Vierzehntes Kapitel

[141] Es war betrüblich, wie die Leute von Barnow den gebrochenen Mann empfingen und behandelten. Schlimmes hatte er befürchtet, noch Schlimmeres sollte ihm werden.[141]

Am besten hatten ihn eigentlich noch die Toten aufgenommen. Die stillen Leute draußen auf dem »guten Orte«, wie der Jude des Ostens so überaus bezeichnend den Friedhof nennt, duldeten mindestens seinen Besuch und wiesen ihn nicht fort, obwohl er oft zu ihnen kam. Gerne saß er auf den Grabhügeln seiner Eltern, noch lieber im Schatten eines stattlichen Denksteins, welchen die Gemeinde auf ihre Kosten einem Manne gesetzt, der arm an Gütern, aber reich an Liebe gewesen und erst vor wenigen Jahren die klugen, fröhlichen Augen für immer geschlossen, dem Isaak Türkischgelb. Der Marschallik war trotz seiner Feindschaft gegen geistige Getränke sehr alt geworden; er hatte den Moldauerwein noch unzählige Male besiegt und ebensooft die Traurigkeit und Unvernunft seiner Mitbürger, bis endlich auch seine Stunde schlug. Da war er einst bei einer Hochzeit, die er gestiftet, besonders fröhlich und witzig gewesen und hatte alle Gäste so entzückt, daß sie ihm mit Musikklang und Fackelglanz das Geleite bis zu seinem Hause gaben. Selig legte er sich zu Bette, und am nächsten Morgen war er kalt und starr. Aber er lächelte noch immer so freundlich, wie er es im Leben getan, und man darf wohl sagen, daß seine Miene an jenem Morgen die einzige heitere im Städtchen war; selten erwies sich die Trauer an einer Bahre so tief und aufrichtig. Der Steinmetz, der ihm den Grabstein verfertigt, mochte wohl sein guter Freund gewesen sein; er hatte ihm eine Weinrebe auf den Stein gemeißelt ...

Auch viele andere gute Bekannte fand Moschko auf dem »guten Orte« zu Barnow versammelt. Da schlummerte Nachum Hellstein und seine Gattin Golde, und diese reichen Leute waren nun auch so arm wie die Wasserträger und Schulklopfer, da ruhte Froim Luttinger, der Inhaber des unhöflichen Prädikats, und war nun auch so weise wie der weiseste Rabbi. Auch Beer Blitzer und Luiser Wonnenblum waren bereits tot, aber anderwärts schliefen sie den letzten Schlaf, auf dem Friedhofe zu Tarnopol. In dieser Stadt waren sie gestorben, und zwar in einem der stattlichsten Häuser, über dessen Tore ein kaiserlicher Adler prangte. Die Staatsgewalt hatte ihre Verdienste entdeckt und durch eine Anweisung auf freie Kost und Wohnung gewürdigt.[142]

Seine fünf Geschwister fand Moschko noch am Leben, aber auch dies konnte ihm nur bescheidene Freude machen. Mendele hatte längst den letzten Rest seines goldenen Schimmers eingebüßt und betrieb nun das erste, zweite und dritte Gewerbe des Vaters: er war Schulklopfer, pflegte die Kranken und wachte bei den Toten. Manasse hatte das vierte Gewerbe Abrahams fortgesetzt, aber seine Geschicklichkeit im Zuschneiden nützte ihm wenig, weil er nie in die Lage kam, sie zu bewähren, er war und blieb ein dürftiges Flickschneiderlein. Ebenso schwer schlugen sich die Schwestern durch das Leben, und so widmeten sich die Kinder Abrahams, welche in Barnow geblieben, leider insgesamt gelegentlich auch dem fünften Gewerbe ihres Vaters. Es war ihnen, die stumpf und hart geworden im täglichen Kampfe ums Dasein, nicht zu verargen, wenn sie über die Rückkehr des hilflosen Invaliden nur geringe Freude empfanden und sofort in einen edlen Wettstreit gerieten, wer ihn bei sich beherbergen sollte; jedes wollte dieses Verdienst vor Gott den anderen gönnen. Endlich mußte sich Manasse dazu herbeilassen. »Du hast ja einen Stall mit zwei Kühen!« riefen sie ihm im Familienrate zu, und da er die Tatsache nicht leugnen konnte, so willigte er großmütig ein, dem Bruder in einer Ecke des Viehstalls eine Schlafstelle zu gönnen. »Aber füttern kann ich ihn nicht!« rief er, »er soll auch nicht ein Stück Brot ...«

Soweit hatte der alte Soldat den liebevollen Beratungen über seine Versorgung schweigend gelauscht und nur zuweilen seinen Leibfluch gemurmelt: »Korpak-Bassma!« Dieses rätselhafte Wort hatte er sich während seiner Soldatenjahre selber gebildet; in Italien hatte er den Fluch »Corpo di Bacco!« aufgelesen und in Ungarn das Kraftwort »Bassama!«. Und weil ihm jedes dieser beiden Wörter für sich noch nicht grimmig und imponierend genug klang, so pflegte er sie eben in eins zu verschmelzen. Wenn diese Komposition auch sonst häufig genug die gewünschte Wirkung nach außen verfehlte, so doch niemals jene nach innen: sie erleichterte ihm das Herz. Aber auch diesen Zweck erfüllte sie nur, wenn sie dem Menschen, der ihn ärgerte, laut und schnarrend an den Kopf flog. Moschko hatte bisher an sich gehalten, nun jedoch brach er los.

»Korpak-Bassma!« rief er, daß die Fenster zitterten. »Benimmt[143] man sich so gegen einen Bruder, der eben heimgekommen? Glaubt ihr, daß ich bei euch betteln will? Wenn ich es tun wollte, so würde ich zu den reichen Leuten gehen, bei denen ihr bettelt, und nicht zu euch!« Sprach's, schritt zur Tür hinaus und schlug sie hinter sich zu.

