|
[181] Es war mehrere Wochen nach dieser Unterredung, ein Junimorgen, aber schon um die zehnte Stunde brannte die Sonne versengend nieder. Die Gassen von Barnow lagen verödet; auch jene lieblichen Vierfüßler, die sie sonst mit fröhlichem Gegrunz erfüllten, die Schweine, deren Mästung der Haupterwerbszweig der wenigen christlichen Bürger war, hatten sich in die Höfe zurückgezogen, wo es noch Pfützen gab; die Schlammlachen auf den Straßen waren eingetrocknet. Vierzehn Tage hatte es kein Tröpfchen geregnet, jeder leichte Windhauch wirbelte Staubwolken auf. Aber er regte sich selten; dumpf und schwer lag die heiße Luft über den schmutzigen Gäßchen, den verwahrlosten Häusern, und Düfte erfüllten sie, Düfte – kein Mensch konnte sie auf die Dauer ertragen, wenn er nicht ein geborener Barnower war.
Das focht unseren Sender nicht an, er war's ja. Und erträglicher als in den meisten anderen Stuben von Barnow ließ sich noch in seinem »kaiserlich-königlichen Lacal« verweilen. Denn so lautete die Inschrift der Tafel über Dovidl Morgensterns neuem Gassenladen: »K.K. Lacal der Loto-Colectur für Barnow und der ganzen Umkegend!« Den größten Raum dieser Tafel aber nahm ein großer, wenn auch etwas seltsam gemalter Doppeladler ein, und so war es nicht ganz überflüssig gewesen, daß Dovidl darunter in hebräischen Lettern hatte setzen lassen: »Kaiserlicher Adler! Hier wird gewonnen! Ein Terno macht jeder!« Denn Adler hatte nun auch sein Konkurrent Luiser Wonnenblum an die Tür heften können, sogar deren drei, aber das waren nur die Wappen der Versicherungsgesellschaften, deren Vertretung ihm nach dem Hintritt des würdigen Koscielski zugefallen war. »Luisers Hühnerstall«, wie sie Dovidl nannte; es lag eine Welt von Verachtung in diesem einen Wort.
Unter den Fittichen des kaiserlichen Tiers also, an einem mächtigen Schreibtisch, der durch eine Barriere vom Raum für das Publikum getrennt war, saß Sender jenes Vormittags und blickte aus der Kühle auf die Straße hinaus. Er sah nun wohler aus als vor der Krankheit, seine Augen waren glänzender, die Bewegungen ruhiger. Auch die Kleidung bewies, daß aus dem geduldeten Uhrmacherlehrling nun ein wohlbestallter Lotterieschreiber geworden, noch mehr, eine Art von »Deutsch«. Der neue Kaftan hatte den üblichen Schnitt, aber er war doch etwas kürzer als früher, und[181] ebenso schienen die Wangenlöckchen gestutzt. Kurz – alles hatte sich mit ihm zum Besseren gewandelt. Trotzdem nagte er in diesem Augenblick mißmutig an der Unterlippe und blickte ungeduldig nach der Tür. »Er kommt nicht«, murmelte er, »und wenn er kommt, so bringt er's nicht.«
»Sender«, klang die Stimme seines Herrn und Meisters aus dem anstoßenden Gemach; es war die »Prifat-Agentschaft«, wo Dovidl Morgenstern nach wie vor, »Rath in alle Sachen« erteilte. »Ich bin fertig; schreib's ab.«
Aber noch ehe sich der Schreiber erheben konnte, öffnete sich die Tür und Dovidl kam hereingestürzt. »Es eilt!« rief er und legte zwei vollgeschriebene Foliobogen vor Sender hin. »Die Rubra ist: ›Chaim Fragezeichen und Naphtalie Ritterstolz contra Schlome Rosenthal wegen Verleumdung‹ ... Eilt!« wiederholte er.
