III

[70] Der Unterricht fiel am Morgen fort. Tochter wie Mutter schliefen die gestrige Lustbarkeit aus. Mich bangte zu erfahren, welchen Eindruck sie der ersteren gemacht, und ich will zum voraus sagen, daß derselbe, gottlob! bei weitem hinter dem gewaltigen zurückblieb, den sie empfangen hatte, als ich sie verwichenen Herbst zum[70] städtischen Jahrmarkt kutschierte, sie zwischen den armseligen Budenreihen umherführte, ihr einen Rosinenmann kaufte, sie die wundersame Bekanntschaft eines Kamels samt aufhockendem Äffchen machen und als non plus ultra ein Viertelstündchen Karussell fahren ließ. Gesunde Naturen schmecken nur die Freuden, die sie verstehen; die Phantasien der Eitelkeit lagen meiner kleinen Lori fern.

Mit der Weisung, mich zu Mittag nicht zu erwarten, ritt ich am Morgen in die Heide, verbrachte auch den Abend bei einer Schachpartie mit Freund Weise, dem braven alten Stadtphysikus, im »Hirsch« und kehrte erst mitten in der Nacht in mein Haus zurück. Ich fürchtete, nein, ich schämte, ich grauste mich fast vor dem Wiedersehen des schönen Weibes, Loris Mutter. Bei dem Umfange meines Reviers und der mancherlei Aufgaben in demselben hätte ich unauffällig es viele Tage wie den ersten treiben können. Aber das Verlangen nach meinem Liebling ließ mir keine Ruhe, und so hielt ich schon am nächsten Morgen die gewohnte Stunde mit ihm ab, kehrte zu Tisch zwar nicht heim, am Abend jedoch klopfte ich mit Zittern und Zagen an der Witwe Tür.

O, des geckischen, alten Kalmäusers, daß er das Zittern und Zagen sich doch erspart hätte! Die schöne Frau, deren entzündete Hoffnungen er niederzuschlagen sich ängstete, war wiederum die große Dame geworden, ihr Kavalier wiederum der gleichgültige Gesellschafter, den man sich faute de mieux gefallen läßt; die warme Wallung, angefacht von langentbehrter Lust, wie ein Champagnerrausch verflogen. Der schönen Lorenza Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: sie war keine Kokette im gemeinen Sinne. Sie schmachtete nach Zerstreuung und Glanz, wie jede Kreatur nach ihrem[71] Element, nicht nach Hingebung und Anschluß; ebenso fern jedoch lag ihr der Kitzel, anzuziehen, nur um abstoßen zu können. Sie sprach die Wahrheit, wenn sie sagte, daß ihr Mann der einzige gewesen, den sie geliebt und zu lieben verlangt. In heiterer Lage würde sie aber auch seinen Verlust bald verschmerzt haben und ohne Liebe mit dem Leben fertig geworden sein. Ihre Losung war das Vergnügen, und das Vergnügen ist ein Strohfeuer, dem allezeit nachgeschüttet werden muß.

Von außen her lösten die goldenen Tage der Heide plötzlich nun aber Sturm und Gestöber und diese hinwieder ungewöhnlich frühes Tauwetter ab. Kein lockendes Gebimmel, kein Peitschenknall und Rosseswiehern, kein Büchsenschuß unterbrach die Monotonie; nicht einer der neulichen Festgenossen ließ sich wieder sehen. Die wenigen, welche beneidet wurden, waren zum Karneval nach Dresden aufgebrochen, der unbeneideten Mehrzahl wurde das Geschäft zum Zeitvertreib. Die ritterlichen Damen spannen und machten Butter und Käse, die ritterlichen Herren saßen ihren frönenden, will sagen faulen Dreschern auf dem Dache, spazierten zwischen Kuh- und Pferdestall hin und her und machten mit Verwalter und Pastor ihr abendliches L'hombre oder Pikett. Die gefeierte Schöne war wieder zur armen Witwe geworden, die keine Gastfreundschaft gewähren konnte und zu stolz war, Gastfreundschaft als Gnadenbrot anzunehmen.

Zur armen Witwe aber auch in ihren eigenen Augen, und mehr denn je nach dem heiteren Intermezzo. An das materielle Besserleben hatte sie sich gewöhnt, der schwache Reiz, welchen der Zutritt eines Fremden in ihre Einöde geübt, war durch den mächtigen jenes Abends wie mit dem[72] Schwamme ausgelöscht. Um einen unfeinen Jägerausdruck auf sie anzuwenden: sie hatte Blut geleckt, und die Lippen lechzten nun in brennendem Durste, für den es keine Stillung gab.

