Elftes Kapitel

Keine

[273] Infolge dieser Seelenberuhigung war mein Urgroßvater nämlich zu der ganz natürlichen Einsicht gelangt, daß es nur der Menschlichkeit und Höflichkeit entsprechen würde, wenn er, bevor er seinen Sohn, den Langschläfer, vom Zornhügel abholte, sich bei den lieben Freunden in der Nachbarschaft erkundigte, wie nach der erlebten Drangsal ihr Befinden sei.

Gedacht, getan. Er schlug einen Bogen nach dem Flecken, stellte sein Geschirr beim Sonnenwirt ein und ging hinüber in das Witwenhaus, sich zum voraus darauf freuend, welche Augen sie machen würden, wenn er so unerwartet wieder ihnen gegenüberstände. Im Zimmer wurde laut gesprochen, sein Klopfen daher überhört; so klinkte er uneingeladen die Tür auf, und siehe da: wieder der gestrige Kaffeetisch mit den guten Meißener Tassen und der blitzblanken Zuckerschachtel, wieder fröhliche Kindergesichter und Mutter Christiane Freudentränen weinend, und auch wieder ein vornehmer Stadtgast: Mosjö Joseph Haller, sein Herr Sohn. Zwei Menschen wurden feuerrot; nicht etwa Joseph, der völlig gelassen blieb, aber Lenchen und mein Urgroßvater.

Der Leser wundert sich vielleicht, daß ich diesen gesetzten Mann in meiner Geschichte so oft erröten lasse. Ich beteuere aber, längst noch nicht so oft, als es ihm im Leben begegnet ist. Ja, noch im spätesten Alter machte dieses Merkmal der Unschuld sein schönes Antlitz wieder jung.

Er hatte sich eine heitere Ansprache ausgedacht, konnte[273] sich aber plötzlich nicht mehr auf dieselbe besinnen; auch die Familie kam ihm gar nicht mehr so zutraulich wie gestern vor, ja beinah verlegen. Kurzum, den Kaffeetisch abgerechnet, war der Unterschied groß.

David Haller reichte seinem Sohne die Hand und sagte mit einem Ausdruck von Staunen: »Die Gefahr scheint dir nicht übel bekommen zu sein, Joseph; mich deucht, du wärest gewachsen über Nacht.«

»Ein anderer wenigstens bin ich geworden, mein Vater,« erwiderte Joseph mit einem herzinnigen Ton, den der Vater noch nicht von ihm gehört hatte.

Alle schlugen bei den Worten die Augen zu Boden, nur Joseph nicht; er führte das Wort, und als nach einem Viertelstündchen der Vater zum Aufbruch drängte, nahm er ohne Umstände Magdalenens Hand, drückte sie erst an seine Lippen und dann sogar auch noch an sein Herz. Der Vater traute seinen Augen kaum. Wie hätte er, der Vater, zu solchem Bezeigen wohl die Dreistigkeit gehabt?

Nun saßen sie nebenander im Wagen und wechselten nicht ein Sterbenswort. Zu Hause angelangt, machte Joseph Miene, dem Vater in sein Zimmer zu folgen, da derselbe aber verschiedene geschäftliche Anfragen vorfand, zog Joseph sich in das seine zurück, setzte sich und schrieb bis ins Abenddunkel, indem er mit lauter Stimme die Schriftworte vor sich hin deklamierte. Die Frau Postmeisterin – denn die würdige Dame lebte noch immer, wenn auch hoch bei Jahren, und half ihrem Ehegatten in seinem Beruf – also die Frau Postmeisterin wollte sich vom Tage tun, als kurz vor Expeditionsschluß der junge Mosjö Haller, kaum aus schwerer Lebensgefahr erlöst, wie ein Irrwisch angeflogen kommt und einen fingerdicken Brief an Jungfrau[274] Magdalene Kellerin zur Besorgung mit dem nächtlichen Felleisen dringend anempfiehlt. O, wenn dieser Brief durchsichtig gewesen wäre, die Frau Postmeisterin würde eine ruhigere Nacht gehabt haben.

Als nach dem Abendessen die Tischgenossen sich zurückgezogen hatten, trat Joseph bei seinem Vater ein und bat um eine Unterredung. Der Vater wünschte wichtiger Geschäfte halber die Unterredung auf morgen verschoben, da der Sohn aber drängte, auch sich kurz zu fassen versprach, setzte jener sich im dunklen Schatten der Lampe an seine Fensterecke und stemmte die rechte Hand gegen seine Brust.

»Mein Vater,« so hob Joseph mit entschlossener, aber bewegter Stimme an, »mein Vater, Sie sagten heute, ich sei über Nacht gewachsen. Lassen Sie mich Ihnen wiederholen, daß Sie recht gesehen haben. Das Herz ist mir aufgegangen und ein ungeahnter Lebensgeist in mich eingezogen.«

Der Vater schwieg und blickte vor sich nieder.

»Ich liebe, mein Vater, liebe mit aller Glut der Seele!«

»O, nur nicht die Eine!« flüsterten Legionen Stimmen in David Hallers Brust, aber sein Mund blieb stumm.

»Ich liebe einen Engel, den der Herr alles Lebens im Angesicht des Todes in meine Arme legte –«

»In deine Arme!« schrie David auf und fuhr in die Höh, als ob ihn eine Natter gebissen hätte.

»Ja, Vater, sie ist die Meine geworden, für Zeit und Ewigkeit die Meine. O, mein Vater, geben Sie meinem Bunde mit Magdalenen Ihren Segen,« rief Joseph, indem er in höchster Erregung auf seine Knie sank.

