Fünftes Kapitel

Der Kehraus

[148] Der regelmäßige Briefwechsel zwischen den Eltern und mir war nichts weniger als kommunikativer Natur gewesen. In herkömmlichen Redensarten wurden gute Lehren gegen Versicherungen des Gehorsams ausgetauscht und das gegenseitige Wohlbefinden wünschend und lobend erwähnt. Vertrauliche Plaudereien schwarz auf weiß würden gegen die Würde des Verhältnisses verstoßen haben. Da gab es denn mündlich mancherlei zu berichten und zu berichtigen, was die ersten Tage des Wiederzusammenlebens füllte. Bald aber sollte ich inne werden, wie richtig mich meine alte Reckenburgerin erkannt. Ich hatte mich in der einsamen Freiheit ihres Hauses dem kleinstädtischen Wohnstubentreiben der Heimat bereits entfremdet.

Auch zwischen der »alleruntertänigsten Magd, Dorothee Müllerin«, und der »treugesinnten Eberhardine von Reckenburg« war ein glückwünschender Neujahrsgruß, wie aus dem Komplimentierbuche geschnitten, gewechselt worden. Jetzt fand ich meine kleine Kameradin in ihrem behaglichen Mädchenstübchen und bräutlichen Witwenstande unverändert wieder. Man merkte kaum, daß sie in dem Halbjahre vollkommen zur Jungfrau erblüht war, so rund und kindlich waren Formen und Ausdruck geblieben. Sie putzte sich zierlicher als alle anderen Bürgerstöchter, pflegte Blumen und Vögel, stickte Flitterschuhe und Tellermützendeckel, mit deren Erlös sie das Budget für ihr Tändelwerk erhöhte; sie backte wohlschmeckende Kringel und Brezelchen, welche in der Weinstube ihres Vaters guten Absatz fanden, und hatte sich zur Ausfüllung der bei alledem[148] reichlichen Zeit auf die Lektüre geworfen. Mit glühenden Wangen sah ich sie die verwogenen Ritter- und süßlichen Liebesgeschichten der Leihbibliothek verschlingen, hörte auch, daß sie sich im Laufe des Winters fleißig der Musik gewidmet habe. Der zärtliche Christlieb Taube kam allsonntäglich zu einer Stunde im Gitarrenspiel von seinem unfernen Schuldorfe in die Stadt, und zweifle ich nicht, daß diese Stunde ihm die angenehmste der Woche gewesen sei. Da zwitscherte denn die Dorl mit ihrem Lerchenstimmchen die Arien, welche der modischen Lektüre entsprachen: »vom kühnsten aller Räuber, den der Kuß seiner Rosa weckt«, oder »von dem Robert, den Elise an ihr klopfendes Herz ruft«.

»Jungfer Ehrenhardine« schüttelte gar weise den Kopf. Denn wenn auch die Kleine diese Bedenklichkeiten mit der kindlichen Unschuld las und sang, ohne es zu wissen, tat sie es aus Langeweile, der recht eigentlichen Mutter weiblicher Schuld. Sie bewunderte meine Gelassenheit bei der Nachricht, daß ein Trauerfall in der landesherrlichen Sippe laute Lustbarkeiten für die Donnerstagsgesellschaft während des Sommers verbiete. »Ich möchte Sie nur ein einziges Mal tanzen sehen, Fräulein Hardine,« sagte sie seufzend, »oder nur ein einziges Mal selber wieder tanzen, wie sonst mit dem gnädigen Herrn Papa.«

Der Faber hatte zum Weihnachtsangebinde eine schöne Granatschnur geschickt und als Gegengeschenk eine Perltasche für sein Verbandzeug erhalten. »Einen Tabaksbeutel hätte ich viel lieber gestrickt,« meinte die Dorl. »Aber er raucht ja nicht; er kennt ja kein Vergnügen, als seine gräßlichen Messer und Zangen.« Im übrigen[149] studierte und praktizierte Siegmund Faber unverdrossen weiter, rechnete auch ebenso unverdrossen auf das blutige Übungsfeld eines Operateurs.

»Es wird eine Weile währen, ehe wir zueinander kommen,« sagte lachend die Dorl, »aber ich kanns ja abwarten.«

»Das Kind hält sich musterhaft,« versicherte mein Vater und die Mutter konnte dem Lobe nicht widersprechen. Muhme Justine aber bemerkte kopfwiegend: »Man soll den Jungfernkranz nicht rühmen, bis man ihm die Hochzeitsmütze überstülpt.«

Die zweite Trennung vom Hause war allerseits kein halber Tod, nachdem die erste so ungefährlich abgelaufen. Auch von dem zweiten Reckenburger Aufenthalt würde nichts Neues zu berichten sein. Als er sich zum Ende neigte, machte mir die Gräfin den Antrag, auch den Sommer hindurch und für alle Zeit bei ihr zu bleiben. Ich sagte rundweg »nein«. Denn wohl mutete das tätige Treiben auf Reckenburg mich freudiger an als die stille Beschränkung des Elternhauses, nimmermehr aber würde ich mein Heimatsrecht und meine Heimatspflicht in demselben freiwillig aufgegeben haben. Der Gräfin hingegen, obgleich sie mich ungern entbehrte, muß ich nachrühmen, daß mein Freimut sie nicht verletzte, ja daß diese rücksichtslose Ehrlichkeit es war, der ich die raschen Fortschritte in ihrem Vertrauen zu danken hatte. Ich ging schon in dieser Zeit unangemeldet bei ihr aus und ein, und der Riegel wurde nicht mehr vorgeschoben, wenn sie mich im Vorzimmer wußte.

Wie bedeutend diese Fortschritte waren, sollte ich jedoch erst am Vorabend meiner zweiten Heimreise, der heuer mit[150] dem solennen Prinzenfeste zusammenfiel, gewahr werden. Die Gräfin war den Tag über so guter Laune, wie ich sie noch niemals gesehen hatte. Sie erhielt eine ihrer geheimnisvollen Dresdener Korrespondenzen, die sie lächelnd las und wieder las. Ich bemerkte, daß sie ein Miniaturbild mit Wohlgefallen betrachtete und dann sorgfältig verschloß. »Schön – schön – wie er!« hörte ich sie murmeln, und dann ein andermal: »Jung Blut hat Mut!« Ja als ich nach der üblichen Mittagsruhe bei ihr eintrat, kam ich auf den sträflichen Gedanken, Hochgräfliche Gnaden haben sich im festlichen Champagner einen Spitz getrunken. Sie saß mit halbgeschlossenen Augen im Lehnstuhl und trällerte ganz munter ein Liebesliedchen, als dessen Dichterin die schöne Aurora von Königsmark genannt worden ist:


»Die Liebe zündet Herzen durch der Augen Kerzen,

Im Anfang ists ein Scherzen, dann folget Pein.«


Der Eindruck war mir widerlich; ich machte ein Geräusch und die Alte bemerkte mich. Noch murmelte sie:


»Sie zwingt den Mut, sie dringt ins Blut,«


dann schlug sie das Hauptbuch auf und wir rechneten noch eine Stunde miteinander, um die laufenden Geschäfte vor der Reise abzuschließen.