Während ich mit der gegen Wind und Wetter abgehärteten Tochter den Wechsel zwischen freier Bewegung und Schulstube unverändert wieder aufnahm, saß die Mutter allein wie vor einem Jahr, seufzte und hätschelte ihr ennui um so beflissener, da die unliebsamen Klöppel und Nadeln jetzt ebenfalls ruhen durften, demnach jeder notgedrungene Zeitvertreib aufgehört hatte. Ich brachte ihr zur Unterhaltung Bücher. Freilich waren es nur deutsche, die sich auftreiben ließen. Aber die schöne Lorenza wollte leben, nicht lesen. Sogar »Die schwedische Gräfin« wurde als barbarisches Produkt aus der Hand gelegt, und – deine Fabeln in Ehren, Freund Gellert! – ich konnte unserer sächsischen Landsmännin diesen Ungeschmack nicht übelnehmen. Sie ging nicht mehr in das Freie, öffnete kaum noch das Fenster; die erregende Luft des Vorfrühlings tat ihren Nerven, wie sie sagte, weh. Sie erklärte sich schlechthin für krank, und ihr Äußeres strafte sie nicht Lügen. Sie magerte ab, das verschlissene Trauerkleid, das sie wieder trug, schlotterte um ihren Leib, sie erschien um zehn Jahre älter, als sie war, um zwanzig Jahre als an dem winterlichen Freudentage. Die gute Michelin, des Försters Frau, nannte den Zustand »Märzenlaune«, wartete mit selbstgebrauten, an Menschheit wie liebem Vieh erprobten Tränken auf, die, um endloses Nötigen zu ersparen, verstohlenerweise weggeschüttet wurden, und wendete darauf – selbstverständlich bei abnehmendem Mondgesicht – weniger sinnliche und darum mindestens nicht übelschmeckende Mittel an, die man[73] sich stillschweigend gefallen ließ. Als aber auch der geheimnisvolle Zauberer in der Höh bei zunehmendem Gesicht keine Remedur eintreten ließ, ward ich von der achselzuckenden Naturdoktorin schlechthin auf eine Verzehrung vorbereitet, gegen welche »nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse« im Himmel und auf Erden kein Kraut gewachsen sei.

Ich lachte dazu. Die Verzehrung hieß Langeweile, die für wirkliche Kranke eine stärkende Arznei, für eingebildete aber freilich ein nagender Wurm ist. In meiner höfischen Faulenzerschule hatte ich der hypochondrischen Kavaliere und spasmodischen Damen genugsam kennen lernen, um mit gegenwärtigem Exemplar besonderes Mitleid zu verspüren. Mich dauerte nur die Tochter, darum redete ich ermunternd zu; als ich jedoch, statt zu beschwichtigen, nur empfindlich reizte, empfahl ich ärztlichen Rat.

Und nun freilich, wenn ich einen gelehrten Universitätsprofessor oder noch lieber einen feinen höfischen Leibmedikus, allenfalls auch einen Wunderdoktor à la Eisenbart hätte herbeirufen können oder wollen, würde man sich eine Konsultation wohl haben gefallen lassen. Aber den alten Weise, den Bauerndoktor, in dem man, als Lori vor Jahren am Scharlachfieber krank lag, einen Tölpel und Grobian erster Größe hatte kennen lernen! »Der soll mir helfen?« fragte die Dame mit spöttischem Lächeln, und als ich meinen braven Freund, der, wenn auch nicht an feinen Manieren, so doch an wissenschaftlichem Ernst und Geschick es mit jeglichem Leibmedikus aufnahm, nach Pflicht und Überzeugung wacker herausstrich, rief sie mit Leidenschaft:

»Mir hilft keiner, ich weiß es. Alle meine Geschwister sind in dieser Art jung dahingesiecht. Und wozu auch leben?[74] Was habe ich vom Leben, was nützt mir dieses Leben? Was kann es mir bringen? Gottlob, daß das Elend bald ein Ende hat.«

»Lori!« murmelte ich mit unterdrücktem Zorn. Die Dame brach in einen Weinkrampf aus. »Lori, Lori!« schluchzte sie und rang die Hände. »Lori! Ach, mein armes, armes verlassenes Kind!«

Es war am Spätabend, Lori bereits zu Bett und daher nicht Zeugin dieser Jammerszene. Dieselbe wiederholte sich indessen auch in der Kleinen Gegenwart. Sie war aber seit Jahren an derlei Ausbrüche gewöhnt, und die Gewöhnung stumpfte den Eindruck ab. Koseworte und Zärtlichkeiten verschlimmerten den Anfall; die Mutter winkte nach der Tür, Mignonne huschte ins Freie und vergaß im Spiel mit ihrem Miezchen und später mit ihrem Väterchen die mütterlichen Tränen und Abneigungen nach Kinder art.

Ich aber tat desgleichen nach Männerart. Ich verstopfte mein Ohr und hielt meinen Mund. Gewiß mit Unrecht. Nervosität ist eine Krankheit; aber sie verstimmt nun einmal den Zeugen, macht unduldsam und ungeduldiger als jede schwerere, welche eine reelle Hilfsleistung heischt, nicht bloß Stillhalten, wenn man vor Ärger aus der Haut fahren möchte. So viel aber darf ich beteuern: wäre das Kind nicht gewesen, ich hätte in diesen Frühlingswochen kurzen Prozeß gemacht, hätte Forstmeister Forstmeister sein lassen und wäre bei Nacht und Nebel aus der nervenschwächenden Heide in den nervenstärkenden Urwald geflüchtet.

Allein meine liebe, arme Lori machte das Haus, in welchem für sie mehr als für mich die Trübsal regierte und rettungsloser als für mich noch schwerere Trübsal lauerte, mir zu einem Heimatshaus und die unwirtliche Heide selbst[75] in der Sommerzeit, der wir wieder entgegengingen, zu einem Paradiesgärtlein.