Dem Vater legte es sich über die Augen wie ein schwarzer[275] Flor; kalte Tropfen traten auf seine Stirn; ihm war, als ob einer von ihnen beiden eine Sünde begangen habe, eine Sünde wider den heiligen Geist. Nach einer Pause faßte er sich jedoch; er wußte ja, wie leicht sein Sohn natürliche Gefühle ein wenig überspannte. »Joseph,« stammelte er, »Joseph, eine Bekanntschaft von wenigen Stunden – –«

»Aber welche Stunden, Vater! Ich habe in dieser Nacht mehr empfunden und erfahren, als andere ein langes Leben hindurch. Solche Stunden eignen den Menschen dem Menschen an. Ein unauflösliches Band hat sich in dieser Nacht geknüpft.«

Den Vater grauste es. Wieder währte es eine Weile, bis er sich gesammelt hatte und mit kaum hörbarer Stimme die Frage hervorbringen konnte: »Und bist du gewiß, daß sie – sie dein – dein Gefühl erwidert?«

»Sie ist rein wie eine Blume und unerfahren wie ein Kind – –,« der Vater atmete hoch auf – »noch faßt sie die Tiefe meiner eigenen Liebe nicht; aber sie hat sie angenommen und mir gelobt, die Meine zu werden und zu bleiben. O, teuerster Vater, kennten Sie diesen Engel, wie ich ihn kenne – –«

Ach, kannte er ihn denn nicht? Besser als dieser Neuling im Leben, besser als irgendein Mensch auf der weiten Welt?

Er machte noch manchen Einwand, suchte manche Ausflucht, die er selber als Einwände und Ausflüchte, nicht als Gründe erkannte: Josephs Jugend und Arbeitsscheu, des Mädchens Armut und dergleichen. Auch blies Joseph diese Einwände um wie leichte Kartenhäuser. War der Vater, als er ein Weib nahm, nicht jünger gewesen als[276] er? War er, Joseph, nicht eines reichen Mannes Sohn? Und wie würde er arbeiten, mit Kopf und Händen schaffen, der Geliebten das Leben auszuschmücken; wie wenig würde er selber bedürfen, einzig leben von der Seligkeit seiner Liebe!

In anderer Stunde und Stimmung würde der Vater vielleicht diese über Nacht aufgeschossene Tatkraft belächelt haben. Heute lächelte er nicht. Es war ihm wieder einmal, als hätte er einen tiefen Fall getan und müsse sich erst besinnen, wo er wäre. Ja, besinnen; das hieß sich mit seinem Gott beraten.

Sein Bett war am anderen Morgen unberührt, und gleich nach Sonnenaufgang kehrte er heim von Sophiens Grabe. Mit leisen Schritten stieg er die Treppe zu des Sohnes Zimmer hinan. Joseph schlief noch und lächelte im Morgentraume wie ein glückliches Kind; ein leichtes Rot färbte die sonst immer bleichen Wangen. Der Vater stand lange mit gefaltenen Händen und blickte auf ihn nieder. Dann ging er, unbemerkt, wie er gekommen war, an sein Tagewerk.

Nach dem Frühstück faßte er des Sohnes beide Hände und fragte mit feierlichem Ernst: »Ist es dein heiliger Wille, Joseph, und fühlst du dich stark genug, ein Weib zu lieben und zu schützen bis ans Ende deiner Tage?«

»Von ganzer Seele ja, mein Vater,« antwortete Joseph zuversichtlich.

»So habe ich gegen deine Verbindung mit Magdalene Kellerin nichts weiter einzuwenden. Gott und deine Mutter im Himmel, der ich deine Wohlfahrt angelobt habe, wollen ihren Segen dazu geben.«

Am nämlichen Nachmittag trat David Haller schon wieder[277] in das arme Witwenstübchen, aber nicht mit einem Scherzwort auf den Lippen, sondern mit der geziemlichen Würde eines Vaters, der für seinen Sohn als Werber kommt. Daß das mütterliche Jawort unschwer zu erreichen war, braucht nicht versichert zu werden. Die gute Christiane schluchzte vor Glückseligkeit und pries die allmächtige Hand Gottes, die aus der höchsten Not noch einen Segen ersprießen lassen kann. Aus der Überschwemmung sogar einen Mann für ein armes Kind.

Lebhaft und ahnungslos trat bei diesen Worten das arme, schöne Kind ins Zimmer. Sie war auf der Rolle gewesen und trug mit dem ältesten Bruder einen Henkelkorb frischer Wäsche, weiß wie Schnee und blank wie ein Spiegel. Sie war eine tüchtige, gewandte Arbeiterin, jede rasche Bewegung ihr eine Herzenslust. Schade, daß ein so derbes Schaffen nicht in der Natur ihres künftigen Wirkungskreises lag und daß, was stillsitzend verrichtet werden muß, ihrem munteren Wesen widerstand.

Sprachlos, beide Hände vor dem glühenden Gesicht, vernahm sie den ehrenvollen Antrag, zu welchem die Mutter in ihrem Namen die Einwilligung gegeben hatte. »Ach,« meinte gerührt die aufrichtige Witwe, »wie konnten wir armen Leute uns einbilden, daß Sie so bald Ja und Amen sagen werden, Sie guter, lieber, allerbester Herr Haller?«

Magdalene neigte sich bis zur Erde und küßte dem Vater ihres Verlobten demütig die Hand. Er hielt die ihre eine Weile fest, drückte sie dann an sein Herz und sprach mit klaren Tränen in den Augen:

»Gott sei mein Zeuge, Magdalene, daß Sie mir wie eine eigene Tochter werden sollen.«[278]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 273-279.
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