Es war zweifellos ein imponierender Abgang, aber der arme Invalide hätte klüger getan, wenn er denselben minder effektvoll inszeniert hätte. Denn der Familienrat blieb zwar einige Minuten verdutzt sitzen, willigte jedoch dann einstimmig in den Antrag des Ältesten, Manasse, sich um den »Unmenschen« nicht weiter zu kümmern. Und eine Stunde später wußte es die ganze Gemeinde, daß sich die eigenen Geschwister von dem alten Sellner losgesagt, weil er überaus sündhaft und hochfahrend sei.

Aber es hätte wahrlich nicht erst dieser Kunde bedurft, um dem armen Moschko alle Türen zu verschließen, an die er etwa pochen wollte. Und wenn er sanft wie ein Lamm gewesen wäre und fromm wie ein Büßer, die Leute von Barnow hätten ihn doch mit scheelen Augen angesehen. Die Heimkehr eines alten Soldaten wird von seinen Gemeindegenossen nirgendwo mit großer Freude aufgenommen; er ist und bleibt ein unnützer Mensch, der oft genug wüste Gewohnheiten aus der Fremde heimbringt und sich in das enge Leben, dem er entwachsen, nicht wieder einzufügen vermag. Nun wirken aber unter den Juden jener Landschaft auch noch die Vorurteile des Glaubens zum gleichen Endziele mit. Der Mann ist ein Sellner gewesen, er hat also Dinge getan, welche dem Strenggläubigen als Todsünde erscheinen: er hat die Speisegesetze übertreten und Menschenblut vergossen, hat selten oder nie gebetet und bei dem christlichen Gebete gleich seinen Kameraden die Knie gebeugt. Allerdings ist es seinen Glaubensbrüdern wohl bekannt, daß er all diese Sünden hat begehen müssen, sie bemitleiden ihn um des furchtbaren Loses willen, das ihm gefallen, aber ein Hauch des Unheimlichen umwittert ihn doch für seine ganze Lebenszeit: er ist eben kein »reiner Mensch« mehr. Das gilt von jedem Juden, der Kriegsdienste getan, auch heute noch, wenn auch nun etwas minder als zur Zeit, da Moschko nach Barnow heimkehrte. Denn die drei Jahrzehnte, welche seither verflossen, haben, wenn auch nicht das volle Licht, so doch einen Schimmer,[144] eine Ahnung des Fortschritts in das finstere Ghetto gebracht. Damals aber war ein alter Sellner schon durch seine Vergangenheit von den übrigen streng geschieden. Und wenn sich auch die schönsten Züge dieser Volksseele, der Familiensinn und die Barmherzigkeit, an ihm nicht minder bewährten wie an jedem Armen, wenn ihm auch die Gemeinde und seine Verwandten milde Spenden zukommen ließen: er war und blieb doch ihren Herzen ein Fremdling.

Bei Moschko lag der Fall schlimmer; er durfte nicht auf Hilfe hoffen. Wäre er nach vierzehn Jahren heimgekehrt, die Leute von Barnow hätten ihm keine Herzlichkeit erwiesen, aber bereitwillig Almosen gewährt oder ein Darlehen, um sich irgendeinen Erwerb zu schaffen. Das hatte er verwirkt, indem er die zweite Kapitulation angetreten und länger Soldat geblieben, als er mußte. Er hatte nicht bloß gezwungen gesündigt, sondern freiwillig. Für dieses Verbrechen gab es in den Augen jener Menschen keine Entschuldigung.

Das hatte sich Moschko selbst gesagt, während er den siechen Leib mühsam durch alle Lande schleppte, der Heimat zu. Und an mancher Brücke auf seinem Wege hatte er innegehalten und traurig in die Wogen gestarrt. Aber immer wieder war er weitergeschlichen; nicht die Furcht vor dem Tode hielt ihn zurück, sondern ein übermächtiges Sehnen nach den Stätten, wo er einst jung und glücklich gewesen, und – nach seinem Sohne! Daß die Kasia »in Schande einen Knaben geboren und das kleine Ding deshalb doch liebhabe und aufputze wie ein Äfflein«, das war die letzte Nachricht gewesen, welche ihm einst nachrückende Rekruten aus der Heimat gebracht. Dann war er zu einem, andern Bataillon des Regiments versetzt worden, nur selten noch war ihm ein Barnower zu Gesichte gekommen, und er hatte der Versuchung widerstanden, sich nach der Geliebten zu erkundigen, weil er dadurch ihr Geheimnis preiszugeben fürchtete. Ich will meinen Sohn sehen, hatte er sich auf dem langen Wege immer wieder gesagt. Das war das einzige Band, durch welches er sich noch mit den Menschen verknüpft fühlte. Weit geringer war sein Drang, die Geliebte noch einmal zu sehen. »Ach!« seufzte er, »welches Recht habe ich auf sie? Und daß sie ein Recht auf mich hat, was kann es ihr nützen?«[145]

Ein günstiger Zufall hatte es gefügt, daß sich sein Sehnen erfüllte, noch ehe er das Städtchen betreten. Taumelnd vor Glück und Leid hatte er die Schmiede verlassen. Sein Sohn lebte und war ein tüchtiger Bursche, und auch der Kasia ging es gut – nun konnte über ihn selbst kommen, was da wollte! Aber in dieses Glücksgefühl mischte sich der brennende Schmerz, für seinen Sohn nichts weiter zu sein als ein alter Vagabund, den dieser nur um seiner ergötzlichen Lügen willen gerne um sich dulden wollte.