Im Lesen und Schreiben war meine Schülerin leidlich perfekt geworden, und was brauchte sie viel mehr? So betrieben wir denn Künste und Wissenschaften fortan wesentlich praktisch unter freiem Himmel, da der des Hauses so bleiern drückte. Auf Gängen und Ritten sammelten wir die karge Flora der Heide und nannten es botanisieren; wir spielten »Gärtners«, indem wir zwischen den verstümmelten Stein- und Baumfaxen Beetchen anlegten und sie statt der Kartoffelpracht eigenhändig mit Blumen bepflanzten, die ich meilenweit kommen ließ. Bis zu einem Bienenhaus, zu einer umgitterten Vogelhecke verstiegen wir uns und erlebten die Wonne, daß, von unseren Brosamen gelockt, kleine Waldsänger sich auch freiwillig in der Schlehenhecke unseres Lustgartens und zwischen seinen Buchs- und Taxusfiguren ansiedelten und um so sorgloser zwitscherten, da sie keinen natürlichen Feind mehr zu fürchten hatten.

Denn das gehätschelte Miezchen war dahin! Wohin? Ja, wer weiß. Der großmütige Nero hatte sicherlich nicht schuld an dem Verlust. Ein paar Tage lang wurde nach dem Liebling in allen Winkeln gelockt und gesucht und dann manches Tränchen um den verlorenen geweint. Nach weiteren paar Tagen aber gaben ein paar Turteltauben tröstlichen Ersatz, und nach Ablauf der Woche war das Miezchen vergessen. Günstlingslos! Aus einem besonderen Grunde, welchen der Schluß meiner Geschichte erklären wird, will ich hinzufügen, daß aus Schonung für die lustigen Zeisige und Drosseln, Rotkehlchen, Goldammern, und wie die geflügelten Ansiedler in unserem Lustgarten alle hießen, zur Vertilgung des Mäusegeschlechts niemals wieder[76] ein kletternder Hausfreund, sondern ein watschelndes Kuriosum im Heideschlößchen eingeführt, und daß sotaner Stacheligel für unsere zoologischen Studien ein interessanterer Gegenstand als Miez und Murr geworden ist.

Wäre mein Zweck die Schilderung meiner Freuden und nicht die Beichte einer Schuld, wie viele dieser Blätter möchte ich füllen mit solcher Kleinmalerei. Von was redet, an was denkt der Mann in grauen Tagen denn so gern als an die grünen seiner Kinderzeit? In diesen Sommerwochen aber wurde es jährig, daß Christian Klösterley, in dessen Haar sich weiße Fäden mischten, beim Anblick eines Kindes nicht wiederum, sondern zum ersten Male sich ein Kind gefühlt hatte. O Lori, Lori, du Jungbrunnen für die denkmüde Kalmäuserseele!

Und was wüßte ich neben derlei Getändel denn auch Ernsthaftes aus dieser Zeit zu verzeichnen, als daß es mir jetzt allemal einen Stich gab, wenn Lori mich Väterchen nannte, und daß ich stoisch beflissen war, ihre kindlichen Zärtlichkeiten abzuwehren. Ich duldete nicht mehr, daß sie sich auf meinen Schoß setzte, ihre Arme um meinen Nacken schlang, mich streichelte und küßte. Fühlte ich dabei heimlich auch eine Götterlust, ich hatte nicht umsonst ein Menschenalter hindurch mich als Philosoph gebrüstet. Ohne einen gewissen Zwiespalt geht es in den reinsten Herzensverhältnissen nicht ab.

»Du mußt nun gesetzt werden, Lori,« mahnte ich, den Lachreiz unterdrückend, wenn ich sie mit Nero und Konsorten tollen sah oder sie mich zum Haschemann machen wollte. »Du bist kein Kind mehr; bedenke doch, am ersten Mai schon vierzehn Jahr!«

»Aber doch noch so klein, Väterchen,« schmollte sie.[77]

»Gleichviel! Und wenn du auch nicht größer wächsest, du wirst für ein erwachsenes Fräulein genommen und mußt dich wie ein solches benehmen lernen.«

»Wer nimmt mich für ein Fräulein?« fragte sie lustig. »Mama? ach, der bin ich doch immer nur ihr Sauvage. Der Herr Förster, die Frau Försterin, dein alter Adam? Wer sieht mich denn sonst außer du? Gefalle ich dir nicht mehr so, wie ich bin, Väterchen?«

»Ei nun – mir gefällst du wohl, indessen – du solltest mich auch nicht mehr Väterchen nennen, Lori. So gern ich es dir sein möchte, – es schickt sich nicht.«

»Aber wie denn sonst? Herr Schulmeister? Herr Forstmeister? Monsieur Klösterley – und Sie? ach, wie klänge denn das, Väterchen?«

In Wahrheit, es hätte lächerlich geklungen, und so blieb es bei dem Väterchen und dem Kind.