Nach dem Souper folgte ich ihr zum Abschied in ihr Kabinett. »Du bist siebzehn Jahr alt, Eberhardine,« sagte sie, »und es könnte sich auch in deiner kleinen Stadt eine Gelegenheit finden, bei welcher eine standesmäßige Toilette geboten ist. Ich habe dir eine solche bestimmt, die für mich angeschafft, aber nicht benutzt wurde. Sie wird sich für dich zweckentsprechend arrangieren lassen. Du findest den Karton in deinem Zimmer. Öffne ihn[151] erst, wenn du heim kommst, daß der Stoff sich nicht unnötig zerdrücke.«

Ich küßte die Hand mit aufrichtigem Dank. Immerhin war es ja ein Akt des Heroismus, sich von einem in Reckenburg eingeführten Gegenstande zu trennen. Heimlich aber mußte ich darüber lächeln, daß der Anzug einer angehenden Matrone fast ein halbes Jahrhundert später für ein junges Mädchen arrangiert werden sollte, das sie um mehr als Kopfeshöhe überragte.

Die Gräfin fuhr fort: »Du bist weder schön noch passioniert genug, Eberhardine, um jugendliche Wallungen zu entzünden. Deines Herzens bin ich sicher. Hüte dich aber vor einer vernunftsmäßigen Versorgung nach dem Zuschnitt deines elterlichen Lebens. Ich sehe Höheres für dich voraus. Deine Turnüre ist jetzt comme il faut; Geist und Körper zeigen die Kraft, welcher die Stammütter großer Geschlechter bedürfen. Ich wiederhole es: du bist nicht bestimmt, Neigung zu wecken und zu befriedigen, du bist bestimmt, Achtung und Vertrauen zu fesseln, nachdem die Leidenschaft ausgeschäumt. Nicht heute oder morgen allerdings; aber du zählst erst siebzehn und ich wurde dreißig Jahre, bevor ich mein Ziel erreichte. Auch du wirst es erreichen. Präge dir die Wappen ein, die über der Reckenburg vereinigt stehen, und bleibe fest darin, daß sie sich zum zweitenmal vereinigen sollen, dauernd vereinigen müssen. Halte dich brav, Eberhardine. Au revoir

Das also wars! Das der heimliche Plan der alten Häuptlingin, als sie die Letzte ihres Stammes zur Prüfung unter ihre Augen lud; das das Zeugnis, daß sie ihre Probe bestanden hatte: das fürstlich-freiherrliche[152] Wappen mit der obligaten Grafenkrone in Permanenz über der Reckenburg! Die letzte Reckenburgerin und der Letzte eines erlauchten Fürstenhauses die Gründer eines neuen, reichbegüterten Geschlechts!

Ei nun, es war eine Greisenschrulle, würdig der eisenfesten Erhalterin; aber eine gar anmutende Schrulle auch für einen jugendlich Reckenburgschen Puls. Und wenn es zuviel behauptet wäre, daß der schöne prinzliche Zukünftige ihr im Traume erschienen sei: ein paar Stunden gewohnter Nachtruhe hat er seiner Braut in spe wahrhaftig gekostet.

Mein heuriger Reisebegleiter war der Prediger, der sich durch kleine literarische Arbeiten ein paar freie Freudentage erkauft hatte. Es galt einen Besuch bei seinem in Leipzig studierenden Sohne; es galt nebenbei einen Blick in den neuesten Meßkatalog und in die antiquarischen Schätze der Metropole deutscher Bücherwelt. Mein frohmütiger Freund hoffte, diese Meßfahrten halbjährlich erneuern zu können, und wir verabredeten zum voraus die gemeinsame Rückreise im Herbst.

Ohne Zweifel würde mir nun dieses zweitägige Beieinander mit dem lieben, lehrsamen Herrn die ersprießlichsten Dienste geleistet haben, wenn zwischen den neuen spanischen Helden unseres Schiller und die metrischen Fehden von Lichtenberg kontra Voß nicht immer von neuem der zudringliche prinzliche Störenfried gefahren wäre. Die alte Reckenburgerin hatte wohl recht: ihre erkorene Nachfolgerin war nicht eben entzündlicher Imagination, und die Warnungstafel mit dem späten ehelichen Korrektiv war auch nicht zum Überfluß aufgestellt; bei alledem aber blieb es ein feuergefährliches Spielwerk, das sie siebzehnjährigen[153] Sinnen anvertraut hatte. Sooft Dame Weisheit den Verführer aus dem Felde schlug, lispelnd und lächelnd gaukelte er sich immer wieder ein. Chassez le naturel, il retourne au galop!

Ich wußte von dem jungen Herrn nichts, als daß mein Papa ihn einen Sausewind genannt hatte, und daß die Andeutungen der Gräfin diesem Epitheton just nicht widersprachen. Die Begierde, ein Mehreres über ihn zu erfahren, prickelte mich bis in die Zungenspitze. Ich machte endlich kurzen Prozeß und platzte mit der Frage: was von dem Stiefsohne meiner Tante zu halten sei? mitten unter die idyllische Gesellschaft im ehrwürdigen Pfarrhause von Grünau.

Der ehrwürdige Pfarrherr von Reckenburg stutzte. Er kannte den Prinzen natürlich nicht; er kannte ja nicht einmal die Gräfin und war weit davon entfernt, in dem Sohne des Ungetreuen seinen dermaleinstigen Patron zu vermuten. Angeregt durch einen Zeitungsartikel, hatte daher nur ein Zufall ihm vor kurzem flüchtige Kunde über ihn zugetragen.

Der junge, schöne Prinz – einen Antinous nannte ihn das Gerücht –, leichtlebig, zu galanten Abenteuern geneigt und mit seinen knappen Finanzen ärgerlich verwickelt, hatte längst schon über die methodischen Anforderungen des kurfürstlichen Hofes, dem er sich als Verwandter, Mündel und Militär untergeordnet sah, Verdruß und Langeweile zur Schau getragen, und ein Heißsporn in den Kauf, war er bei dem lässigen Ausgang der Monarchenversammlung zu Pillnitz während des verflossenen Herbstes in offene Empörung ausgebrochen. Er entwich heimlich von Dresden, um an dem Hoflager des Kurfürsten[154] Klemens in Koblenz eine anregendere Kameraderie zu suchen. Hier in das frivole Treiben der Emigrierten bedenklich verflochten, hatte er sich kopfüber in eine Schuldenlast gestürzt, welche weder die Verwandtschaft von Kursachsen noch von Kurtrier zu honorieren geneigt war. Vor kurzem sollte er nun summarischen Befehl zur unverweilten Rückkehr nach Dresden erhalten haben, und hoffte man, auf diese Weise bei dem sich vorbereitenden Kreuzzuge gegen den fränkischen Jakobinismus vor einer kompromittierenden Teilnahme des fürstlichen Parteigängers sichergestellt zu sein.