Das war das Schwerste, was er zu tragen hatte, alles übrige schien ihm leicht. »Korpak-Bassma«, murmelte er vor sich hin, als er das Städtchen betrat, »der Herr Hauptmann kennt ja die Gesetze und hat mir ausdrücklich gesagt, daß meine Gemeinde etwas für mich tun muß! Auch kann ich ja noch irgendein leichteres Amt verrichten, als Bote oder Aufwärter. Und dann – der da droben muß sich ja auch in die Sache mischen. Denn ich weiß ja, wie unsere Rechnung steht, und noch besser weiß er's

Stolz, trotzig erhobenen Hauptes zog der arme Mann in das Städtchen ein. Es focht ihn wenig an, daß er, nachdem das erste Staunen vorüber, überall finsteren Gesichtern und höhnenden Worten begegnete. Nur der erste Eindruck war ein schmerzlicher gewesen, es hatte seinem Herzen wehe getan, daß er seine Geschwister in Not und Elend traf. Aber ihre Härte beugte ihn nicht, sein Groll war mit jener imponierenden Rede abgetan. »Korpak-Bassma!« murmelte er, nachdem die Tür von Mendeles Wohnstube, wo sich der Familienrat versammelt, hinter ihm ins Schloß gefallen. »Wir wollen uns um die Juden so wenig als möglich kümmern! Zunächst muß ich einfordern, was mir die Gemeinde schuldet!«

Er begab sich zum Bürgermeister von Barnow, dem Apotheker Ludwig Zuranski, einem sehr kleinen und sehr dicken Manne, der im Jahre 1848 Hauptmann der Nationalgarde des Städtchens gewesen und bei dieser Gelegenheit leider seine Rednergabe entdeckt hatte. Die gute kleine Tonne konnte seither kein schlichtes Wort mehr sprechen und benützte jede erdenkliche Gelegenheit, um ihre rhetorischen Künste zu offenbaren. So hatte sich denn auch Moschko in seiner Eigenschaft[146] als »um Kaiser, Staat und Gemeinde wohlverdienter Mitbürger« einer wohlgesetzten Anrede zu erfreuen und wurde sogar zum Sitzen eingeladen. Dann aber kraute sich der Bürgermeister verlegen hinter dem Ohre und fuhr fort: »Hochverehrter Herr Veilchenduft! Tapferer Mann! Wie ich aus Ihren Papieren sowie auch aus anderen Tatsachen und endlich aus Ihren eigenen geschätzten Mitteilungen ersehe, haben Sie die Ehre, israelitischer Konfession zu sein, und da unsere werten israelitischen Mitbürger einen eigenen Verband innerhalb der Gemeinde darstellen, so wäre es wohl zunächst dienlich und zweckentsprechend, wenn Sie die Güte haben wollten, sich zu meinem verehrten Freunde, Herrn Nathan Grün, zu begeben, um ihm nahezulegen ...«

»Die Juden werden nichts für mich tun«, unterbrach ihn Moschko kurz.

»... nahezulegen«, fuhr der Bürgermeister gleichwohl mit demselben Pathos fort, »daß ein von Österreichs siegreichen Fahnen so oft umrauschter Kämpfer doch wohl zunächst die Sympathien seiner eigenen ...«

»Korpak-Bassma!« rief Moschko ungeduldig dazwischen, daß sich der kleine Mann erschreckt hinter den Ladentisch schob. Aber eher hätte er sein Leben geopfert, als eine Periode unvollendet gelassen.

»... eigenen Glaubensgenossen verdient«, fuhr er von seinem sichern Platze fort, »und gewiß nicht vergeblich an den wohlbewährten Patriotismus, an die leuchtende Humanität eines hoch-verehrlichen Vorstandes ...«

»Es ist Ihre Sache!« rief Moschko und trat auf ihn zu. Der Bürgermeister retirierte erbleichend nach der Türe des Nebenzimmers.

»... appellieren wird«, stammelte er und zog die Türe hinter sich zu.

»Ich komme wieder!« rief ihm Moschko grimmig nach. Ratlos ging er eine Stunde in den Gassen des Städtchens auf und ab, von zahlreichen Straßenjungen umgeben und ausgiebige Höflichkeiten mit ihnen tauschend. Dann aber beschloß er, denn doch dem Rate des Bürgermeisters zu folgen, und begab sich zum Vorsteher der Judengemeinde. Der alte fromme Nathan Grün war im Jahre 1848 gleichfalls Offizier der Nationalgarde[147] gewesen, und zwar Unterleutnant, aber die Rhetorik hatte er während dieser Zeit nicht erlernt und sich überhaupt still zufrieden mit seiner Charge begnügt, die ihm das Privileg gab, kein Gewehr tragen zu müssen, sondern den viel ungefährlicheren Säbel, der ja nicht leicht von selbst losgehen konnte. »Trolle dich!« befahl er kurz. »Wir haben die Pflicht übernommen, für unsere Armen zu sorgen, aber du gehörst nicht dazu.«

Moschko stand eine Weile stumm da. Er wußte, daß es sich um sein Schicksal handle, und bezwang darum den Zorn, der ihm im Herzen gärte. »Warum bin ich kein Jude mehr?« fragte er. »Ich bin's und habe genug um meines Glaubens willen gelitten. Und steht es nicht bei uns geschrieben: ›Seid barmherzig gegen die Hilflosen‹?«

Nathan blickte ihn befremdet an; er hatte diesen Ton nicht erwartet. Auch war er ein guter, wohltätiger Mensch, der jährlich viele Werke der Liebe tat. Wäre der Mann, der vor ihm stand, ein Christ gewesen, ein Türke oder Heide, er hätte ihn nicht vergeblich jenes Wort des Rabbi Hillel anrufen lassen. Aber es war ein Jude, der »Gott aus Mutwillen gekränkt«, und darüber konnte er nicht hinweg. »Geh!« wiederholte er hart und heftig. Worauf Moschko gleichfalls mit einer einzigen Silbe erwiderte, einer Titulatur, wie sie dem alten Nathan bisher nie zuteil geworden. Und dann schritt er wieder trotzigen Hauptes auf die Gasse hinaus. Aber sein Mut war gebrochen. Er wußte nun, daß er sich jeden weiteren Gang zu einem Glaubensgenossen sparen könne, und auch nach einer neuen Rede des Herrn Bürgermeisters war er nicht mehr begierig. »Mir kann es recht sein!« murmelte er in tiefstem Ingrimm. »Wenn er es noch auf seine Rechnung nehmen will, daß sich ein alter Soldat ertränken muß wie ein Hund – mir kann es recht sein!«