Wie nervöse Leiden gewöhnlich beim Wechsel der Jahreszeiten sich verschlimmern, so besserte sich der Zustand der Baronin im ständigen Sommer; das heißt der körperliche Zustand, nicht der gemütliche. Sie saß stundenweis in einer Laube, die wir fleißigen Gärtner neben der Rampe für sie angelegt und, bis das Geißblatt heranwuchs, mit rasch rankenden Kürbissen und Winden beschattet hatten. Linde Lüfte und Sonnenschein taten ihr wohl, aber sie gähnte beim Ausblick, und freilich übelzunehmen war ihr das Gähnen so wenig wie der Ungeschmack an der »Schwedischen Gräfin«. Die Frau Försterin mußte zugeben, daß sie sich in ihrer Prognose geirrt. Aber Gottes Ratschluß war ja eben unerforschlich und – noch nicht aller Tage Abend.

War der Reiz zum Leben bei unserer Patientin bisher[78] nur zögernd und einseitig vorgeschritten, so wirkte eine Neuigkeit, die uns gegen den Herbst hin überraschte, nun aber erregend wie ein Zauber auf Seele und Leib. Und zwar eine dem Wesen nach recht weheleidige Kunde, eine Trauerbotschaft, die viele treue Herzen zu Seufzen und Klagen stimmte. Aber träufeln die Tränen des einen dem andern nicht häufig als ein Tau? Die eine Welt weint und die andere lacht. Unseres Herzogs letzter Sohn, sein Stammhalter, war seinen Geschwistern in die Gruft gefolgt. Darum die Tränen. Sollte der Herzogszweig nicht erlöschen, so mußte, da bei den vorgeschrittenen Jahren unserer Landesmutter auf Nachkommenschaft nicht mehr zu hoffen war, der prinzliche Bruder zur zweiten Ehe schreiten. Das war der Tau. Seiner Gemahlin wurde ein Hofstaat eingerichtet, und was konnte natürlicher sein, als daß bei der Wahl einer dame d'honneur oder gar Oberhofmeisterin man sich der schönen Witwe im Heideschlößchen erinnerte, deren Ahnenprobe, nebenbei – wennschon weniger von Belang – auch ihr Renommee, – unanfechtbar, deren Haltung hochkorrekt, und die überdies die einzige war, welche im Umkreis des prinzlichen Privatdominiums in Betracht genommen werden konnte.

O Spes, du Göttertochter, deren Hauch als Panazee für alle Erdenleiden wirkt! Das müde Haupt, das sich haltlos zum Grabe neigte, schnellt empor wie unter einem elektrischen Strahl, die bleichen Wangen färben sich gleich Blüten im Sonnenschein, die schweigsamen Lippen öffnen dem glückvollen Herzen ihre Tür. Tod und Not sind vergessen, von Krankheit nicht mehr eine Spur. Ein bitterböses Anzeichen, wenn unserer häuslichen Augurin zu trauen war! Die treue Seele hatte die Tränen reichlich rinnen[79] lassen, nun labte auch sie der Tau: sie teilte der Dame Zuversicht in eine baldige Prinzenheirat. Das Erlöschen der herzoglichen Familie würde ihr ein Unheil gedünkt haben, nicht viel geringfügiger als der Weltuntergang. Und unter meinen lieben Landsleuten ihr, der alten fürstlichen Kindermuhme, beileibe ja nicht allein. Je kleiner eines Deutschen Vaterland, um so größer die Liebe zu des Vaterlandes Vater und seinem Stamm, das ist nun einmal eines von jenen ethnographischen Gesetzen, für welche ein Kalmäuser keine Lösung findet als des großen Haller Spruch: »Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist.« Auch gegen die Hoffähigkeit der Frau Oberforstmeisterin würde die Frau Unterförsterin nichts einzuwenden gehabt haben. Aber – das große Los kam zu spät. Dieses jache Aufflackern der Lebensgeister, die Borsdorfer Äpfelchen auf den Wangen, das funkelnde Augenlicht und die Glücksgespinste – »nach Gottes väterlichem Ratschluß bauen alle Auszehrungskandidaten Luftschlösser, sintemalen ihre Leibesnöte außerdem allzu grausam zu nennen wären.«

Ich für mein Teil hatte keine so ominöse Deutung für den Flug der Phantasie, gönnte der Dame auch von Herzen die Verwirklichung ihrer stolzen Träume, vorausgesetzt, daß sie ihre kleine Sauvage nicht in ihrer Luftkutsche mit emporsteigen, sondern geruhig im Heideschlößchen unter ihres Väterchens Direktion beließ.

Wie elastisch wurde nun aber erst der Schritt der schönen Witwe, wie hoch reckte sich ihr Haupt, wie weit öffneten sich die Augen, als etliche Wochen später per Stafette der Befehl eintraf, die prinzlichen Gemächer instand zu setzen, da unser Herr endlich wieder einmal die Freuden der Jagd in seinem Revier zu genießen und zu diesem Zweck zwar[80] im Stadtschlosse zu residieren, im Heideschlößchen aber dieses und jenes Mahl abzuhalten gedenke. Wie wurden nun Schränke und Truhen nach den Überbleibseln vormaligen Glanzes durchstöbert, wie flink regten sich die schlanken Finger über den ungewohnten Künsten einer Kammerzofe; auch ein kleines Darlehn zur Beschaffung einer standesmäßigen neuen Robe wurde bei den unstandesmäßigen alten Hausgenossen holdselig nachgesucht und – sonder Ruhmredigkeit! – bereitwilliger gewährt, als Darlehne gemeinhin gewährt zu werden pflegen. O, mein Gellert, darin kennst du deine Weiberchen! Ein neues Kleid! Der Witwensitz im Heideschloß, der so lange als bittres Unglück empfunden worden war, als welche Gunst erwies er sich anjetzt. Man war zur Stelle, gleichsam auf Posten; man fühlte sich a priori als das, was man werden wollte, werden mußte. Vom Scheitel zur Sohle eine dame d'atour!