»Es hat sich,« so schloß der Prediger sein Referat, »es hat sich nach anderthalbhundertjährigem Schlummer im deutschen Walde ein treibender Sturm erhoben. Oben in den Wipfeln rauschts und brausts, während das Wurzelland, ein breiter, dumpfer Weideplatz, noch der umarbeitenden Pflugschar harrt. In der Gelehrtenwelt, in Kunst und Poesie, allerorten sehen wir einzelne Spitzen, unverstanden oder falsch verstanden, die Menge überragen. Auch in unseren ungezählten Dynastengeschlechtern tut sich dieses jache, ungleichartige Drängen kund. Wie viele sind ihrer nicht, die einen genialischen Sprossen getrieben haben? Sehen sich diese Sprößlinge nun als Erben eines Thrones, wie Friedrich, wie Joseph, oder auf anderem Gebiete, wie der edle Weimaraner, so werfen sie sich auf zu Bahnbrechern einer neuen Ordnung, um je nach Kräften, Verhältnissen und Temperament in ihrem Streben zu siegen oder unterzugehen, immerhin aber einen Keim zu legen, welcher der Zukunft Früchte tragen wird. Sind es Nebenschößlinge, wie dieser Prinz, jüngere Söhne ohne Land und Macht, aber in fürstlicher Blendung, in[155] fürstlicher Absonderung aufgewachsen, so sehen wir sie nur allzu häufig als taube Blüten vom Mutterbaume ab- und dem Gesetze verfallen, welches jede Kraft, die nicht Tat wird, zum Wahne werden läßt. Abenteurer und Tollköpfe, Lüstlinge und Sonderlinge, Dilettanten und Pfuscher, Freigeister und Geisterseher, rütteln sie für sich selbst an den Schranken, welche Sitte und Herkommen bis heute geheiligt haben, ohne für die Freiheit und Wohlfahrt der anderen eine einzige zu durchbrechen. Höher hinauf können sie nicht; in die Breite und Tiefe wollen sie nicht, oder dürfen sie nicht. Sie bleiben eben Prinzen, das heißt Exzeptionen, denen kein anderes Feld des Ruhmes und der Tatkraft angewiesen ist als das blutige Leichenfeld, das auch zur Stunde, und Gott weiß bis zu welcher Stunde, unser kaum erwachtes Vaterland von neuem zu erstarren droht.«

Das waren nun freilich Belehrungen, welche die Reckenburger Schimäre ihres blendenden Zaubers entkleiden durften, und als ich, von Leipzig ab allein, in meiner bescheidenen Zurückgelegenheit heimwärts gerüttelt ward, da zerstoben denn auch die bunten Seifenblasen vor dem nüchternen, geschulten Blick. Würde, so fragte ich mich, der tollmütige, ritterliche Antinous um schnödes Geld und Gut sich der Verbindung mit einem unschönen, unstandesmäßigen Fräulein, das er nicht einmal kannte, unterwerfen? Würde die alte Reckenburgerin auf diese Verbindung bestehen, dem Sohne eines Mannes gegenüber, der ihr Stolz und ihre Lust, der offen und geheim der Regulator ihres Lebens gewesen war? Endlich aber, wenn sie auf die Bedingung bestand, wenn er der Not sich unterwarf, würde das unschöne, unbekannte Fräulein[156] sich bedingungsweise einem Manne in den Kauf geben lassen, der sie mit widerwilligem Gemüte empfing? Nein, dreimal nein! Nicht um den Besitz eines fürstlichen Antinous, nicht um den Besitz der Reckenburg und aller Herrschaften der Welt. Nimmermehr!

Mit diesem herzhaften Strich durch alle gaukelnden Hirngespinste, und mit dem Vorsatz, mich durch keine Andeutung der matrimonialen Schrullen auf der Reckenburg lächerlich zu machen, betrat ich mein Elternhaus. Bei alledem wird mir eine rückfällige Schwachheit zu verzeihen sein, als gleich nach der ersten Begrüßung der gute Papa mir mit der Frage entgegenfuhr: »Wußte die alte Gnädige schon, meine Dine, daß ihr Erbprinz hiesigen Orts auf Strafkommando versetzt worden ist?«

In Wahrheit, mir schwindelte. – »Prinz August hier – hier?« – stammelte ich.

»Noch nicht,« versetzte die Mama nach einem Räuspern, das allemal eine gelinde Rüge für den Gemahl bedeutete. »Noch nicht. Doch darf er jede Stunde erwartet werden. Er ist als Major dem Regimente aggregiert worden, mithin Papas unmittelbarer Vorgesetzter, wie manche wissen wollen, um seine etwas brouillierten Verhältnisse in der kleinen Garnison wiederherzustellen. Ich für mein Teil bin der Ansicht, daß man ihm ein selbständiges Kommando zugedacht, und daß man unsern Ort gewählt hat, weil das wohleingerichtete Schloß ein standesmäßiges Logement gewährt.«

»Bis zum Donnerstag ist er jedenfalls einpassiert,« setzte der Vater hinzu. »Die Gesellschaft arrangiert ihm zu Ehren ein Picknick, einen bal champêtre

»Einen Empfang, Eberhard,« verbesserte die Mutter.[157]

»Meinetwegen einen Empfang,« fuhr der Vater heiter fort. »Auf alle Fälle werden die Damen an dem Tage seine Bekanntschaft machen, und endlich einmal wird eine frohe Stunde auch für unsere arme, brave Dine gekommen sein.«

»Wir werden uns nun unverzüglich mit deiner Toilette zu beschäftigen haben,« hob die Mutter an, wurde aber durch die Meldung eines Damenbesuchs in der hochwichtigen Picknickangelegenheit unterbrochen. Ich war noch im Reisekleid und durfte mich in mein Zimmer zurückziehen.

Sollte ich denn über den verwünschten Prinzen nimmermehr zur Ruhe kommen? Kaum ist das Traumbild verscheucht, steht er leibhaftig vor mir aufgepflanzt. Hatte die Gräfin um diese Begegnung gewußt, ihre Pläne darauf gegründet? War es ein Glücksfall von denen, welche die Seherin der Familie in Karten und Kaffeesatz vorausgeschaut? Waren die Reckenburgschen Bedingungen wohl schon dem armen, bedrängten jungen Herrn insinuiert?

Nun, auch mit einem leibhaftigen Störenfried läßt sich fertig werden, und schneller häufig als mit einem Hirngespinst, wenn nur das Rüstzeug des Stolzes scharf geschliffen ist. Ich war mit dem meinigen fertig, ehe noch unten die große Konferenz abgelaufen war.