Aber auch diese verzweifelte Stimmung hielt nicht lange vor. Wieder begann er sein Hirn abzuquälen nach einem rettenden Ausweg. Sollte er sich an Hawrilo wenden? Er wußte, daß der Wackere trotz des Täubchens tun werde, was ihm möglich, aber sein Stolz ließ es nicht zu, nun doch ein Bettler zu werden. Und vollends bäumte sich sein Gefühl dagegen auf, im Beisein des Fedko eine milde Gabe zu erflehen, dasselbe Gefühl, welches jeden Gedanken an die Kasia bei ihm niederzwang. »Lieber[148] sterben als so vor sie treten«, murmelte er vor sich hin, während er, so recht zu Tode betrübt, über den Ringplatz schlich und nur dann das Haupt aufrichtete, wenn ihm jemand begegnete.

Da hörte er sich plötzlich angerufen. »Moschko«, klang es aus heiserer Kehle, »alter Kerl, wie geht's?!«

Der Invalide blickte um sich, aber weit und breit war niemand zu sehen als ein kleiner Straßenjunge, der ihm aus sicherer Ferne die Zunge entgegenstreckte.

»Moschko!« rief die rauhe Stimme noch einmal, und nun wurde er inne, daß sie aus nächster Nähe kam. Er stand vor dem städtischen Spritzenhause, dessen Türe geöffnet war. »Komm herein, Alter!« klang es aus der Tiefe des dunklen Raumes.

»Walerian!« rief der Invalide und trat, zitternd vor Freude, auf die Schwelle, »bist du's wirklich, mein alter Schloff?«

»Na – wer sonst?« rief es zurück; vom Lager im Hintergrunde erhob sich eine lange Gestalt und trat auf Moschko zu. Es war Walerian Strymko, ein Bauernsohn aus Alt-Barnow, der beim Regimente zehn Jahre lang der Schlafkamerad (im slawischen Soldatenjargon der Schloff) des Moschko gewesen, auch während des Feldzuges unter Radetzky, bis ihm bei Novara eine feindliche Kugel das rechte Bein zerrissen. Auf seinen Schultern hatte ihn Moschko aus dem Gewühle getragen und nicht gehofft, ihn wiederzusehen. Nun sah der Mann wieder kräftig und wohlgenährt aus, die Knollennase leuchtete in fröhlichem Glanze aus dem runden Antlitz; nur die graue, städtische Uniform, die er trug, ließ leider an Glanz viel zu wünschen übrig. Es war eigentlich ein Wunder, wie diese zerfetzten Kleider überhaupt noch zusammenhielten. Aber das war wohl nicht seine Schuld, sondern jene der Stadtväter von Barnow mit ihrem Demosthenes an der Spitze.

Die beiden Kameraden sanken einander in die Arme und waren tief gerührt. »Alter Kerl!« grollte Walerian und wischte sich die Augen, »ist drei Tage im Städtchen und sucht mich nicht auf! Und doch hat sich keiner über deine Heimkunft so gefreut wie ich!«

»Das glaube ich gern!« erwiderte Moschko mit traurigem Lächeln und erzählte, wie sie ihn empfangen. Der ehrliche[149] Walerian geriet in großen Zorn und schwor, daß er mit dem Bürgermeister und dem Nathan ein ernstes Wort reden werde, »nur ein Wort, Moschko, aber das werden sie sich merken! Denn«, fügte er stolz hinzu, »auf mich müssen sie hören, ich bin städtischer Spritzenmeister, Bassama lenka!« Aber Moschko schien kein rechtes Vertrauen in diese Vermittlung zu setzen, er fuhr fort zu klagen, und auch Walerian mußte zugeben, daß der Fall ernst liege. »Es sind eben verfluchte Zivilisten!« erklärte er. »Mir haben sie die Stelle bei den Spritzen gegeben, weil sie gerade frei war und ich es ihnen noch billiger ließ als mein Vorgänger. Ich bekomme zwei Gulden monatlich, macht mit dem Gnadengehalt zusammen vier Kreuzer täglich. Das reicht nur eben auf Brot, und ich könnte verschmachten, wenn ich nicht abends in der Schenke gute Freunde fände oder so junge Grasaffen, die sich gerne Kriegsgeschichten erzählen lassen und dafür Schnaps zahlen! Im letzten Winter, wo die große Kälte war, bin ich in so schlimmer Lage gewesen, daß ich in meiner Verzweiflung eine Liebschaft mit einer alten Köchin begonnen habe. Wie bitter das war, mein lieber Moschko, kannst du dir nicht vorstellen; ich habe es auch sogleich aufgegeben, als die warme Zeit gekommen ist, aber jetzt geht es wieder dem Winter zu, und ich fürchte – ich fürchte, ich werde wieder mit der Magdusia anbinden müssen!«

Er seufzte tief auf und ließ den Kopf hängen. So saßen die beiden Invaliden lange betrübt beisammen.