Die Stunde der Entscheidung nahte. Küchenwagen und Koch samt Zubehör langten im Schlößchen an, das Jagdmahl für den übernächsten Tag zu rüsten. Seiner Funktion gemäß heute eine Hauptperson, empfing Forstmeister Klösterley, der römische Bürger und europasatte Hinterwäldler, in höchstem Galawichs seinen gnädigen Herrn auf der Rampe des städtischen Schlosses mit untertänigem Handkuß. Faktotum Adam, mit Hirschfänger und Federhut ausstaffiert, machte als Leibjäger Parade.

Aller antihöfischen Verbissenheit ungeachtet, erhielt ich indessen einen guten Eindruck von dem Herrn, mit welchem ich zum ersten Male ein Wort zu wechseln hatte. Er traktierte mich nicht per »Er« und »mein Lieber«, wie es selbst bei den höflichen Sachsenfürsten für die bürgerlichen Beamteten, mit denen sie deutsch redeten, gang und gäbe war,[81] – Serenissimus hatte seinen Patensohn du und Christel genannt –, sein Herr Bruder hörte in einer Privataudienz, die allen anderen voranging, meine amtlichen und Meliorationsgutachten verständnisvoll an und entwickelte nicht nur gesunde haus- und landwirtliche, sondern auch humane Ansichten, welche meiner Heimat dereinstigen Segen verhießen. »Ein weißer Rabe!« dachte ich, während ich vergnügt nach Hause trabte.

Es war mitten in der Nacht, trotzdem hatte die Baronin auf mich gewartet. Sie war in lebhaftester Spannung. Ich mußte haarklein berichten. Sie hatte den Prinzen ja gekannt, aber auch Fürsten verändern sich. Haltung, Stimmung, Umgebung waren von äußerster Wichtigkeit; die Dame würde bis in den Tag hinein des Fragens kein Ende gefunden haben, hätte ich endlich nicht kurzen Prozeß gemacht und mich mit der Mahnung zu Schonung und Ruhe zurückgezogen. Eine glühende Tageshitze war gegen Abend in gewitterliche Kühle umgeschlagen; die Baronin hatte sich beim Blankmachen und Dekorieren ihrer Privatzimmer offenbar übernommen und erkältet, sie hüstelte und sprach heiser. »Das Omen« der braven Michelin konnte sich bewahrheiten. Aber »Gott bewahre!« Die Dame wollte sich niemals wohler gefühlt haben. Keine Regung von Apprehension.

Am anderen Tage sah ich meine weiblichen Hausgenossen nicht. Den Hasen und Hühnern war in einer dem Schlößchen entgegengesetzten Abteilung meines Reviers zugesetzt und das Diner in der städtischen Residenz genommen worden. Den darauffolgenden Morgen wurde zwar in unserer nächsten Umgebung getrieben und geknallt, die weidmännische Tafelrunde auch in unserem Obergeschoß abgehalten,[82] dort wie hier aber war kein schicklicher Moment zur Vorstellung der harrenden dame d'atour gefunden worden. Erst als am Abend mit allen andern Gästen auch der Adjutant des Prinzen nach der Stadt zurückgekehrt war, befahl mir der letztere, ihn meiner Hausgenossin anzumelden. Der Wagen, welcher ihn, und mich mit ihm, in die Stadt zurückführen sollte, wurde bereits angespannt.

Ich fand die Baronin geschmackvoll gekleidet, der unleugbaren Erkältung zum Trotz Hals und Arme entblößt, die Augen leuchtend, die Wangen gerötet wie im Fieber, hoffentlich nur dem Fieber der Erwartung. Ein schönes, wunderbar jugendliches Frauenbild. Ich fragte nach Lori. Sie war in die Försterwohnung verwiesen. Nicht mehr als schicklich in Aussicht einer durchlauchtigen Visite. Möglich aber auch, daß nebenbei die Oberhofmeisterin in spe es für nützlich erachtet hatte, nicht an das natürliche kleine Anhängsel zu erinnern. Wer konnte denn die durchlauchtige Marotte voraussehen, vor dem Handkuß der gnädigen Frau einer alten Kindsmagd die Hand zu drücken?