Ein leichter Schritt auf der Treppe brachte mich vollends in das natürliche Geleis zurück. Es war Dorothee, die mich nicht vor dem morgenden Tage erwartet hatte und von einem Ausgang zurückkehrte. Jetzt erst legte ich die Reisekleider ab, öffnete dann, meine Nachbarin zu überraschen, leise die Tür und stand eine Weile unbemerkt auf ihrer Schwelle.[158]

Die rege, behende kleine Dorl saß am Fenster, das Köpfchen in die Hand gestützt, sie, die ich immer nur lachen und plaudern gehört, sie – seufzte; sie schien mir bleicher, als da ich sie verlassen hatte, das Auge weiter, fragender geöffnet und von einem bläulichen Schatten umringt. Die Blumen auf dem Fensterbrett hingen durstig die Köpfe, die Zeisige im Bauer flatterten unruhig nach Futter. Ihre fröhliche Pflegerin hatte sie versäumt.

Sobald sie jedoch meiner ansichtig ward, da goß sich der gewohnte blühende Lebenshauch über die liebliche Gestalt. Sie stürzte mit einem Freudenschrei an meine Brust. »Hardine!« jubelte sie, »Fräulein Hardine, o nun ist alles wieder gut!«

»Was ist gut?« fragte ich, indem ich mich zu ihr setzte und ihre Hand faßte. »Hast du Kummer, Dorothee?« Sie schüttelte den Kopf. »Oder Sorge? um den Faber etwa?«

»Um den Faber? ach was weiß ich von dem? Der schneidet Krüppel und Leichen und bald zieht er in den Krieg. Um mich kümmert er sich nicht so viel.« Sie schnippte lachend mit der Hand.

»Schreibt er dir denn nicht?«

»Alle Jahr zweimal, zum Geburtstag und zum Heiligen Christ.«

»Und du?«

»Was soll ich ihm schreiben? Ich erlebe ja nichts. Ich bedanke mich für sein Angebinde, schicke ihm auch eins und damit gut.«

»Aber was fehlt dir denn, liebe Dorothee?«

»Was mir fehlt? Ich glaube nichts. Ein wenig Freude vielleicht. Aber ich weiß es nicht. Sie haben ja auch keine Freude, Fräulein Hardine.«[159]

»Du beschäftigst dich nicht genügend, Kind,« mahnte ich.

»Mit was soll ich mich denn beschäftigen?« versetzte sie, »ich tue, was ich kann.«

Ich mußte schweigen. In der Tat, was sollte sie tun in ihrer bräutlichen Freiheit und Beschränkung? Undeutlich ahnte ich auch, daß Arbeit nicht das Mittel sein würde, um dieses Dasein auszufüllen.

»Aber was möchtest du denn, Liebe?« fragte ich nach einer Pause.

»Ich möchte leben!« rief sie mit jenem unbeschreiblichen Impuls, mit welchem sie damals im Garten: »Gut sein, Hardine, heißt Gottes Kind sein!« gerufen hatte.

Und wie sie damals in rascher Wandlung sich auf die ersten Veilchen stürzte, um die Freundin mit ihnen zu schmücken, so stürzte sie sich heute auf deren Hände, drückte sie an ihr Herz und frohlockte: »O aber nun habe ich Sie wieder, Fräulein Hardine, nun bin ich nicht mehr allein, nun bin ich vergnügt und glücklich wie sonst!«

Gleichwohl verließ ich sie mit dem Vorgefühl nahender Schmerzen. »Dörtchen sieht nicht mehr so frisch aus wie im Herbst,« sagte ich, als ich zu den Eltern zurückkehrte, und der Vater entgegnete:

»Kein Wunder! Sie langweilt sich, die arme kleine Dorl. Schön wie ein Bild, siebzehn Jahre und immer das nämliche, freudlose Einerlei!«

»Hat unsere Tochter etwa mehr Freude von ihrer Jugend, Eberhard?« fragte die Mutter scharf.

Der Vater streichelte meine Backen, und ich sah es wie einen Nebel über seine Augen fliegen. »Unsere Dine, unsere brave, gute Dine!« sagte er bekümmert. »Verdammtes altes Hexennest! Gings nach mir – –« Er[160] vollendete den Satz nicht, denn Frau Adelheid hatte ein warnendes Räuspern hören lassen. Nach einer Pause aber fuhr er, sich vergnügt die Hände reibend, fort: »Nun gottlob, nächsten Donnerstag kommt ja die Gelegenheit, wo Jungfer Eberhardine auch einmal das Kittelchen schwenken darf, wie es ihrer Jugend gebührt!«

Am anderen Tage war unsere kleine Wirtin wieder die alte, muntere Dorl und Feuer und Flamme bei der großen Toilettenangelegenheit. Der Karton der Gräfin wurde geöffnet, und wir musterten mit wohlgefälligen Blicken eine Robe – kein Zweifel, daß es die für die Einzugstafel in Reckenburg bestimmte gewesen ist – nun, eine Robe, die vor fünfzig Jahren vor einer glänzenden Hofgesellschaft Parade machen, die aber heute noch in unserer kleinen Exresidenz hinlänglich modisch und überreich erscheinen durfte. Ein meergrüner Damast, mit leichten Silberfäden durchwoben, Ärmel und Ausschnitt mit einem Spitzenhauche garniert. Die Mama wiegte den Kopf mit dem Ausdruck höchster Befriedigung.

»Der Rock ist zu kurz,« meinte sie, »kann aber durch den entbehrlichen Manteau verlängert, auch die Corsage paßlich dadurch hergestellt werden. Feinere Applikation sah ich nie. Ihr Kaffeegelb hebt den brünetten Teint, zumal bei gepuderter Frisur und echten Perlen im Toupet. Eine fürstliche Toilette, liebe Tochter!«

Ich pflichtete dem bei. Die Dorl aber zog ein Mäulchen wie ein schmollendes Kind. »Beileibe nicht Puder, Fräulein Hardine!« raunte sie mir ins Ohr. »Keine Pariserin trägt noch Puder und Toupet. Und um Gottes willen nicht diese standfeste Robe mit der quittengelben Garnitur! Sie nehmen sich ja aus wie Ihre Großmutter,[161] Fräulein Hardine. Ein Kleid von weißem Nessel, rote Schleifen und eine frische Rose – meine Stöcke blühen herrlich! –, eine Rose im gekräuselten schwarzen Haar, so möchte ich Sie sehen auf Ihrem ersten Ball!«

Der Tausend, ich war auch einmal siebzehn Jahr! Im weißen Kleide, eine Rose in den Locken, auf dem ersten Ball, zum erstenmal unter den Augen von – Kinder, das Herz zitterte mir im Leibe vor heller Lust.

Aber nur einen Augenblick, denn die Mama, welche dem ungewohnten, halblauten Widerspruch mit sichtlichem Mißfallen gelauscht hatte, versetzte: »Es ist kein Ball, mindestens nicht seinem ersten Zwecke nach. Es ist ein Cercle, eine Präsentation. Mögen die Amtmannsjungfern in Schäferröckchen einen Prinzen von Geblüt umtänzeln: wir sind nicht des Schlags, der den Braten von einem Kompottellerchen genießt. Was aber den Puder anbelangt: haben die Jakobinerinnen in Paris ihn abgelegt, der beste Grund für uns, ihn beizubehalten.«

Fahre wohl, du leichter Nesseltraum! Noblesse oblige.