Endlich richtete sich Walerian wieder auf. »Es ist hart, Moschko«, sagte er, »aber wir wollen es brüderlich tragen. Du wohnst natürlich bei mir, es ist so viel Platz in der Scheune, daß ich eine Kompanie aufnehmen könnte. Und was die Menage betrifft, so legen wir eben unsere sechs Kreuzer zusammen und essen gemeinsam ...«

»Oder hungern gemeinsam«, unterbrach ihn Moschko, »das Opfer kann ich nicht annehmen ...«

»Bassama lenka«, fluchte Walerian, »wirst du gleich schweigen? Wie oft hast du dein Brot mit mir geteilt? ... Und des Abends gehen wir eben zusammen zur Schenke und erzählen dort jeder unsere Geschichten. Aber unter einer Bedingung, Moschko, du darfst mir nie widersprechen! Denn du hast gar[150] keine Ahnung, wie blutgierig diese Grasaffen sind! Wer auch nur das Kind im Mutterleibe verschont, bekommt keinen Tropfen Schnaps gezahlt!«

»Also bist du deshalb hinter meiner Leiche in Verona hergegangen?« fragte Moschko und erzählte, was ihm der Schmied berichtet.

»Ja, deshalb«, versicherte Walerian eifrig und ernst. »Ich habe an jenem Abend einen Helden gebraucht, der zuerst drei Dutzend Italiener tötet und dann von einer ganzen Kompanie überwältigt wird. Und da habe ich dich genommen, weil du auch ein Stadtkind bist und mein bester Freund. Alle waren gerührt, als ich von deinem Tode und dem schönen Leichenzuge erzählt habe, und Hritzko Stefiuk hat die ganze Zeche für mich bezahlt. ›Der Jude war ein braver Kerl‹, hat er gesagt, ›ich habe ihn recht gut gekannt!‹ Nun, und weil diese Geschichte so gut gefallen hat, habe ich sie noch oft wiedererzählt. Sehr oft, Moschko, aus Freundschaft für dich. Ich sollte eigentlich böse sein, daß du mir nun plötzlich den Streich spielst und zurückkommst. Aber ich verzeihe es dir, auf Ehre, und will mit dir leben wie ein Bruder. Sei nur getrost, wir werden uns schon durchschlagen. Und wenn der Winter gar zu schlimm wird, so könntest ja auch du ...« Er unterbrach sich, musterte den Gefährten und schüttelte den Kopf. »Ach nein!« lachte er gutmütig, »daraus kann nichts werden! Dich wird nicht einmal eine Achtzigjährige wollen! Und dann bist du ja auch ein Jude! Aber auch das braucht dich nicht zu grämen, dann muß eben die Magdusia täglich für uns beide die Suppe schicken. Also – abgemacht!«

Damit war der Pakt geschlossen; noch am selben Abend trug Moschko sein Bündelchen in das Spritzenhaus und richtete sich in einem Winkel der Scheune häuslich ein. Aber im übrigen kam das schöne Programm seines Kameraden nur teilweise zur Ausführung. Moschko brachte es selten über sich, die Hälfte der Menage zu nehmen; er begnügte sich mit den Brocken, die ihm zukamen, und die genügten nicht, ihn vor dem Hunger zu schützen. Noch seltener konnte ihn Walerian bewegen, den Bauern in der Schenke die jüngste Epoche der österreichischen Geschichte in populärer Form beizubringen und sich zum Entgelt[151] auf Kosten der andächtigen Zuhörer zu betrinken. Moschko war durchaus nicht abgeneigt, teilnehmenden Gemütern seine Heldentaten zu erzählen, aber er war trotz des wüsten Soldatenlebens, trotz aller Not feinfühlig genug geblieben, um das Lügen nicht gewerbsmäßig zu betreiben. »Ich will nicht als alter Lump gelten, der sich einige Gläschen erlistet«, erwiderte er seinem erstaunten Kameraden. Trieb ihn aber die Kälte und das Bedürfnis nach einer Stärkung zuweilen doch in die Schenke, dann jubelten die Bauern auf, und der Wirt zog eine freundliche Miene: wenn Moschko überhaupt zu lügen anfing, dann log er auch ganz fürchterlich, und der Grimm, die innere Scham, die er dabei empfand, peitschten seine Phantasie zu den tollsten Sprüngen. Eine dieser Geschichten, wie er, der Gefreite Moschko von Parma, an der Spitze von drei Mann den König Carlo Alberto gefangengenommen, auf ein Schwein gesetzt und dem Kaiser nach Wien überliefert, brachte selbst den guten Walerian in solchen Enthusiasmus, daß er rief: »Manches weiß ich selbst zu erzählen, und vieles habe ich erzählen hören, aber so wie unser Moschko kann es keiner. Von heute ab halte ich den Mund und lasse ihn reden, selbst wenn ich verdursten müßte!« Aber er kam nicht in diese traurige Lage; nach wie vor machte ihm Moschko selten Konkurrenz und verbrachte die langen, kalten Abende in der dunklen Scheune einsam und allein, in düsteres Grübeln versunken.

Es ging ihm sehr schlimm, dem armen Invaliden, denn wie trotzig er sich auch darüber hinwegzusetzen schien, daß ihn die Leute des Städtchens mieden und verabscheuten, es tat ihm doch bitter weh und noch bitterer der Hunger und die Kälte. Ein einziger tröstender Lichtschein fiel in dieses traurige Dunkel, die Freude an seinem Sohne und daß sich sein Verhältnis zu demselben freundlich gestaltete. Wohl vermied es Moschko ängstlich, dem Burschen all die Liebe zu zeigen, die er für ihn empfand, aber Fedko fühlte sie doch heraus, oder vielleicht sprach geheimnisvoll das Blut in seinem Herzen: er mochte den seltsamen Alten gut leiden und lud ihn jedesmal ein wiederzukommen. Kasia bestärkte den Sohn in diesen Empfindungen, soweit sie dies tun konnte, ohne ihr Geheimnis preiszugeben; das brave Weib empfand tiefes Mitleid mit dem Geliebten ihrer[152] Jugend, ließ ihm durch Hawrilo wiederholt ihre Hilfe anbieten oder ihn durch Fedko einladen, sie zu besuchen. Aber die Hilfe lehnte er ab und unterließ auch den Besuch, obwohl er ihn immer wieder versprach. Ja, noch mehr, er vermied es, der Kasia zu begegnen, und als er sie einmal von ferne gewahrte, da lief er davon. Wer weiß, was den Ärmsten dazu bewog?! Vielleicht – denn wer ergründet des Menschen Herz?! –, vielleicht war's nur Eitelkeit! Er mochte dem Weibe, das ihn einst geliebt, nicht als Jammergestalt in den Weg treten.