Aber das Unvermutete geschah, und so wiederholte sich im bescheidenen Altenstübchen zwischen dem Prinzen und der Waise fast Zug um Zug und Wort um Wort die Szene, welche sich vor Jahr und Tag zwischen ihr und dem unmusternen Kalmäuser im kartoffelblühenden Lustgarten abgespielt hatte; nur daß heute kein Willkommengruß und Strauß vorbereitet waren. Die lieblich lächelnde Kleine im kurzen Röckchen und langen Zöpfen, ein rundliches Kind, kaum größer als dazumal, entzückte den hohen Herrn auf den ersten Blick, wie sie seinen Diener entzückt hatte. Er hob sie in die Höh und küßte sie auf beide Backen, genau so wie ich es getan. Von mir waren Entzücken und Zärtlichkeit[83] natürlich gewesen. Aber von einem Prinzen? Ich fühlte einen Natterstich in der Brust. »Ein besserer Wirt vielleicht als seine Herren Brüder,« rumorte es in mir, »aber ein Lüstling wie sie – wie alle Fürsten. Und Lori ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich ohne Sträuben küssen läßt, – auch schon eine höfische Buhlerin!« Es mögen grimmige Blicke gewesen sein, die ich auf meinen Herrn und zum ersten Male auch auf mein Kind geschossen habe, zum Glück von beiden unbemerkt.

Mignonne an der Hand, trat der Prinz unter meinem Geleit bei der Witwe ein. Der Gegensatz der mütterlichen Toilette mit der töchterlichen, die heute um so mehr vernachlässigt war, als jene Zeitaufwand gekostet hatte, erregte der schönen Frau einen Moment der Verlegenheit; zudem wurde unvermutet die Begrüßung in biderbem Deutsch angebracht und mußte in gleicher Mundart, in der sich nun einmal Zierliches oder Geistreiches nicht sagen läßt, erwidert werden. So blieb es bei Redensarten. Ich schwieg, wie meines Amtes war, mich aus; aber ich stand wie auf Kohlen, denn der Prinz ließ Lori nicht von seiner Seite; hielt den Arm um ihren Nacken geschlungen, was sie sich lächelnd gefallen ließ, und nickte ihr freundlich zu, was sie ebenso freundlich erwiderte. Für das Väterchen, das sie seit drei Tagen nicht gesehen, hatte sie heute kaum einen Blick.

Indessen dauerte die Tortur nur wenige Minuten. Der Wagen fuhr vor, der Prinz empfahl sich mit der für die Dame so unerwarteten wie für mich erfreulichen Mitteilung, bereits in der morgenden Nacht zur Rückreise genötigt zu sein. Mir zur Qual, der Dame zum Trost geruhte er indes die huldvolle Zusage, vor der Abfahrt den Tee[84] bei der liebenswürdigen Hüterin seines Heidehauses einzunehmen. Noch ein Kuß auf des Töchterchens Stirn. »Au revoir, Madame!« Und das Freudenlicht des Tages war ausgeblasen, um am Docht der Hoffnung weiterzuglimmen.

Auch ein Grübelfang ist jachen Wallungen untertan, und kein Poltergeist vielleicht bösartigeren als ein Grübelfang. Wer sich aber ein Menschenalter hindurch gewöhnt hat, in Gedanken das Oberste zu unterst zu wühlen, der gelangt schließlich auch dahin, daß das Unterste wieder zu oberst kommt. Nach einer ruhelosen Nacht sagte ich mir: »Alter Tor! das Kind ist eben noch ein Kind, sein Reiz die Unschuld. Der Prinz aber ist ein einsamer Mann und ein Kinderfreund, wie du es geworden bist. Er liebt, was ihm, wie dir, die Natur versagt hat.«

Als ich mit dem Prinzen am anderen Abend zu unserer liebenswürdigen Wirtin hinabstieg, stand im Salon der Teetisch, eine neuerlich von England importierte Mode, welche bei uns nur vereinzelt die abendliche Suppenterrine verdrängt hatte, nach Tunlichkeit gerüstet. Faktotum Adam fungierte als Kammerdiener, die Türflügel auseinanderschlagend und darauf im Vestibül lauernd, um, nach Instruktion, das Kohlenbecken mit dem siedenden Wassertopf zu bringen, sobald die Handschelle vernommen ward. Die Dame trug die neubeschaffte Robe von heller Rosenfarbe. Auch ihre Laune war rosenfarben. Lori, heute kindlich in Weiß gekleidet, harrte mit einem Asternstrauß in der Schlafstube der Präsentation, falls selbige befohlen würde.

Kaum daß der Prinz Platz genommen, fragte er denn auch nach einem suchenden Blick durch das Zimmer: »Wo ist Ihr Töchterchen, gnädige Frau?«[85]

Auf einen huldreichen Wink der Mutter öffnete ich die Seitentür, und Lori, froh, ihrer Haft entlassen zu sein, flog auf den hohen Gast zu, ihm ihre Blumenspende reichend und, wie sie gelehrt worden, mit einem tiefen Knicks seine Hand küssend. Er rückte ein Fußschemelchen neben seinen Sessel; die Kleine ließ sich darauf nieder, indem sie unverwendet ihre großen, staunenden Augen zu dem besternten, stattlichen Herrn in die Höhe richtete. Beide ihre Händchen ruhten in seiner Rechten, während die Linke sanft den weichen, blonden Scheitel streichelte.

»Wie gütig Durchlaucht sind!« sagte die Mutter mit schmelzendem Klang.

Kein Zweifel, daß sie herzlich von diesem Wohlwollen gerührt ward, ebenso unzweifelhaft aber auch, daß ihr flugs die Erleuchtung kam, wie durch dasselbe das bedenklichste Hindernis für die Erfüllung ihrer Wünsche beseitigt werde. Die Zärtlichkeit gegen die Tochter verbürgte der Mutter einen Beschützer. »Wie gütig Durchlaucht sind, wie so sehr gütig!« rief sie noch einmal mit der Emphase zugleich unberechneter wie berechneter Dankbarkeit.

