IX

[167] Und nun möchte ich wieder, wie bei der Schilderung jenes unseligsten Lebenstages, mit der Schärfe und Schnelle eines Blitzes enthüllen, was zu enthüllen bleibt. Zu erklären ist es ja nicht. Wer erklärt die Triebe, die Schuld und Scham gebären, wenn auch nicht immer Schuld und Scham der Tat!

Lori genas rasch zu völligem Leben, zu einem Glück, wie es nur ein Kind oder die Mutter eines Erstlings empfindet. Ich aber, unter dem Gleichmaß der Tage, ledig aller Sorge, im erfüllten Besitz, krankte an der alten bösen Sucht. Jählings im hellen Sonnenschein tauchte der schwarze Schatten, mitten im frohesten Bewußtsein stieg der Wahnsinn auf. Was hatte Lori in der Stunde, die sie für ihre letzte hielt, mir bekennen wollen? was war geschehen, als ich sie an jenem Nachmittag überraschte? das Kind, ihr Kind, ihr Glück, ihr alles – war es –?[167] nein, ich kann die Schmach dieses Wahnes nicht laut werden lassen.

Ich forschte in des Knäbchens Zügen. Wie ein Geck betrachtete ich im Spiegel die meinen. Es glich mir nicht. Gelbe Löckchen, blaue Augen, Grübchen in Wangen und Kinn: Lori, ganz Lori! Aber auch ein anderer hatte blondes Haar, blaue Augen und, wenn er lächelte, eine Vertiefung im Kinn. Sein Bild, ein Ge schenk, hing in meinem Zimmer. Ich entfernte den Störenfried, was half es? um so leibhaftiger stand er vor meiner Seele auf. Und wie friedlich und freundlich war der Knabe! Die weise Frau erklärte, niemals ein so lammfrommes Kind unter Händen gehabt zu haben. Die alte Försterin hegte um seiner Engelhaftigkeit willen sogar schwere Sorge, da, nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse, nur Schreikinder Gedeihkinder sind. Mich, als ich in Windeln lag, wird die weise Frau nicht ein frommes Kind genannt haben. Mein Leben war mit dem meiner Mutter bezahlt worden, und solche Kinder, heißt es, haben einen finsteren Blick. Nein – und heute sage ich Gott Dank dafür! – nein, der Knabe glich mir nicht.

Mehr als einmal stand ich im Begriffe, an Lori die erlösende oder vernichtende Frage zu stellen: »Was wolltest du mir bekennen, um mit reinem Herzen in den Himmel zu kommen?« Wenn sie die Augen aber so offen zu mir in die Höhe schlug, oder wenn dieselben so durch und durch erfüllt auf dem Kind in ihrem Schoße ruhten, dann sagte ich mir: nein, so glücklich blickt keine Schuldbewußte; dann brannten mich Scham und Scheu, in dieses lautere Gemüt den ersten Gifttropfen zu träufeln, und der böse Feind im Busen wurde still.[168]

Leider nur auf kurze Frist. Daß doch ein guter Wille so oft nur Böses wirkt! Denn was den Unhold tückischer als jemals ätzte, das war wiederum ein Zeichen der großmütigen Gunst unseres Herrn. Er hatte unter anderen Gnadenerweisungen, wie sie bei einer Huldigungsfeier üblich sind, für etliche bürgerliche Beamte des Herzogtums von dem kurfürstlichen Senior seines Hauses ein Adelsdiplom erwirkt, und mir unter ihnen. Ich sagte mir nicht, wie ich wohl hätte sagen dürfen, denn in meinem Berufe wirkte ich, seit ich den Höflingsdienst mit dem der freien Natur vertauscht, klaren Blickes und festen Willens mit sicherer Hand, da war ich kein Kalmäuser, – ich sagte mir also nicht: Es ist, dem Manne weder zuliebe noch zuleide, eine Anerkennung des treuen Verwalters, so wohlverdient wie die der anderen in ihrem Amt. Statt dessen zischelte der Feind: Dir diese Erhebung, dem Lakaiensohne, dem Schneiderenkel, dem widerborstigen Beleidiger? O, du Tropf! der Frau gilt sie, die du von ihrer Rangstufe herabgedrängt hast, dem Sohne gilt sie, der ihres Gatten Namen tragen wird, der – –

Diesem Zustande mußte ein Ende gemacht werden, so oder so, wenn der periodische Wahnwitz nicht zum dauernden werden sollte, und ich muß es den männlichsten Entschluß meines Lebens nennen, daß ich die erste und wahrlich die schwerste Gelegenheit beim Schopf faßte, um die Entscheidung zu bewirken.

Fast gleichzeitig mit dieser Rangerhöhung erging an mich nämlich von seiten des herzoglichen Ministers die Aufforderung, mich etlichen hervorragenden deutschen Männern auf einer Reise nach England anzuschließen, um zu Nutzen der seit zwei Jahrhunderten arg verwüsteten und vernachlässigten[169] Bodenkultur unseres Vaterlandes im weitesten Sinne Beobachtungen und Erforschungen in jenem vorgeschrittenen Reiche anzustellen. Die Idee ging von unserem Herzog aus. Er kannte Land und Leute alldort, von wiederholten Besuchen und dem Studium jener eigenartigen Institutionen, er war dem britischen Hofe anverwandt, Inhaber des hohen Ordens, der nur an Ausländer von fürstlicher Distinktion vergeben wird. Die Erwägung würde daher nahe gelegen haben, daß dem bürgerlichen Mosjö Klösterley der Adel gleichsam als Passepartout verliehen worden sei, einmal um ihn seinen Begleitern, mindestens dem Klange nach, gleichzustellen, und dann, um ihn durch diesen Klang bequemer in ein Gemeinwesen einzuführen, das sich stolz zwar das freieste nennt, über welches jedoch noch ausschließlicher als anderwärts die Aristokratie die Zügel in den Händen hält. Jawohl, diese Erwägung würde nahe gelegen haben. Wie Toren aber gemeinhin Kurzsichtige sind, so sehen Besessene meines Schlages nur den Punkt am Horizont, und für die nächste Nähe brauchen sie eine Brille. »Man schickt dich auf Reisen, um freies Spiel zu haben, hinter deinem Rücken in deinem Revier zu jagen!« züngelte der Feind, und ich schalt ihn nicht: Verleumder!

Aber die Probe sollte gewagt, die Wahl gestellt werden. Die Zukunft würde über die Vergangenheit entscheiden. Ich nahm an.

Lori hatte wohl kaum eine deutliche Vorstellung von der Weite und Dauer meiner Entfernung. Sie war so hingenommen von des Herrn Güte, vielleicht auch von ein wenig Stolz auf die Ehre, die ihrem Gatten widerfuhr, jedenfalls so erfüllt von ihrem jungen Glück, daß sie mich arglos und sorglos scheiden sah.[170]

»Möchtest du während meiner Abwesenheit nicht nach Dresden gehen? Die Zeit wird dir hier lang werden,« sagte ich.

»Ich habe ja das Kind!« versetzte sie. »Bitte, Väterchen, laß mich ruhig hier.«

Sie wollte bleiben, wo sie – vielleicht nicht klar bewußt – Ihn, Ihn wiederzusehen hofft.

Mit diesem Gedanken riß ich mich los von Weib und Kind, festgewillt, zu ihnen zurückzukehren, befreit von drückendem Alp – oder niemals.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 167-171.
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