Zur Schmiede ging er oft, wenn auch nicht so oft, als ihn das Herz dahin zog. Denn wenn ihn das Täubchen entdeckte, dann wetterte es so lange, bis er abziehen mußte, und diesen Schimpf vermochte er kaum zu verwinden: er mußte ihn ja im Beisein des Fedko erdulden! Auch sonst blieb nicht einmal diese einzige Freude seines armseligen Lebens eine ungetrübte. Fedko hörte gern Abenteuer, und obwohl dem Invaliden hier das Lügen fast noch schwerer fiel als in der Schenke, so willfahrte er doch bereitwillig seinem Wunsche. Daß Gott erbarm! dachte er, es ist ja das einzige, womit ich mein Kind erfreuen kann! Und so erzählte er dem Burschen jedesmal soviel Wahrheit und Dichtung aus seinem Leben, als dieser nur immer anhören mochte. Aber tödlicher Schreck faßte ihn, als ihn Hawrilo eines Tages beiseite zog und ihm zuflüsterte: »Höre, du undankbarer Jude, ich will dir keine Vorwürfe machen, aber du hast wider deinen Willen schweres Unheil angestiftet! Denn siehst du, du warst zwar niemals so gescheit wie ich, und jetzt hat dir auch jener Säbelhieb den Kopf getroffen, aber das hättest du doch erkennen sollen, wie es um den Burschen steht. Nämlich so: er brennt nach dem Soldatenrock! Bei der ersten Assentierung habe ich ihn mit Mühe und Not losgebracht, und hoffentlich gelingt mir dies auch im nächsten Frühling, aber wenn sich der Gedanke in seinem Hirn festsetzt, so tut er uns wohl gar den Schmerz an und geht freiwillig dazu! Früher hat er auf meine und seiner Mutter Abmahnung gehorcht, aber seit du ihm deine Lügen erzählst, Alter, ist er wieder Feuer und Flamme. Ich habe neulich mit meiner Schwester darüber gesprochen und ihr gesagt: ›Kasia‹, habe ich ihr gesagt, ›wenn es vielleicht nötig ist, diesen verdammten Juden hinauszuwerfen, so will ich es gerne tun, obwohl[153] er mein Freund ist!‹ – ›Nein‹, sagte die Gute, ›er ist ohnehin verlassen genug, sprich nur freundlich mit ihm, und er wird uns helfen, dem Burschen den Kopf zurechtzusetzen!‹ Nun denn, Moschko, das habe ich getan, und jetzt mach dein Unrecht wieder gut, oder es soll dich der Teufel holen!«

Kein Wort sagt, wie des Unglücklichen Herz erbebte, als er diese Rede anhörte. »Ich will alles tun!« stammelte er und wankte zur Türe hinaus. Auf dem Bänkchen vor der Schmiede sank er nieder und hob die Rechte zum Himmel empor. Von seinen Lippen klang kein Laut, sein Herz aber flehte: Du da droben! sei barmherzig, sei endlich einmal barmherzig und laß mich nicht erleben, daß mein Wort mein Kind in dasselbe Elend bringt, welches mich erdrückt! Sei barmherzig! Ich kann mich dir nicht zum Opfer darbieten, denn alles, was ich hatte, hast du mir genommen, und was du mir noch nehmen könntest: mein Leben – das wäre mir eine Gnade! Aber ich flehe, sei barmherzig!

Von da ab – es war einige Monate nach seiner Heimkehr, im Januar – besuchte er die Schmiede häufiger als vorher. Um der bösen Veronia zu entgehen und mit dem Burschen ungestört zu bleiben, kam er stets des Abends, wo dieser allein die Arbeit fertigte und dann die Schmiede in Ordnung brachte. Fedko litt es gerne, daß sich der Invalide zu ihm setzte, und traf auch allabendlich Vorsorge, seinen Gast zu bewirten. »Iß nur«, sprach er zu ihm, »ich bin dir gut, und du vergiltst es mir reichlich durch deine schönen Geschichten.«

Nach wie vor bezogen sich diese Geschichten auf den Soldatenstand, nur daß Moschko jetzt die dunklen Seiten hervorhob. Der Bursche hörte die Klagen geduldig an, seufzte wohl auch teilnehmend mit, aber dann wollte er auch dafür belohnt sein. »Und nun ein Abenteuer!« rief er. »Erzähle doch, wie du den italienischen Kaiser auf dem Schwein nach Wien geführt hast!«

Da aber faßte sich Moschko ein Herz. »Fedko!« sagte er demütig, »ich habe ja gelogen! Wenn ich den Carlo Alberto wirklich gefangengenommen und nach Wien gebracht hätte, ob nun auf einem Schwein oder auf einem Pferd – ich säße jetzt nicht hier, mein Kaiser hätte mich reichlich belohnt. Bedenke doch, wie sollte ein Gefreiter einen König gefangennehmen?«[154]

Der Bursche machte große Augen. »Also hast du gelogen?« fragte er.

»Ja«, erwiderte Moschko kleinlaut, dann aber faßte er abermals seinen Mut zusammen und fuhr fort: »Mein Trost ist nur, daß mir ohnehin kein vernünftiger Mensch geglaubt hat! Höchstens so ein junger Laffe, der selbst in dieses Elend hineinrennen möchte!«

»Hm!« räusperte sich Fedko verlegen und schwieg. Er blieb auch den Rest des Abends schweigsam und verdrossen, und als Moschko sich verabschiedete, forderte er ihn nicht mehr auf wiederzukommen. Trotzdem ging dieser stolz und freudig heim. Habe ich das Unglück angerichtet, dachte er, so werde ich es auch wieder gutmachen!