»Wer sollte an solch holdem Wesen nicht Freude haben?« entgegnete einfach der Prinz.

Der Übergang zu dem Verlust, welcher den herzoglichen Hof kürzlich betroffen, war bei dieser Wendung angezeigt, wurde auch mit klagender Empfindsamkeit ausgedrückt, dahingegen der Wandel dieses Verlustes in einen Gewinn für den hohen Gast fein, aber verständlich angedeutet ward.

»Es war ein herber Schlag für meinen Bruder!« versetzte der Prinz so einfach wie zuvor.

»Und für das Land!« ergänzte die Dame. »Alle seine Hoffnungen beruhen auf Durchlaucht.«[86]

»Ich bin kinderlos und Witwer, wie Sie wissen, Frau Baronin. Im übrigen ist es ja nur ein Zweig des alten Stammes, der erlischt; der Heimfall unseres Ländchens an das Mutterland wird für beide kein Unsegen sein.«

Ich traute meinen Ohren kaum, da ich den Erben eines Thrones die hochverräterische Auffassung des cidevant römischen Bürgers, als wäre sie das natürlichste Ergebnis, aussprechen hörte. Der armen Witwe aber stürzte ihr Luftschloß jach wie ein Kartenhaus beim ersten Lippenhauch zusammen. Sie erbleichte, und ihre Hand zitterte, indem sie dem Prinzen die Teetasse reichte. Eine Minute lang war es so still, als flöge ein Engel, der Geist des seligen Prinzchens, durch das Zimmer. In der nächsten Minute aber schnellte das großgehätschelte Phantasiegebilde, so jach wie es niedergeworfen worden, wieder empor und hoch über sein bisheriges Ziel hinaus. Nicht mehr der Karmin der Hofdame, ein fürstlicher Purpur war es, welcher plötzlich bis zum Busen hinab das erblaßte Antlitz überwogte; so kühn wie diese lodern die Blicke des Feldherrn, der die auf den Flügeln bedrohte Schlacht im Zentrum gewonnen sieht, wie Lettern zeichneten die blauen Äderchen der Schläfen das stolze Wort: Triumph! Ich las und deutete es, ich, der grübelnde Zweifler, der doch wahrlich nicht in einer Weiberschule das Abc der Eitelkeit gelernt; und sollte der andere, welcher, seit ihm der Bart gesproßt, kein Neuling in der Frauen Kunst und Gunst geblieben, sollte er, der die Schimäre entzündet, ihre Schriftzüge weniger als der Zeuge verstanden haben?

Der hohe Herr dachte aus Prinzipien der Staatskunst nicht an eine standesgemäße zweite Ehe; er hatte ja auch in der ersten herbe Erfahrungen gemacht. Warum aber[87] nicht an eine Ehe linker Hand, an einen Herzensbund? Sollte ein noch jugendkräftiger Mann, ein Mann von so warmer Empfänglichkeit, wie sie sich in dem Bezeigen gegen dieses Kind so augenfällig dartat, sich zum dauernden Wittum verdammen wollen? Wer die Tochter gewinnen will, muß der Mutter schöntun, sagt das Sprichwort. Führt der Weg zu dem Herzen der Mutter nicht aber auch durch das ihres Kindes? Und welches Kind hatte eine schönere Mutter als Lori in Lorenza von Leiseritz?

Ich habe das Rätsel niemals herausgebracht, wie diese und jene des schwachen Geschlechts es anfangen, in urplötzlichen Stimmungen sich über ihr Alltagswesen hinaus zu steigern, als wären sie elektrisiert. Sie sind dann wie voll süßen Weines, reden in Zungen und sprühen Blitze. Die schöne Streberin fand Aperçus und Antithesen, wie ich sie in deutscher Mundart gar nicht denkbar erachtet hätte; sie brachte es bis zu Calembourgs, wurde witzig, was durchaus nicht in ihrer Natur zu liegen schien; sie lockte mit weichen, seelenvollen Tönen, wie sie ihren Lippen selten entquollen sein mögen, sie lächelte, plauderte, funkelte, wie vielleicht im Leben noch nie, und alles das im ehrlichen Glauben an die Leidenschaft, die sie einem fürstlichen Verehrer eingeflößt und die sie eines Tages rechtgültig erwidern dürfte.

Je beweglicher sie sich indessen ausgab, um so eingeschränkter bezeigte sich der Prinz, an und für sich keine überschießende Natur. Arme, betörte Schatzgräberin, wärest du mehr Kokette gewesen, als du in Wahrheit warst, du würdest den stahlglatten Panzer haben fühlen müssen, an dem deine Wünschelrute abprallte.

Die Unterhaltung drehte sich, wie natürlich, um die[88] Neuigkeiten der sogenannten Gesellschaft, und so wurde denn auch einer hochgestellten Ausländerin Erwähnung getan, die vor kurzem auf einer Lustfahrt durch das zivilisierte Europa in der deutschen Hauptstadt des Vergnügens und der Galanterie ihren Einzug gehalten hatte. (Die Dame lebt zurzeit in wohlgeordneten Verhältnissen, daher ihr Name unausgesprochen bleiben soll.)