Die letzte Reckenburgerin hat ihren Puder so lange wie eine und nie im Leben Rosen getragen.

Der Donnerstagmorgen brach an und noch herrschte in der Gesellschaft die bänglichste Spannung. War der Prinz über Nacht angelangt? War ers immer noch nicht? Was sollte bei dem weichen Wetter aus Amtmanns Truthahn, was aus dem wilden Schweinskopf der Frau Oberforstmeisterin werden? Durfte die Freifrau von Reckenburg den Teig zum Spritzgebackenen einrühren?

Sie durfte ihn einrühren! Der Papa war es, der atemlos die frohe Botschaft brachte; der herzensgute Papa, der mit Freuden den sauren Posten eines maître de plaisir[162] und Vortänzers wieder übernommen hatte, heute, wo es galt, seinem prinzlichen Kommandeur einen würdigen Empfang und seiner Tochter ein erstes Jugendfest zu bereiten. Der Prinz war in der Nacht angelangt und hatte die Einladung des Komitees huldreichst akzeptiert. »Ein Mann wie ein Bild!« sagte der Vater, »sähe ihn deine Gnädige, meine Dine, sie bezahlte mit Zuckerlecken seine Schulden.«

Nun hieß es alle Hände rühren. Schon früh um neun erschien der Friseur. Kaum war der kunstvolle Turmbau mit erster Kraft und Laune vollendet, stellte auch schon Dörtchen sich ein, um die Taille zu schnüren und die Points vor dem Busen festzuheften. »O das hat ja noch Zeit!« sagte ich abwehrend.

»Ich muß mich doch aber auch anziehen, Fräulein Hardine,« entgegnete die Kleine »und noch früher oben sein als Sie.«

»Du?« fragte ich verwundert.

»Ich helfe dem Vater nur ein wenig; der arme Mann weiß nicht, wo ihm der Kopf steht, Fräulein Hardine.«

Dawider konnte nun im Grunde nichts eingewendet werden. Ich ließ mich daher zur Wespe zusammenpressen und saß viele Stunden beklemmt und mit noch röterem Angesicht denn sonst im väterlichen Lehnstuhl. Die Mama huschte zwischen Backofen und Toilettentisch hin und wieder; der Papa hatte Not, sich in die alte Galamontur zu zwängen. Zwischen Stück und Stück probierte er ein Entrechat, um die Glieder für die große Abendaufgabe gelenk zu machen. An ein Mittagbrot dachte von der gesamten Donnerstagsgesellschaft heute schwerlich ein Mensch.[163]

Endlich, endlich schlug es vier. Die amtmännliche Karosse rollte vorüber, und die Familie Reckenburg schlüpfte durch das Pförtchen des seligen Leibbarbiers auf die Schloßterrasse und in den Pavillon. Sie war die erste auf dem Platz. Einem Prinzen von Geblüt darf man nicht nur, man muß ihm zuvorkommen.

Das Wetter war sommermild; Bäume und Sträucher blühten. Man hätte Ende April keinen günstigeren Nachmittag treffen können, wenn es auf eine fête champêtre abgesehen gewesen wäre. Da es aber auf die Präsentation eines Fürstensohnes abgesehen war, hatte man sich anstandshalber für das herzogliche Lusthaus entschieden, wie Mutter Reckenburg für die Robe von drap d'argent. Das Lusthaus bestand allerdings nur aus einem einzigen Saal, war aber für den heutigen komplizierten Zweck mit Hilfe einer Draperie in zwei Hälften geteilt worden. Die vordere diente zum Empfang und darauffolgendem Tanz, die hintere passierte als Speisesaal. Die vorausgesendeten Gerichte gewährten eine verlockende Dekoration wie auch, gemischt mit den vom Garten hereindringenden Frühlingsdüften, einen gar würzigen Parfüm. Unter der Draperie, zwischen beiden Abteilungen, stand Meister Müllers Büfett, und seine behäbige Gestalt lehnte in der Tür, die zur Seite in Küche und Keller führte. Dorothee verhielt sich natürlich hinter der Szene.

In diesem Raume, der übrigens sein fürstliches Ansehen leidlich bewahrt hatte, harrte die vollzählig versammelte Gesellschaft eine Stunde lang, zwei Stunden, noch länger auf den Ersehnten, der – nicht kam. Keiner setzte sich, keiner hatte die Geduld, ein Gespräch fortzuführen.[164] Aller Blicke hingen gespannt an der geöffneten Tür. Es war so stumm in dem gefüllten Saale, daß man die Vögel draußen zwitschern hörte. Auf der Tribüne hielt die Regimentsmusik standhaft die Trompeten am Munde, um den Bewillkommnungstusch nicht zu versäumen. Unter dem Eingange stand im Prallsonnenscheine, chapeau bas, das Komitee, an seiner Spitze mit zum Tubus gehöhlter Hand der Rittmeister von Reckenburg. Alles lauschte, lugte, lauerte – kein Prinz kam.

Absichtliche Unpünktlichkeit von seiten eines kursächsischen Blutsverwandten konnte nicht angenommen werden; es mußte ein Mißverständnis obwalten oder ein Unfall eingetreten sein. Nach langer Deliberation setzte sich der Chef des Komitees zu einer untertänigen Anfrage in Bewegung, und hat die Familie dieses Chefs späterhin vertraulich in Erfahrung gebracht, daß es mit der unannehmbaren fürstlichen Unhöflichkeit doch nicht so ganz ohne gewesen sei. Als der Abgesandte vor dem hohen Gaste erschien, lag derselbe gemächlich im Schlafrock auf der Causeuse ausgestreckt, eine lange Türkenpfeife im Munde und den Hamburger Korrespondenten in der Hand. »Schon?« fragte er gähnend. »Sind die Schönen ihrer Reize so sicher, um sie bei Sonnenschein preiszugeben?« Doch verhieß er sein Erscheinen, sobald Zeitung und Toilette vollendet sein würden.

Es dämmerte bereits, als der Abgesandte mit dieser Botschaft zurückkehrte. Flugs wurden die Fensterläden geschlossen, die Kronleuchter angezündet. Die Gesellschaft rangierte sich in zwei Heckenwände, zwischen denen der erlauchte Gast seinen Durchgang nehmen sollte. Obenan die Gemahlinnen des Adels, dann die bürgerlichen; nunmehr[165] die Fräulein, neben ihnen die Demoiselles und endlich die Herren in gleicher Rangordnung.

Noch dauerte es eine gute Weile, ehe der lange gehegte Tusch und gleich darauf die vorstellende Stimme des maître de plaisir am oberen Ende erschallten. Ich hatte mich nicht umgeblickt und mein Haupt in stolzester Haltung aufgerichtet, um das schlagende Herz vor mir selber Lügen zu strafen. Erst als ich meinen Vater den Namen: »Freifräulein Eberhardine von Reckenburg« nennen hörte, und während ich mich zu der bewährten Menuettsenkung niederließ, hob ich das Auge, so ruhig ich vermochte, zu dem Vorüberstreifenden empor.

Ich war auf einen schönen Mann vorbereitet; der aber, meine Freunde, welcher meinem Blick begegnete, er war nicht nur der schönste Mann, den ich bis dahin gesehen – denn das würde nicht viel bedeuten –, aber es war und blieb, ich weiß keinen bezeichnenderen Ausdruck als: der anmutvollste Jüngling, den das Leben mir vorgeführt hat. Hatte er in seine Jugend gestürmt, das Äußere wenigstens trug von diesen Stürmen keine Spur, nicht die schlanke, geschmeidige Gestalt, nicht die rosige Farbe von fast mädchenhafter Transparenz, nicht die Züge, welche vielleicht zu weich und fein erschienen sein würden ohne das große, schwarzblaue Auge, das mit kühnem Feuer das Antlitz beherrschte. Dazu das lichtblonde Bärtchen über der heiter gekräuselten Oberlippe, die üppige Lockenwelle, welche dem steifen Zopfband widerstrebte, und endlich jene sichere Lässigkeit in Tracht und Haltung, die nur denen natürlich ist, deren Herablassung als Huld betrachtet wird. Mein biederer Vater in seiner Zwangsjacke und standfesten Würde spielte in meinen Augen eine ärgerlich[166] komische Figur neben diesem Liebling der Grazien im bequemen, halbgeöffneten Kollett.

Es war der erste Blick, mit dem ich diesen vollen Eindruck erfaßte, und ich begriff während dieses ersten Blicks die Erinnerungslust meiner achtzigjährigen Reckenburgerin, wenn der Sohn ihres Ungetreuen seinem Vater ähnlich sah: aber seltsam – sollte es ein Ahnen der Zukunft gewesen sein? –, während dieses ersten, kurzen Blickes surrte es vor meinen Ohren wie die Totenklage des Hadrian, die mir der Prediger neulich so beweglich geschildert hatte, denn ein Schönerer als dieser Antinous konnte das kaiserliche Künstlerauge nicht erquickt haben.

Als der Vater meinen Namen nannte, stutzte der Prinz, der noch eben, nachlässig mit dem Spitzentuche grüßend, an meiner Nachbarin vorübergeglitten war. Er pausierte einen Moment, ein vertrauliches Lächeln auf den Lippen, so, als ob er einem alten Bekannten begegnet sei; dann ging er weiter, vorstellend und sich neigend, die Reihe entlang.

Die Polonäse hob an. Der Prinz führte meine Mutter durch den Saal, bei weitem zu kurz und kunstlos für die Mode der Zeit. Jetzt entstand eine Pause; die Großwürdenträgerinnen erwarteten gespannt eine Näherung des gefeierten Gastes und zuckten unverhohlen die Achseln, als sie ihn, nachdem er bereits der verwitweten Exzellenz vom Hofmarschallamt die Gattin seines Rittmeisters vorgezogen hatte, jetzt raschen Schrittes sich deren Tochter zuwenden sahen.

»Sie kommen von Reckenburg, Gnädigste?« so redete er mich mit dem vorigen vertraulichen Lächeln an. »Wie geht es meiner Exmama? Unsterblich, so sagt man – –«[167]

»Unentkräftet mindestens, Durchlaucht, und unermüdet,« antwortete ich.

»Auch unersättlich, gelt, und unerbittlich über ihren lydischen Schätzen! Nun, auch Krösus hat ja endlich seinen Solon gefunden. Wollen Sie nicht Ihre Weisheit geltend machen, Gnädigste, um wenigstens einen armen Schuldner von seiner Sklavenkette zu befreien?«

Ich kann nicht sagen, daß diese kameradschaftliche Einführung besonders nach meinem Geschmack gewesen wäre. Aber ich merkte kaum auf den Sinn der leichtfertigen Plauderei; ich lauschte nur dem musikalischen Klang, der biegsamen, impulsiven Melodie der Stimme, die gleich einem Zauber das Herz umspann.

Das Orchester hob während der letzten Worte die Weise eines Wiener Walzers an, und ich las in den neidischen Blicken meiner Mitschwestern, daß man den Prinzen für meinen Partner hielt. Der brave Vortänzer stürzte sich heldenmütig auf die beleidigte Frau Amtmännin, um sie für diese neue Bevorzugung seiner Familie nach Leibeskräften zu entschädigen. Auch ich erwartete, daß mich der Prinz in die Reihe führen werde, und ich erwartete es mit zitternder Lust. Da er aber keine Miene machte, sich vom Platze zu rühren, ließ ich mich ruhig in einer Sofaecke nieder.

»Sie tanzen nicht?« sagte der Prinz, indem er sich an meine Seite setzte. »Desto besser. So plaudern wir und machen unsere Glossen.«

Die Paare drehten und wiegten sich an uns vorüber; keines entging dem prinzlichen Spott. »Nicht eine Physiognomie! nicht eine frische Natur!« rief er endlich verdrossen. »Und alles das rühmt sich, nach Gott-Vaters[168] Ebenbilde geschaffen zu sein. Wie haben Sie es fertiggebracht, Fräulein von Reckenburg, inmitten dieser Larven, unter diesen platten, toten Herkömmlichkeiten Sie selbst zu bleiben?«

»Ich bin zum erstenmal in Gesellschaft,« konnte ich zu antworten mich nicht enthalten. Aber ich tat es mit leidlichem Humor, denn ich saß einem Spiegel gegenüber und begriff, wie viele Sommer er der meergrünen Brokatträgerin zusprechen mochte.

»Oder wie werden Sie es fertigbringen?« verbesserte er sich.

»Nun, auch Durchlaucht werden es ja fertigbringen müssen,« sagte ich lächelnd.

»Ich? Nein, beim Zeus, ich wahrlich nicht!« rief er aus. »Man hat mich hier an die Kette gelegt. Aber wähnt mein würdiger Vormund von Sachsen, daß der erste Kanonenschuß am Rhein diese Kette nicht sprengen wird? Endlich, endlich ist es ja so weit! O der Schmach, daß Franz von Österreich nach väterlichem Exempel zögern konnte, bis sein unglücklicher Ohm unter der Tortur seiner jakobinischen Häscher ihm seine Horden entgegentreibt! Schmach, ewige Schmach, daß dieser, unser baldiger Kaiser, heute noch sich windet und krümmt wie ein Aal. Aber gottlob! König Friedrich Wilhelm ist Feuer und Flamme, jenen Häschern die Daumschrauben anzusetzen. Stelle er sich an die Spitze der Armee, rufe er sein Vorwärts, und wenigstens wir, das heißt die Legion deutscher Fürsten ohne Land, werden nicht säumen, um unter Friedrichs Banner dem Erben des heiligen Ludwig seine königliche Freiheit zurückzuerobern.«

Auf diese Weise zwischen Scherz und Pathos plauderte[169] mein junger Held unter dem Rauschen des Wiener Walzers harmlos seine Zukunftspläne aus. Ich wußte ja, wie kriegerisch sein Sinn gestellt sei. Nur daß er damit umgehe, in preußische Dienste zu desertieren, mußte mich wundernehmen. Und so entblödete ich mich denn auch nicht, ihn daran zu erinnern, daß eine Schwenkung just in dieses Lager wenig Anklang in sächsischen Herzen finden werde.

»Habe ich eine eigene Armee ins Feld zu führen?« versetzte er lachend. »Oder soll ich darauf warten, bis das heilige römische Reich deutscher Nation sich auf seine Pflicht – bah! nur auf seine Notwehr besonnen hat? Bis am Ende auch der obersächsische Kreis sein Fähnlein aufgeboten? O! nur die Subsidien Ihrer Reckenburg, Gnädigste,« setzte er mit einem schelmischen Augenblinzeln hinzu, »nur die Subsidien Ihrer Reckenburg, und ich lege den ersten Lorbeerkranz zu Ihren Füßen, den ich, wie mein braver Vetter von Weimar, als preußischer Soldat errungen haben werde.«

Der Tanz ging während dieser Tirade zu Ende, und ich erhob mich, um mich vor den ärgerlichen Blicken der Gesellschaft unter die Flügel meiner Mutter zurückzuziehen. Der Prinz folgte mir. Das erste Menuett wurde eben angestimmt.

»Sie scheinen eine Virtuosin in der Kunst, sich mit Anstand zu ennuyieren,« sagte er, »wollen Sie mir Stümper in derselben noch diesen Tanz hindurch als guter Kamerad zur Seite stehen?«

Freilich wäre ich lieber im Rundtanz als flotte Partnerin in seinen Armen durch den Saal gewirbelt; aber auch nur als guter Kamerad eine Viertelstunde länger ihm vis-a-vis dünkte mich eine Herzenslust. Als wir[170] nach vollbrachter Tour am Ende der Kolonne anlangten, seufzte mein Chapeau so herzbeweglich, daß ich die Ungalanterie mit einem Lächeln zu beantworten vermochte. Auch er lachte. »Diese feierliche Strapaze nennt der Deutsche Vergnügen,« rief er aus. »Beim Zeus! mit Wollust reichte ich meinen Herrn Jakobinern die Hand zu einer ehrlichen Carmagnole!«

Ich erlaubte mir zu bemerken, daß ein lustiger deutscher Ländler vielleicht dieselben Dienste leisten werde, und daß Durchlaucht ihn nur zu befehlen brauche, um sich für die Strapaze einer Anstandspflicht zu entschädigen.

»Zum Lustigsein gehören mindestens zwei,« erwiderte er, indem er die Blicke spöttisch über unsere stolze Gesellschaft schweifen ließ. Jählings aber stockte er. »Himmel, wer ist das?« rief er mit Entzücken; »wer ist das?«

Mir war, als ob ich den Blitz in einer Pulvermine zünden sähe, denn meine Augen waren den seinigen gefolgt. Wären sie aber auch plötzlich mit Blindheit geschlagen worden, wessen Anblick hätte denn eine so jähe Bezauberung wirken können als der meiner eigenen, einzigen Schönen, als – Dorothees?

Die Tanzmusik hatte sie aus ihrem Versteck hervorgelockt. Sie stand einen Schritt vor dem Büfett, mit leuchtenden Augen, verlangend wie ein Kind, das die ersehnte Frucht unerreichbar am Baume hängen sieht. Die leibhaftige Eva! Die Arme waren leise gehoben, der Körper vorgeneigt, in der Hand hielt sie ein Körbchen, mit Blumen umwunden und gefüllt mit dem Zuckerbrot, das sie so zierlich zu formen verstand. Der lichtblaue Saum des weißen Nesselrocks reichte knapp bis zum Knöchel; die Füßchen in den flitternden Kinderschuhen trippelten den[171] Takt der Musik; das goldene Gelock wogte unter dem blauen Bande, das es lose zusammenhielt, und der Rosenstrauß, den sie für mich gezogen hatte, bebte unter den raschen Schlägen des Herzens. So reizend wie in diesem Augenblick sah ich die reizende Dorl niemals vor und niemals nach der Zeit.

Als ihr Auge dem unseren begegnete, schlug sie es dunkel errötend zu Boden und entschlüpfte durch die Seitentür.

»Wer ist diese Hebe?« wiederholte der Prinz.

»Die Tochter des Schenkwirts,« antwortete ich, verbeugte mich und setzte mich neben meine Mutter.

Es folgten verschiedene Tänze, die ich in den Armen dieses und jenes jugendlichen Springinsfelds abhaspelte, so seufzend wie vorhin mein Prinz die Anstandsstrapaze des Menuetts. Er selber tanzte nicht wieder. Unbekümmert, wie im Wirtshaus, saß er neben dem Büfett in einem Kreise von Offizieren, mit denen er tapferlich zechte. Aber nicht etwa von Meister Müllers landwüchsigem Produkt, auch nicht von den edelsten Sorten, welche die festgebende Gesellschaft zu liefern vermocht hatte; nein, schäumenden Cliquot, den er, »als Scherflein zum Picknick«, aus seinem eigenen Keller holen ließ.

So häufte er Beleidigung auf Beleidigung. Mit jedem springenden Pfropfen aber suchten seine Augen flammender nach der lieblichen Schenkin, die, sooft eine neue Tanzweise anhob, wie von Hüons Horn gelockt, in der Tür erschien, bis unter den Vorhang schlüpfte und mit Sehnsucht die wirbelnden Paare verfolgte. Daß während dieser Wanderung ihre Blicke manches Mal den suchenden am Zechtische begegneten, daß sie dem zürnenden Mienenspiel Jungfer Ehrenhardines gar behende auszuweichen[172] verstanden, das erscheint Jungfer Ehrenhardine heute freilich verzeihlicher, als es ihr Anno 92 erschienen ist.

Endlich verkündete ein Trompetenstoß das Souper. Nun mußte das frevelhafte Intermezzo doch ein Ende nehmen! Die Gesellschaft verfügte sich in das zweite Kompartiment, allwo an kleinen Tischen rings um die Mitteltafel das schöne Geschlecht von den Kavalieren bedient werden sollte. Innerhalb jeder dieser Gruppen war mit List und Gewalt ein Platz offen gehalten worden, in der Hoffnung, daß der gefeierte Gast ihn zu dem seinigen erkiesen werde.

Aber die schon so vielfältig herausgeforderte Entrüstung schwoll zur Empörung, als der schnöde junge Herr keine der heimlich Erwartenden befriedigte und alle enttäuschte, indem er einfach inmitten seiner Zechgesellschaft sitzenblieb; als er von keinem der mit so viel Kunst und Aufwand hergestellten Leckerbissen auch nur kostete, sondern sich mit einem Kringelchen begnügte, welches Hebe Dorl, auf einen Wink Meister Müllers, ihm in ihrem Blumenkörbchen präsentierte.

Wie ich die Errötende mit einer unbeschreiblichen Neigung vor ihn treten sah, wie er aufsprang, sein Glas gegen sie hob und es in einem Zuge bis auf die Nagelprobe leerte – Freunde, der Bissen im Munde stockte mir, der Tropfen, mit dem ich ihn hinunterspülen wollte, brannte mich wie Gift; aber es war ein Bild, vor welchem selber das zornsprühende Naturkind die Lust eines Künstlerauges begreifen mußte.

Programmgemäß sollte das Fest mit dem Souper zu Ende gehen. Alles rüstete sich zum Aufbruch. Unser bisher so lässiger Held jedoch fuhr plötzlich in die Höhe und forderte mit lauter Stimme den Kehraus. So stark der[173] Unwille gewesen, die Großmut gegen einen Gast von Geblüt war stärker. Lag doch an sich auch für die Donnerstagsgesellschaft nichts Ungebührliches in der Aufführung eines gewohnten Schlußtanzes, dessen bäuerische Weise und buntscheckiger Wechsel nach dem Souper erst den rechten Humor zur Geltung brachten. Alt und jung reihte sich zu Paaren, nur der Festordner stand noch auf der Lauer, um, nach dem sein hoher Chef sich entschieden, aus der Überzahl der Schönen die Würdigste als Anführerin zu erküren.

Jetzt aber, da Prinz Sansfasson der verehelichten Gruppe gleichgültig den Rücken kehrt, schießt der Ordner auf die Frau Amtmännin zu, bietet ihr begütigend die Hand und ist im Begriffe, mit ihr an die Spitze der Kolonne zu treten, als – o wehe, dreimal wehe unserer adligen Reunion! – er den Prinzen an den Schenktisch stürzen und Kellermeisters kleine Dorl in die Reihe ziehen sieht.

Ein Donnerschlag hätte nicht vernichtender zünden können. Einen Augenblick stand alles starr und stumm, dann helle Revolution! Die Frau Amtmännin kehrte mit einem kopfnickenden »Bedanke mich« wiederum; sämtliche Frauen und Fräulein von Adel traten aus der Reihe und eilten nach der Tür, hinter deren Säulen verborgen sie den unberechenbaren Ausgang erwarteten.

»Glauben Seine Durchlaucht zu einer Kirmeß geladen zu sein?« hörte ich hinter mir die von dannen rauschende verwitwete Exzellenz vom Hofmarschallamte höhnen.

Ich mit einem blutjungen Junkerchen, das ich auf dem Präsentierteller hätte schwenken können, hatte von der flüchtigen adligen Spitze den Übergang zu dem bis jetzt standfesten bürgerlichen Gefolge gebildet. Dachte ich daran, dem von oben herab gegebenen Signale der Desertion[174] zu folgen? Doch wohl nicht. Denn warum sonst vermied ich den ratgebenden mütterlichen Blick? Meine Augen hingen an dem anstößigen Paare, das jetzt in der entstandenen Leere an meine Seite trat. Ich sah Dorothees flehende Angst und Lust, sah des Prinzen vertraulichen Wink, der zu sagen schien: »Du bist keine Närrin, du bleibst!« Kurzum ich blieb. Die Bourgeoisie folgte meinem Exempel und der Tanz hob an.

Das war freilich ein anderes Treiben als die Strapaze, welche der Deutsche sonsthin Vergnügen nennt! Wie rasch und lustig die Gefüge wechselten, die Paare sich verschlangen und ineinanderschoben! Wie die rosige Hebe im Arme des Götterjünglings den Saal durchkreiselte, wenn jede Tour beim Schlusse in eine Galoppade überging! Wie nun in den Wirbel der Glieder auch der der Kehlen sich mischte, der prinzliche Vortänzer unter Händeklatschen und jauchzendem Chorus die alte Sangesmär von »dem Großvater, der die Großmutter nahm«, intonierte, und endlich nichts Altes und Neues mehr übrigblieb als – der Kuß!

Zeitlich, sittlich, meine Freunde! Wir schrieben zweiundneunzig, und ein Küßchen im Tanze dünkte uns dazumal beileibe nicht ein Raub. Manchmal wurde gleich die Polonäse mit ihm eingeleitet, oder man verlegte es in eine Tour des Englischen; keinesfalls fehlte es im biederen vaterländischen Großvater, und nicht etwa bloß beim Mannschießen oder auf der Kirmeß. Meine Mitschwestern von der Montagsgesellschaft waren es gewohnt, die Bäckchen ihrem Partner darzureichen und nach dem Partner jedem anderen, mit dem die Verschiebung sie zusammenführte. So ein halbes Hundert Mäulchen in einer Tour – es war kein berauschendes Gewürz, aber es würzte doch.[175]

Unsere vornehme Reunion, mit den Reminiszenzen des weiland Herzogshofs, war allerdings zu nobel konstituiert, um derlei naturalistische Ausschweifungen zu vertragen. Nun aber an ihrem stolzesten Tage einen Prinzen von Geblüt die Lippen auf einer Schenkdirne Lippen drücken zu sehen, und wie drücken – so sonder Kunst und Methode! –, sie hat sich von diesem schauderhaften Anblick niemals erholt; es war der Todesstreich, der sie getroffen.

Er küßt ihren Mund, umschlingt sie, preßt sie an seine Brust und jagt mit ihr durch den Saal. Im rasenden Tempo löst sich die blaue Schleife aus ihrem Haar; er reißt sie an sich und birgt sie an seinem Herzen. Das goldene Gelock wallt und weht im Wirbel bis zu den Knien hinab. Die Ordnung ist zerstört. Singend, jauchzend, atemlos stürmen die Paare wirr durcheinander hinter dem ersten drein. Ganz zuletzt auch Jungfer Ehrenhardine nach einem züchtigen Handkuß ihres Junkerchens.

Da jählings – halt! Der Festordner hat Trompeten und Pauken das Schweigesignal zugewinkt. Noch sehe ich, wie Dorothee, gleich einem gescheuchten Reh, durch die Seitentür verschwindet, wie der Prinz ein schäumendes Glas hinunterstürzt. Dann wirft mir die Mutter die eigene Saloppe über den Kopf. Wirr und jäh drängt alles nach dem Ausgang.

Und so in einem bacchantischen Taumel, mit einem haarsträubenden Ärgernis endete das Prinzenfest der adeligen Donnerstagsgesellschaft Anno 92, dem großen Jahre der Revolution. Ich habe ihm ein langes Kapitel in meiner Lebensgeschichte gewidmet: es war ja das einzige Mal, daß ich beinahe Rosen getragen hätte.[176]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 1, Leipzig 1918, S. 148-177.
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