Aber das war ein Stück Arbeit, welches nicht im Handumdrehen vollbracht werden konnte. Wohl empfing Fedko den Invaliden die nächsten Male wieder sehr freundlich, aber wenn dieser abermals über sein Elend zu reden begann, so schnitt er ihm kurz das Wort ab. »Das ist nun einmal nicht zu ändern, lieber Alter. Erzähle doch lieber etwas Lustiges aus der Kriegszeit. Also die Geschichte vom italienischen Kaiser war eine Lüge! Aber den Radetzky hast du doch wenigstens wirklich im Hemde gesehen?«

»Auch das nicht!« beteuerte Moschko. »Und wenn ich ihn schon im Hemde gesehen hätte, wie hätte mir dies eine große Freude machen können?«

Das wußte auch Fedko nicht zu sagen, fuhr aber dringend fort: »Aber im Mantel hast du ihn doch gesehen, und er hat mit dir gesprochen?«

»Gesprochen? So bedenke doch nur: ein Marschall mit einem Gefreiten!«

»Also nicht einmal dies?« grollte Fedko. »Ich weiß nicht, was man dir noch glauben soll!«

»Alles, was ich jetzt sage«, beteuerte Moschko.

Ähnliche Gespräche wiederholten sich oft, ohne daß der Invalide den Mut gewann, einmal offen mit dem Jüngling zu sprechen. Der Termin der Rekrutierung rückte heran, und immer größer wuchs seine Herzensangst, daß der Bursche diese Gelegenheit benutzen werde, um sich freiwillig zu stellen. Abend[155] für Abend suchte er nun die Schmiede auf, trotz der großen Entfernung, trotz des greulichen Unwetters. Denn es war März geworden, und der Vorfrühling verkündete sich, wie immer in dieser Landschaft, durch endlose Stürme und Regengüsse. Vergeblich mahnte Walerian ab. »Bassama lenka«, fluchte der Treue, »diesen Spaziergang, Nacht für Nacht, halten keine morschen Knochen aus! Du siehst elend aus, Schloff, und ich fürchte, du bleibst einmal am Wege liegen!« Aber Moschko schüttelte den Kopf. »Ich muß ja«, seufzte er und setzte die mühevollen Besuche fort. Sein Eifer wuchs, als er gewahrte, daß ihm Fedko zu mißtrauen anfing und ihn immer unfreundlicher behandelte. »Du da droben«, stöhnte er immer wieder, »ich habe dir keinen Ersatz zu bieten, aber – sei barmherzig!«

Mit diesem Gebete auf den Lippen trat er eines Abends wieder seinen Marsch an, obwohl eiskalter Regen in Strömen niedergoß und die Nacht so tiefschwarz war, daß er den wohlbekannten Weg nur Schritt für Schritt, fast tastend, zurückzulegen vermochte. Seine Glieder zitterten im Fieberfrost, der Kopf glühte, die alte Wunde am Stirnbein schmerzte ihn höllisch. Von Schritt zu Schritt fürchtete er, die Besinnung zu verlieren, aber immer wieder raffte er seine Kraft zusammen und tastete vorwärts. Endlich schimmerte ihm das Feuer der Schmiede entgegen, aber es erlosch, ehe er sie erreicht. Fedko wollte eben die Türe schließen, als der morsche Mann auf ihn zuwankte. »Jesus Christ!« rief der Bursche erschreckt und bekreuzigte sich. »Bist du es, Alter? So spät – und in solcher Nacht!«

»Ich habe mich am Wege verspätet«, murmelte der Invalide. »Ich besuche dich ja jeden Abend!«

Fedko führte ihn zur Herdglut und drückte ihn auf einen Sitz nieder. Dann leuchtete er ihm mit der Lampe ins Antlitz. »Alter!« rief er und bekreuzte sich, »wie siehst du aus!«

»Es ist nichts«, wehrte Moschko ab. »Ich bin an allerlei Wetter gewohnt. Ich bin gekommen – weil ich ...«

»Weil du mit mir reden wolltest«, fiel Fedko ein, und seine Augen füllten sich mit Tränen, »weil du mich abhalten möchtest, Soldat zu werden! Tag für Tag bist du deshalb gekommen, du armer, kranker Mensch! Nur aus Liebe und Sorge für mich! Oh! da soll mir noch jemand sagen wollen, daß ein Jude kein Herz hat!«[156]

Erstaunt blickte ihn Moschko an. Wie war Fedko anders als gestern und ehegestern! Aber täuschte er sich nicht über die Herzlichkeit des Tons?! War es vielleicht nur bitterer Spott?! »Ich habe es gut gemeint«, begann er zögernd.

»Ich weiß!« fiel ihm Fedko ins Wort. »Seit heute weiß ich es! Verzeih mir, du guter Mensch, daß ich dir Unrecht getan habe! Weil du deine Reden so plötzlich ändertest und täglich kamst, mir versteckte Abmahnungen zu sagen, und weil ich mir dachte: was würde der Alte sich sonst viel um dich kümmern? – und dann, du bist so arm und ein Jude dazu – also, es will mir schwer über die Lippen, aber ich muß es zu meiner Schande bekennen: ich habe geglaubt, daß dich Hawrilo und meine Mutter um Geld gemietet haben, mir vom bunten Rock abzuraten. Darum habe ich dich in letzter Zeit so unwirsch behandelt! Aber heute haben mir beide, mein Onkel und meine Mutter, mit den heiligsten Eiden geschworen, daß du es freiwillig getan hast, und das hat mir das tiefste Herz aufgewühlt ...«

»Laß das!« bat der alte Soldat, zitternd vor Freude. »Sage mir lieber, wie du dich entschieden hast!«

»Wie sollte ich noch den Gedanken festhalten«, rief der Jüngling, »nachdem du meiner Mutter eine solche Nachricht von meinem sterbenden Vater gebracht hast?!«

»Von – deinem Vater –«, stammelte Moschko.