Die Kunde, zum guten Teil wohl Fabel, von ihren Abenteuern, Extravaganzen und Brüskerien war durch die fürstlichen Weidgenossen bis in unseren stillen Waldwinkel und zu Ohren der armen, zahmeren Glücksjägerin gedrungen, die, mit Recht oder Unrecht eine Nebenbuhlerschaft befürchtend, an spitzigen Bemerkungen über »die wilde Britin« es nicht fehlen ließ.

Der Prinz entgegnete mit Ruhe, daß er die Bekanntschaft der Lady nur flüchtig gemacht habe, entschuldigte aber deren willkürliches Treiben – weiblichen Siegesübermut nannte er es – mit ihrer Erziehung, ihrer Unabhängigkeit als Witwe und Erbin eines Krösus, ihren seltenen Geistesgaben und den ebenso seltenen Reizen der äußeren Erscheinung.

»Der Hoheit ziemt Milde,« versetzte die Baronin halb schmeichelnden, halb pikierten Tones.

»Sie ziemt den Jahren der Vernunft,« entgegnete der Prinz lächelnd. »Junge Sünder, alte Eiferer, sagt ein Wort mit Recht.«

»Nimm's dir zu Herzen, grauer Splitterrichter!« dachte der Zeuge; wiewohl er in der Jugend ein Sünder nicht zu nennen gewesen war.

Die Witwe aber, die sich ja auch nicht mehr in des Lebens Grüne fühlen durfte, fragte einigermaßen perplex: »Und die Antithese dieses Wortes, gnädiger Herr?«[89]

»Gäbe«, antwortete er, »wie in vielen Stücken, keinen logischen Schluß. Der Moral in alten Tagen unbeschadet, hat die Jugend, der die Natur als starker Widerpart gegenüber und die Erfahrung als Bundesgenossin noch nicht zur Seite steht, wie die Pflicht der Strenge gegen sich selbst, so allenfalls auch das Recht der Strenge gegen andere. Die Zeit soll uns Duldung lehren – und Resignation, gnädige Frau.«

Der Prinz erhob sich ohne weiteres nach dieser Lektion, da der Wagen schon vor einer langen Weile vorgefahren war; mit kurzer Verbeugung, sonder Zeichen des Bedauerns oder der Verheißung, schritt er nach der Tür. Die Baronin, leicht gekleidet, von innen heraus erhitzt und mit einem eisigen Wasserstrahl übergossen, wie sie war, folgte ihm in den Vestibül. Es war ein stürmischer Abend, unleidlicher Zug strich durch das geöffnete Portal, die gute Försterin, welche unter demselben ihren vielgeliebten Herrn zum Abschied beknickste, nahm ihr Halstuch ab und warf es über die nackten Schultern der Dame; sie ließ es fallen.

»Dürfen wir das Glück erhoffen, Durchlaucht wiederzusehen?« fragte sie mit tiefer Verneigung und bebender Stimme, indem sie ihre Hand nach dem Scheidenden streckte. Er zog die Fingerspitzen an seine Lippen und antwortete: »Schwerlich in Bälde, gnädige Frau. Ich bin Soldat, das heißt, nicht Herr meiner Zeit.«

Im äußersten Moment ein äußerster Elan: sie hielt seine Hand fest und drückte sie an ihr Herz. Tränen in den Augen, heiße, wirkliche, keine Schauspieltränen, schluchzte sie: »Dank, Dank, gnädiger Herr, für die unvergeßliche Stunde, die Sie einem verlassenen, unglückseligen Weibe geschenkt haben!«

»Eine Mutter ist niemals verlassen, Madame, und wenn[90] sie ein Kind wie dieses besitzt, eine sehr glückliche Frau,« entgegnete der Prinz, diesmal in französischer Sprache und mit an ihm ungewohntem scharfem Ton und Blick, indem er seine Hand freimachte. Er küßte Lori auf die Stirn, bestieg rasch den Wagen und gab mir einen Wink, ihm zu folgen. Ich wendete die Augen noch einmal zurück in das hellerleuchtete Portal. Beide Hände gegen die Brust gestemmt, stand die Baronin an eine Säule gelehnt. Die Försterin trat auf sie zu, die Taumelnde in ihr Zimmer zu führen. Die Windfackeln löschten jählings aus.

»Hier ist nicht zu helfen,« sagte der Prinz nach kurzer Stille; »wäre es dem Menschen auch gegeben, seine Haut abzustreifen, sie würde ihm, wie der Schlange, doch immer von neuem wachsen. Gott sei Dank, daß der Tochter nicht auch die große Dame im Blute zu liegen scheint. Um ihretwillen, Klösterley, halten Sie es mit der Mutter geduldig aus.«

Der Prinz sprach darauf mit gewohnter Umsicht von Geschäften. Mitten in der Nacht brach er auf nach Polen, wo er jahrelang blieb. Zum voraus soll erwähnt werden, daß seiner Fürsorge eine Erhöhung des Gnadengehaltes der Witwe zu danken sein mochte. Das einzige Zeichen seiner Erinnerung und leider ein zu spät gereichtes, um gestürzte Lebenshoffnungen wieder aufzurichten.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 70-91.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon