allein in dieser Ödigkeit, ganz allein, – o nein! auch dieses Elend wurde mir erst nachträglich klar, – nicht einmal allein mit der redlichen Schlafmütze, meinem Diener, und dem alten Försterpaar, das als Umgang nicht zählte; nein, Gott sei's geklagt, Tür an Türe mit einer Hausgenossenschaft, einer weiblichen obendrein, höfischen Rudera, die mich auf Schritt und Tritt an die Welt, der ich entfloh, erinnerte und mir alle Ruhe rauben würde, mein eigener Herr zu sein. O, Schwachkopf, Tor, der ich gewesen, auf dieses Ansinnen einzugehen! Aus Menschenfreundlichkeit? Aus hofrätlicher Gewöhnung, mit dem Kopfe zu nicken, wenn das innerste Eingeweide sich krümmt? Ich hätte links abschwenken, stracks dem nächsten Hafenplatze entgegensprengen und mich im dicksten jenseitigen Urwald vergraben mögen, – ja, wenn ich ein anderer als Christian Klösterley, der Kalmäuser, gewesen wäre! Christian Klösterley der Kalmäuser brummte, stöhnte und ließ sich weiterschleppen durch die glutdürre Wüstenei.

Ich hatte meinen Amtsvorgänger nicht persönlich gekannt. Er war vom kurfürstlich-königlichen Jagd-und Kammerjunker zum herzoglichen Oberforstmeister avanciert. Der Adel des Mutterlandes und der verschiedentlichen Tochterländchen entstammte den nämlichen Sippen; man half sich bei seiner Versorgung freundvetterlich aus, wenn man in anderweitigem Betracht sich auch scheel genug auf die Finger sah. Das höhere Forstfach war eine seiner[43] Domänen. Ein landläufiges Scherzwort sagt: auf jeden Hasen ein Oberforstmeister. Selbstverständlich ein Edelmann. Wir Bürgerlichen, denen weniger das Schießen als das Schreib- und Rechenwesen oblag, brachten es allenfalls bis zum Inspektor oder Revisor, und der Hof-und Kammerrat Klösterley mußte es sich als eine besondere Patengunst anrechnen, daß ihm der Meister, wenn auch ohne Ober angehängt worden war und er nunmehr zwischen drei Titulaturen die Wahl hatte.

Von dem Jagd- und Kammerjunker von Leiseritz und seiner Gemahlin, einer von halbdeutschem Blut in Polen geborenen und erzogenen Hofschönheit, besagte die Fama nun, daß sie sich in dem residenzlichen Treiben finanziell stark übernommen hätten und die Oberforstmeisterei im abgelegenen Heideschlößchen daher als schicklicher Herstellungsposten erfunden worden sei. Kaum ein Jahr, nachdem er in dasselbe eingezogen, war eines Tages der junge Herr tot, mit einer Kugel in der Brust, in einem Dickicht gefunden worden. Ob durch eigene Hand, ob durch fremde? Vermutlich das letztere. Die Wilderer trieben es in diesem Bezirk arg und schlau. Ein jeglicher Heidegrenzer stand in dem Verdacht, als Hüter des Hafers und Buchweizens seiner mageren Scholle, zum Diebe auszuarten und sich sonder Skrupel einen Sonntagsbraten zu erlegen. Einer borgte seinen alten Schießprügel dem anderen; der, welchem er gehörte, konnte sein Alibi beweisen. Das Elend macht Kameraden; wollte man nicht alle fassen, faßte man keinen; der neubackene Herr Oberforstmeister hatte überdies durch einen Diensteifer, der allerhöchsten Orts einschmeichelte, die gesamte Rotte gegen sich aufgebracht.

Jagd- und Bratenfreuden sind aber nicht für die misera[44] plebs, und der edle Wildstand ist der Serenissimi von Gottes Gnaden Lust und Stolz. Als daher während des Gnadenjahres der Witwe ein junger interimistischer Stellvertreter, durch das Schicksal seines Vorgängers gewarnt, sich um so lässiger, als jener eifrig, erwiesen hatte, wurde der sauertöpfische, aber gewissenhafte Schatullenrat zur Obhut auf den gefährlichen Posten berufen. Wer ahnte denn den posthumen Gracchus, der in dem unbequemen Kalmäuser sein Wesen trieb? Man versah sich von ihm, daß er für das landesväterliche, das ist vaterländische Recht und Pläsier sein Leben zwar nicht freudig, aber geziementlich in die Schanze schlagen werde; und man versah sich dessen mit Fug, wennschon nicht durchweg im herkömmlichen Sinne. Um dem unliebsamen Kalmäuser auch einmal etwas Löbliches nachzusagen: in erster Ordnung war es der Plan, vielleicht das Hirngespinst, dem nach unten mehr noch als nach oben verderblichen Treiben von Grund aus Remedur zu schaffen, der Selbsthilfe zu steuern, aber ihr spornendes Motiv zu tilgen, welcher den posthumen Gracchus in die heimische Urheide gelockt hatte. Hier war der zum Frevel treibende Beweggrund ja nur ein Hungerbissen in den leeren Topf. Aber im Kleinen, wie im Großen, im Leiblichen, wie im Geistlichen: das beste Regiment baut vor, das leidliche hilft nach, das schlechte verfällt dem Ruin, nachdem es den Ruin herbeigeführt hat.