»Du hast ihn ja gekannt?«

»Ja! ich – war sein Freund!«

»Guter, alter Moschko!« rief der Jüngling und mußte unter Tränen lächeln, »fällst du wieder in deine frühere Gewohnheit zurück? Es war ja ein vornehmer Pole und später Offizier bei deinem Regimente, der meine Mutter betört hat – dein Freund wird er wohl nicht gewesen sein ...«

Dem fieberkranken Manne wirbelte das Hirn. Aber er nahm all seine Kraft zusammen, weil er fühlte, wie entscheidend sein Wort war. »Doch, sein Freund!« sagte er. »Trotz des Unterschiedes in Rang und Glauben! Hätte er sonst gerade mir als Sterbender auf dem Schlachtfelde sein Geheimnis und die Botschaft vertraut?«

»Herr Gott!« rief Fedko in höchster Erregung und hob die Hände zum Himmel, »ich danke dir, daß es die Wahrheit ist ...[157] Denn du mußt wissen, Moschko«, fuhr er fort, »ich habe mich noch einer anderen Versündigung anzuklagen: jedes Wort habe ich meiner Mutter geglaubt, von Kindesbeinen bis heute, und nie habe ich sie als Lügnerin erkannt, aber als sie mir heute, um meinen Trotz zu brechen, endlich die Nachricht gesagt hat, die du aus Italien mitgebracht, da war sie so verlegen und stotterte, daß ich bis zu diesem Augenblick zweifelte, ob sie es sich nicht in ihrer Herzensangst nur so erfunden. Gottlob, es ist wahr, denn du bestätigst es! Du hast dich nicht mit meiner Mutter verabredet?«

»Nein!«

»So wahr dir Gott gnädig sei?«

»So wahr mir Gott gnädig sei!«

»Nun, dann muß es ja so sein, wie sie mir erzählt! Und sieh, nun will ich dir auch sagen, warum mich immer der Drang gequält hat, Soldat zu werden. Es war um meines Vaters willen! Als ich noch ein unverständiger Knabe war, da habe ich meine Mutter einmal gefragt: ›Sage mir doch, wer mein Vater ist!‹ – ›Seinen Namen‹, hat sie mir unter heißen Tränen geantwortet, ›darf ich dir nicht sagen, aber er ist Soldat. Schon als Knabe hat er zu diesem Stande große Lust gehabt, dann wollte er freilich nicht, aber es nützte ihm nichts; sie haben ihn rekrutiert, und er muß dienen!‹ – ›Und wann kommt er heim?‹ – ›Das weiß Gott!‹ hat sie erwidert, ›er wird wohl bei den Soldaten bleiben!‹ Ich war damals ein Knabe, und als ich heranwuchs, da habe ich meine Mutter nie wieder gefragt, weil ich wußte, wie weh ihr dies tun mußte, aber die Worte habe ich nie vergessen können. Und darum, Moschko, darum wollte ich Soldat werden. Man gerät ja seinem Vater nach, ich bildete mir immer ein, daß ich Lust zu diesem Stande habe, und dann – du darfst mich aber nicht auslachen, Alter –, ich wollte Soldat werden, um so vielleicht meinem Vater begegnen zu können. Dies habe ich heute meiner Mutter gestanden und ihr gesagt: ›Ich habe keine Ruhe, bis ich ihn gefunden!‹ Du kannst dir denken, daß sie mir darauf alles gestehen mußte. Aber ich bitte dich, wiederhole mir noch einmal, mit welchen Worten mich mein Vater hat grüßen und ermahnen lassen. Wie hat der Sterbende gesprochen?«

Der gebrochene Mann hatte sich hoch aufgerichtet, seine[158] Glieder zuckten im Fieber, aber sein Antlitz leuchtete. »Sage meinem Sohne«, sagte er feierlich, »daß er bei seinem Handwerk bleibe und nicht sinnlos ins Verderben gehe. Sage meinem Sohne, daß er besser und glücklicher werden möge als sein Vater!«

»Ja! ja!« rief Fedko, »so hat es mir auch die Mutter erzählt, obwohl sie sich die Worte nicht genau gemerkt hat! Nun, dann habe auch ich nichts mehr unter den Weißröcken zu suchen. Friede mit dem Toten!«

»Friede mit ihm!« wiederholte Moschko feierlich, während ihm die Tränen über die Wangen niederrannen. Dann faßte er sich mühsam und fragte:

»Du bleibst hier und wirst, soweit es von deinem Willen abhängt, niemals Soldat werden?«

»Niemals!«

»So wahr dir Gott gnädig sei!«

»Ja!«

»So – nun kann ich gehen!«

»Gehen?« rief Fedko. »Du bleibst! Ich lasse dich schwachen, kranken Mann nicht allein durch Sturm und Nacht heimwanken! Du schläfst heute hier!«

»Nein!« erwiderte Moschko. »Deine Tante Veronia würde es dir übel vermerken! Ich will nicht, daß du meinetwegen Kränkung erfährst!«

Dagegen half keine Einrede. »So will ich dich wenigstens begleiten!« bat Fedko.

»Wozu?« lächelte der alte Mann und öffnete die Tür. »Ich kenne den Weg besser als du!«

Der Sturm schlug ihm die schweren Regentropfen entgegen, daß er einen Schritt zurückwich. Dann aber schlug er den zerlumpten Mantel fester um die Glieder. »Ich danke dir!« sagte er und verschwand in der Dunkelheit.

»Wofür?« rief ihm Fedko nach. »Ich habe dir zu danken! Du kommst doch morgen wieder?«

Aber ihm antwortete nur das Heulen des Sturmwinds. Moschko schien den Zuruf nicht mehr vernommen zu haben.[159]

Quelle:
Rütten & Loening, Berlin, 1984, S. 141-160.
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