»Rubrum heißt es«, erwiderte Sender gleichmütig. »Aber warum eilt es? Vielleicht wächst inzwischen Reb Schlomes Bart nach. Das kann doch für unsere Mandanten nur gut sein.«
»Mandanten!« rief Dovidl heftig. »Gebrauch keine Ausdrücke, die du nicht verstehst. Übrigens heißt es wirklich ›Mandanten‹. Aber warum wär' das gut für sie? Was kümmert das sie, ob dieser Schlome einen Bart hat oder nicht?«
»Freilich kümmert sie das eigentlich nichts! Aber eben darum hätten sie ihn ihm nicht ausreißen sollen!«
»Ausreißen?« rief Dovidl. »Wer hat ausgerissen? Unsere Mandanten? Und das sagst du, mein Schreiber? Ich fahr' aus der Haut.«
»Aber sie sagen's doch selbst«, wendete Sender ein. Es war ein Pädagogenstreit gewesen, der die Gemüter der Barnower in großen Aufruhr versetzt. Sender freilich war unparteiisch geblieben; »sie waren ja alle nacheinander meine Lehrer«, meinte er, »und ich hab' sie alle gleich lieb.« Schlome Rosenthal war mit Naphtali Ritterstolz, dem Liebling des Rabbi, über die Auslegung einer schwierigen Talmudstelle in Streit geraten. Chaim Fragezeichen hatte Naphtali unterstützt, zunächst durch die Schärfe seiner gelehrten Gründe, dann, nachdem der Streit in Tätlichkeiten ausgeartet, durch die seiner Fingernägel; Schlome hatte schließlich die Flucht ergriffen, aber sein halber Bart war auf der Wahlstatt – Naphtalis Studierstube – geblieben. Schlome hatte zunächst den Rabbi als Schiedsrichter angerufen, dann aber, als dieser für seinen Liebling entschieden, durch Morgenstern die Klage beim k.k. Bezirksamt angestrengt.
»Sie sagen's selbst!« rief Dovidl, warf die Arme von sich und drehte sich zweimal wie ein Kreisel um die eigene Achse. »Wem haben sie's gesagt? Mir, ihrem Vertreter! Aber vor Gericht? Da lügt Schlome, da ist er ein Verleumder, weil er fromme Talmudisten beschuldigt – ›wegen schwerer körperlicher Verletzung‹ beschuldigt – verstehst du?«
»Nein«, erwiderte Sender. »Der Bart ist ja wirklich weg.«[182]
»Unsere Sorge! Er hat sich ihn selbst ausgerissen.« Dovidl ergriff die Bogen und schwang sie wie eine Triumphfahne durch die Luft. »Das hab' ich hier geschrieben – um verleumden zu können, selbst ausgerissen!«
»Aber wenn das Gericht unsere Mandanten beeidet?«
»Beeidet? Hahaha!« Dovidl lachte krampfhaft. »Ich platz'. Sie sind ja Angeklagte. Die kann man doch nicht in Eid nehmen. Ich platz'.«
»O doch!« erwiderte Sender gelassen. »Ihr erhebt ja die Gegenklage wegen Verleumdung. Und da sind Naphtali und Chaim die Zeugen und können beeidet werden.«
Dovidl blickte ihn wie erstarrt an. »Ich fahr' –«
»Aus der Haut«, ergänzte Sender. »Aber deshalb hab' ich doch recht.«
Der Winkelschreiber hörte ihn nicht mehr. Blitzschnell hatte er die Bogen ergriffen und war in sein Sanktuarium zurückgestürzt.