Da im Mutter- wie Tochterstaat der nobelen Ausgaben zu viele waren, um mit Gnadenpfennigen splendid zu sein, hatte man als solchen der oberforstmeisterlichen Witwe das freie Wohnungsrecht im Schlößchen zugebilligt; ein Merkmal, wie erbärmlich es um ihre Kassette bestellt sein[45] mußte, da ohne harte Not die erwähnte Dame es wohl schwerlich in der unwirtlichen Heidenöde ausgehalten haben würde. Ich selbst aber war von einer Abmachung, die mich aus dem Regen in die Traufe brachte, erst am Tage meines Aufbruchs unterrichtet worden. Hatte ich mich bisher in lachender Umgebung über eine lustige Hofgesellschaft zuschanden geärgert, nun sollte ich in der trübseligsten Umgebung mich von der adligen Misere anwidern, ausbeuten und obendrein über die Achsel ansehen lassen. Ich tat einen heiligen Schwur, taub und blind gegen jede Art von Zumutung, mir alles verfängliche Schürzenwesen vom Leibe zu halten als ein richtiger Mann, erforderlichenfalls als ein Grobian.

Gott sei Dank! Raum genug, sich aus dem Wege zu gehen, war wenigstens vorhanden. Denn blieb auch das Obergeschoß herrschaftlichen Gästen vorbehalten, so trennte im Unterstock doch ein breites Vestibül die Zimmerreihe in zwei Hälften. Mochte die Witwe zur Rechten Trübsal und Hoffart spinnen, ich hielt mich links; guten Tag und guten Weg! Auch im Wirtschaftswesen, das in Bürgerhäusern gewöhnlich zum Zankapfel zwischen Wirts- und Mietsleuten wird, konnten wir uns nicht in die Quere geraten. Kochherd wie Bükefaß blieben der gnädigen Frau überlassen nach Belieben und Verstehen; den Junggesellen samt Adam und Nero versorgte die Frau des alten Unterförsters, dessen Wohnung in einem Seitenbau lag.

Ich hatte um das armselige Städtchen mit seiner stolzen Prinzenresidenz – leerstehende Paläste und übervolle Hütten, allerorten meinen Augen ein widerwärtiger Kontrast – einen Bogen geschlagen und, soweit angänglich, auch die[46] Dorfschaften vermieden, deren unsauberes Menschen- und Tiergezücht mich niemals dermaßen mit Ekel, Scham und Zorn erfüllt hatte wie heute. Quer durch die Heide, auf Knüppelwegen, über Baumleichen, die der Wintersturm gefällt, in unmusterndster Laune, krampfhaft gähnend vor Langeweile und Hunger, – denn Ärger zehrt, – näherte ich mich meinem Ziel. Mein Bursche – bei einem wirklichen Oberforstmeister würde er Leibjäger geheißen, möglicherweise aber nicht weniger ein Faktotum für Garderobe, Tafel und Stall repräsentiert haben –, item Ehren-Adam mußte mit dem Packwagen bereits gestern eingetroffen sein. Ich fand meine Wohnung eingerichtet, den Tisch gedeckt. Einigermaßen ein Trost.

Und da lag denn auch endlich das Schlößchen vor mir, ein zierlicher Bau in holländischem Stil, mit seinen blutroten Ziegeln und dem giftgrünen Metalldach, inmitten der grauen Kieferntrübsal immerhin ein lustiger Anblick. Die Heide umzog nach drei Seiten das Gehöft; in der Front jedoch war ein weiter Halbkreis gelichtet und linealgerecht durch geschorene Hecken zu einem Lustgarten angelegt. Da die Jagdzeit aber nicht mit der zusammenfällt, in welcher es zwischen den Hecken grünt und blüht, der Sold für einen Kunstgärtner folglich gespart werden durfte, hatten die Förster und vielleicht auch ihre Herren Prinzipale die Zieranlage in eine nutzbringende umgewandelt, von welcher ihre Hausfrauen den Gemüsebedarf ernteten. Zwischen Göttergestalten von Sandstein, deren Nasen und Gliedmaßen verstümmelt waren, winzigen Fontänchen, deren Wasserfaden nicht mehr sickerte, zwischen bunten Porzellanperlen, die sich hier und dort noch als Einfaß hinter den Fragmenten des Buchs erhalten hatten, rankten sich nun[47] Bohnen und Erbsen so hoch, als der mager gedüngte Sand ihnen Kraft verlieh; machte unterschiedlicher Kohl, der von Natur ein anspruchsvoller Schmarotzer ist, den kümmerlichen Versuch, sich einen Kopf aufzusetzen, während die genügsamen Plebejer der Scholle, rote, gelbe und weiße Rüben, wie der erst kürzlich eingebürgerte Erdapfel, ein befriedigtes Dasein führten und hier und dort eine Königskerze oder Sonnenblume sich zwischen gemeinem Kraut und Unkraut blähte. In diesem Lustgarten würde nun auch ich fortan meinen Kohl bauen, der keine Köpfe trug.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 27-48.
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