Sender setzte sich wieder hin. »Und das erleb' ich nun dreimal täglich mit ihm«, dachte er. »Anfangs hat's mir Spaß gemacht, aber jetzt möcht' ich eine Abwechslung haben! Wenn er doch wenigstens einmal wirklich platzen oder zum mindesten aus der Haut fahren wollte ... Für mein Ziel nützt er mir gar nichts – so einen Narren werd' ich nie zu machen haben, den hat noch kein Dichter in ein Stück hineingesetzt ... Und Nadler schweigt noch immer!«
Das war der Grund seines Mißmuts. Es ging ihm ja nun gut, er konnte zufrieden sein. Die Arbeit bedingte wohl viel Zeit, aber geringe Mühe. Hätte er sich auf jene Verrichtungen beschränken dürfen, für die er die sieben Gulden Monatslohn bezog, so wäre sein Tag fast nur aus Mußestunden zusammengesetzt gewesen, denn von Rechts wegen hatte er nur die Listen der Kollektur zu führen und die mit hebräischen Lettern, aber in deutscher Sprache geschriebenen Entwürfe seines Chefs in deutscher Schrift wiederzugeben. In Wahrheit war's anders, an beidem hingen mancherlei Verrichtungen, die nicht im Vertrage standen und doch getan sein wollten, jedoch auch dies nahm er willig in Kauf. Aber er konnte nichts zur Erreichung seines Ziels tun, in dieser Hinsicht verbrachte er seine Tage müßig, und dies ertrug er immer schwerer. Er hatte sofort nach seinem Eintritt in die Kollektur an seinen Gönner in Czernowitz geschrieben, die Wandlung seines Geschicks mitgeteilt und dringend gebeten, ihm die Bücher nochmals zu senden, namentlich den »Katechismus«, aber nicht etwa wieder als Geschenk, beileibe nein, sondern unter Nachnahme und diesmal an seine eigene Adresse. Daß der Direktor noch in Czernowitz war, wagte er freilich nicht zu hoffen, »aber«, dachte er, »so einen großen Künstler wird die Post schon finden.« Darum hatte er keine baldige Antwort erwartet – nun aber waren's schon sechs Wochen und er harrte noch immer vergebens.[183]
Auch heute hatte der Briefbote nichts für ihn, fast höhnisch winkte er ihm im Vorbeigehen mit der Hand ab. Es war dem Enttäuschten nur ein geringer Trost, daß in demselben Augenblicke die geistige Elite von Barnow zum Zwecke einer längeren Konferenz den Laden betrat.
»Hier wird gewonnen«, stand auf jener Tafel, noch mehr, Dovidl verhieß sogar jedermann ein Terno. Er versprach nicht zu viel, nur gehörte freilich eines dazu: daß man jene Nummern zwischen 1 und 90 setzte, die dann in der nächsten Lemberger Ziehung herauskamen. Daß dies vom Glück, vom Zufall abhänge, glaubte eigentlich niemand in Barnow und der »ganzen Umkegend«: man mußte eben das Glück zwingen, indem man sich nach verläßlichen Anzeichen richtete. Die einen folgten dabei mehr dem Verstande, die anderen mehr dem Gemüt, aber die Hilfe des Kollekturschreibers nahmen alle in Anspruch, und wenn es ihm auch die Gemütsmenschen nicht leicht machten, so erwiesen sich doch die Anhänger der reinen Vernunft als die Zeitraubendsten.
Die aber beehrten ihn eben: der Apotheker Ludwig Noß, der Steueramtskontrollor Viktor Huszkiewicz und der Wundarzt Franz Xaver Grundmayer; der vierte im Bunde, der Bestechungsagent Herr v. Wolczynski – es war dies fast ein ebenso offizieller Beruf wie der der anderen – fehlte heute.
Diese Herren folgten der Mathematik. Damit wenigstens eröffnete der kleine, kugelrunde Apotheker die Konferenz.
»Also, Senderko«, begann er gewichtig, »wir kommen, um zu setzen. Große Einsätze! – bis zu fünfzig Kreuzer!« Er hob den Zeigefinger. »Aber ohne Mathematik tun das höchstens die Bauern! Also – lies uns einmal langsam die Listen der Nummern vor, die vor sieben Jahren herausgekommen sind. Langsam und deutlich!«
»Und laut!« fügte Grundmayer hinzu. Er hörte nicht ganz gut, wenn er etwas betrunken war, und etwas betrunken war er immer. »Die Lungen dazu hab' ich dir ja wieder kuriert! Nämlich, Sie müssen wissen, meine Herren, ich bin sein Lebensretter. Im April nämlich –«
»Aber Herr Doktor, das wissen wir ja, Herr Doktor!« fiel Huszkiewicz ein. »An die Arbeit, Herr Doktor!« Denn wenn man Grundmayer unterbrach, so wurde er grob, es sei denn, daß man ihn zur Begütigung »Herr Doktor« nannte. »Nimm also den Band von 1845, Sender, und lies. Ich werde auch heute notieren.«
Er holte ein dickes Heft aus der Tasche, das schon fast ganz mit Zifferntabellen vollgeschrieben war, und nahm Platz. Sender aber langte seufzend den gewünschten Band aus dem Wandschrank und begann zu lesen. Er mußte es tun, sein Chef hatte ihm strengstens eingeschärft, jeden Wunsch der Kunden zu erfüllen, der sie in ihrer Spiellust bestärken konnte, aber es war ihm so langweilig, so schrecklich langweilig.
»Sender«, klang die Stimme Dovidls aus dem Nebenzimmer,[184] und wieder kam er im nächsten Atemzuge hereingestürzt, auch diesmal ein Folioblatt in der Hand. »Ich hab' mir's überlegt – keine Gegenklage. Ich sag' einfach – Guten Tag, meine Herren, welche Ehre, meine Herren! Sie lassen sich vorlesen? Gut, sehr gut, vortrefflich, ausgezeichnet! Lies, Sender. Er liest doch deutlich, hoff' ich? Sind Sie zufrieden, meine Herren? Wenn Sie nicht zufrieden sind, so sagen Sie es! Aber warum liest du noch immer nicht?«
»19. 44. 57. 3 ...«
»Aber, meine Herren, entschuldigen Sie zur Güte, das ist nicht auszuhalt – Sehr interessant, sehr! Und Ihre Methode, Pani Controllor, großartig! Was müssen Sie damit schon gewonnen haben! Noch nichts? Merkwürdig! Aber dann kommt es noch! Sie werden den Staat arm machen, Pani Controllor, bettelarm, zum Bankrott werden Sie Österreich bringen, meine Herren. So eine Methode! Aber warum liest du schon wieder nicht?!«
17. 31. 6 ...
»Zum Verrücktwerden! Nämlich, ja! Großartig ist diese Methode, großartig ist sie, nicht zu sagen! Aber entschuldigen Sie, ist das wirklich nötig? Nämlich – worin besteht denn eigentlich diese Methode?«
»Ganz einfach«, sagte der Apotheker. »Nämlich wir meinen –«
»Ich meine!« fiel der Controllor etwas pikiert ein. »Oder vielmehr, ich meine nicht, sondern ich weiß, daß sich die Nummern nach einem bestimmten Gesetz wiederholen. Aber eins bis neunzig – Sie verstehen, Pani Morgenstern, wie viel verschiedene Variationen sind da möglich! Da muß man also ein möglichst großes Material haben, um dahinter zu kommen. Aber fast hab' ich's schon heraus, und gerade die heutigen Ziffern passen merkwürdig in mein System. Merkwürdig! Weiter, Sender ...«
»51. 12. 1 ...« fuhr Sender monoton fort. ›Wenn du erst wüßtest‹, dachte er, ›wie merkwürdig das ist! Denn ich sag' dir ja schon eine Viertelstunde her, was mir grad' einfällt!‹ ... »4. 73. 97 ...«
»Was?« rief der Controllor und schnellte entsetzt empor. »97? Das gibt's ja im Lotto gar nicht!«
Und auch die beiden anderen Herren standen starr vor Staunen.
»Verzeihen Sie!« rief Sender hastig. »Ich hab' den Punkt übersehen. 9. 7 soll es heißen.«
»Ach!« rief der Controllor befriedigt. »9. 7, das paßt wieder merkwürdig. Und jetzt, geben Sie acht – kommt 39 oder 58!«
»Wirklich 58«, rief Sender im Tone fassungslosen Staunens und klappte vor lauter Bewunderung das Buch zu.
»58!« Der Controllor fuhr sich in die Haare. »Wirklich 58? Aber das ist ja auch so wahrscheinlich! ... Nun hab' ich's, meine Herren, ich hab's. Bei der nächsten Ziehung kommen die Nummern« – er begann murmelnd zu rechnen – »kommen 6. 17. 83. – Ich setze einen Gulden!«
»Ich auch.«[185]
»Ich auch!«
Sender stellte ihnen die Scheine aus, erregt gingen die Herren ab.
»Drei Gulden!« rief Dovidl. »Wenn die Nummern herauskommen, so macht der Gewinn ein Vermögen. Rechne schnell aus, Sender, wie viel.«
»Ich wart', bis sie gewinnen«, erwiderte dieser und griff nach dem Hut, die Uhr wies eben auf zwölf.
»Aber die Eingab'! Ich hab's ganz einfach gemacht, alles ist nicht wahr! Es war nie ein Streit, nie eine Prügelei –«
»Und Reb Schlome hat nie einen Bart gehabt! ... Auf Wiedersehen, Meister!« –
»Heut' war's doch wenigstens nicht ganz so langweilig wie sonst«, dachte Sender, als er dem Mauthause zuschritt. »Aber ist das ein Leben für einen künftigen Künstler?« Freilich mahnte er sich sofort. »Pojaz, du hast schon auf schlechterem Papier geschrieben!« Aber der Schluß seines Selbstgesprächs lautete doch: »Wer weiß, wo Nadler ist! Ich muß an den Buchhändler in Lemberg schreiben! Dovidl kann mir gewiß seinen Namen sagen. Ich Narr, der nicht früher daran gedacht hat. Und wenn ich die Bücher doppelt bekomm', ist's auch kein Unglück. Ein Unglück ist's nur, länger müßig zu bleiben ...«
Er schritt unwillkürlich rascher aus, als könnte ihn dies dem ersehnten Ziel näher bringen. »Als Kranker hab' ich einen anderen für mich sorgen lassen, aber jetzt –« Senders Tatkraft war wieder in ihm wach geworden.
Als er daheim die Wohnstube betrat, fand er just diesen anderen vor. Der »Marschallik« war auch sonst kein Kopfhänger, heut' lachte ihm vollends die helle Freude aus den Augen.
»Gottswillkomm'!« begrüßte ihn Sender herzlich. »Ist das recht? Seid Ihr nur ein Freund für die schlechten Tage? Seit vier Wochen hab' ich kein Zipfele Eures Kaftans gesehen. Aber ich seh', heut' ist Euch was Gutes begegnet!«
»Wird erst! mein Jung'«, lachte der Marschallik, »wird erst! Das Beste, was ich auf der Welt hab'. Simche ist gestern nach Chorostkow gefahren und bringt mir heut' meine Jütte mit. Das Kind war jetzt vier Jahr' nicht zu Haus, und seit ihrem zehnten ist sie drüben – sieben Jahr'! So gut sie's in der Fremde hat, mir tut doch das Herz weh, daß sie dort bleiben muß. Aber was läßt sich da machen! Kein Mensch will heiraten, nicht einmal ein gewisser Mensch, der's dem Rabbi versprochen hat!«
»Findet doch erst eine, die mich mag«, erwiderte Sender, suchte jedoch dann hastig das Gespräch auf andere Dinge zu bringen.
Es fiel ihm nicht schwer, der Marschallik erzählte von seinen Kindern; die beiden Söhne verdienten sich nun als Handwerker selbst ihr Brot, von den vier Töchtern waren nun drei verheiratet. »Und die Jütte bring' ich auch noch an!« schloß er. »Um die ist mir schon gar nicht bang. Freilich hier nicht, so wenig wie die Schwestern.«[186]
»Warum nicht hier?« fragte Frau Rosel. »Weil Ihr arm seid? Das ist doch kein Grund.«
»Nein«, erwiderte er, »sondern weil ich der ›Marschallik‹ bin. Die Leut' haben mich gern, ich weiß, und gegen meine Ehrlichkeit ist auch nichts zu sagen, aber mit einem Menschen, der um Geld Spässe macht, verschwägert sich niemand gern.«
Er nickte traurig vor sich hin, aber gleich darauf lachte er wieder. »Glaubt Ihr, ich mach' mir was draus? Nicht so viel ... Aber nun geh' ich weiter!«
»In der Hitze?« rief Frau Rosel. »Erwartet doch Eure Tochter hier und eßt mit uns, so viel da ist.«
Er ließ sich nicht lange bitten, aß aber nur wenige Bissen. »Ich kann's nicht – vor lauter Freud'«, sagte er. »Ach wüßtet Ihr, was das für ein golden Kind ist. Reb Hirsch Salmenfeld sagt mir immer: ›Ich gönn' Euch gewiß den Richtigen für Euer Kind wie mir für meine Malke, aber was ich ohne sie anfang', weiß ich nicht, sie hält mir das ganze Haus zusammen.‹ Und Ihr wißt«, fuhr er stolz fort, »es ist die größte Wirtschaft in Chorostkow, das feinste Einkehrhaus weit und breit. Mit Müh' und Not hat er sie jetzt auf acht Tag' freigegeben, weil grad' das Geschäft still ist. Ja, meine Jütte!«
Nach dem Essen ging Frau Rosel auf ein Schläfchen in ihre Kammer, auch der alte Mann nickte in der Hitze ein. So war es Sender allein, der das Herannahen des schweren Leiterwagens gewahrte, den sein Freund Simche lenkte. Wohl ein Dutzend Passagiere saßen unter der Leinwandplache, halb erstickt von Staub und Hitze, darunter einige junge Mädchen.
Sender musterte sie neugierig. »Du bist die Jütte!« sprach er eins von ihnen an, dem lachende braune Augen in einem frischen, runden Gesicht standen. »An deines Vaters Augen erkenn' ich dich. Komm', steig' ab, er ist drinnen eingeschlafen – vor lauter Erwartung!«
Sie sprang ab. »Und du mußt der Pojaz sein«, sagte sie munter. »Ich erkenn' dich an der Höflichkeit. Einem erwachsenen Mädchen ›du‹ zu sagen – so eine Feinheit lernt man nur aus den deutschen Büchern.«
Die Mitreisenden lachten. »Du, gib acht«, warnte ihn Simche. »Die ist dir über! Was, Nüssele (Nüßchen)?« Der Vergleich war nicht übel, sie war rund, braun und blank wie eine Haselnuß. »Dein Kofferchen geb' ich zu Haus ab.«
Er fuhr weiter. Sender öffnete ihr die Tür. »Ich bitte, näher zu treten, verehrtes Fräulein«, sagte er neckend in seinem besten Hochdeutsch. »Wenn das Fräulein es so belieben ...«
Sie blickte ihn scheinbar erstaunt an. »Was ist das für eine Sprach'?« fragte sie. »Glaubt Ihr, es wär' Deutsch?«
»Der Stich gibt kein Blut!« lachte er, war aber doch rot geworden. »Und da sagt man: Dicke sind gut. Jetzt weiß ich, wie viel's bei Euch geschlagen hat.«[187]
»Kein Wunder«, erwiderte sie. »So ein Uhrmacher wie Ihr!«
Frau Rosel kam herbeigeeilt, als sie die fremde Stimme hörte, und geleitete das Mädchen zu ihrem Vater. Es war rührend, wie er die Augen aufriß und sie wieder schloß und dann aufjubelte: »Kein Traum! Kein Traum!«
Die Hausfrau brachte der Halbverschmachteten eine Labung; die vier blieben noch eine Weile in lustigem Geplauder beisammen. Am schweigsamsten war Sender, es ärgerte ihn, daß ihn das Mädchen vorhin so gründlich geschlagen. Um ihr eine bessere Meinung von sich beizubringen, lenkte er das Gespräch auf die Kollektur und spielte seinen Zuhörern die Szene vor, die er dort erlebt. Er gab sich alle Mühe, und sie lohnte sich, die beiden Alten lachten laut, und auch Jütte rief bewundernd, indem sie sich die Tränen aus den Augen wischte: »Auf dem Theater sieht man's nicht besser!«
Sender horchte hoch auf.
»Theater?« fragte er. »Habt Ihr je eins gesehen?«
»Natürlich. Im vorigen Monat war ja erst eine Gesellschaft in Chorostkow, vier Spieler und drei Spielerinnen. In unserem Haus, im Saal, den Reb Hirsch sonst zu Hochzeiten vermietet, war die Bühne. Ganz gute Geschäfte haben sie gemacht – alle Offiziere waren jeden Abend da. Es ist gar nicht zu erzählen, was die für Sachen gemacht haben, lustige und traurige! Ganz gute Spieler«, fügte sie hinzu. »Sie waren früher in Czernowitz.«
»In Czernowitz?« rief Sender atemlos vor Erregung. »War der Herr Nadler dabei?«
»Nein«, erwiderte das Mädchen.
Die Mutter aber blickte ihn erstaunt an und fragte dann scharfen Tones: »Du bist ja außer dir! Was gehen dich die Spieler an? Und woher kennst du den Herrn Nadler?«
Sender hatte sich wieder gefaßt. »Die Wahrheit ist das beste«, dachte er. Und so erzählte er möglichst gleichgültig, daß er diesen berühmten Schauspieler einmal auf der Bühne gesehen. »Du erinnerst dich – wie ich mit Schmule Grün beim Wunderrabbi in Sadagóra war.«
»Ich erinnere mich nicht«, sagte sie etwas scharf – jede Art von fahrenden Leuten war ihr gleich verhaßt.
Das Mädchen aber meinte: »Gar so berühmt kann dieser Nadler nicht sein. Wenigstens haben ihm die Spieler, die in Chorostkow waren, alles Schlechte nachgesagt. Sie haben ihm Schuld gegeben, daß sich die Gesellschaft aufgelöst hat. Er war ihr Direktor, hat sie aber nicht bezahlt und ist ihnen bei Nacht und Nebel durchgegangen – wegen fünfzig Gulden. Übrigens, vielleicht haben sie gelogen. Solche Lumpe! Und erst die Weiber!«
Sender wurde totenbleich, sein Herz pochte zum Zerspringen, und er fühlte jählings wieder ein Stechen in der Lunge. Die Gesellschaft[188] aufgelöst, Nadler auf der Flucht! ... all sein Hoffen lag im Staube! Instinktiv wandte er sein Antlitz ab, daß die Mutter seine Erregung nicht sehe, griff dann rasch zum Hut und stürzte hinaus.
Fast wankend schritt er im Sonnenbrand dem Städtchen zu und blieb immer wieder stehen und murmelte mit bleichen Lippen: »Was nun?« Während er auf Nadlers Hilfe baute, irrte der Unglückliche flüchtig umher. Und er kehrte wohl auch nie nach der Stadt zurück, die er mit Schimpf und Schande hatte verlassen müssen – und wenn der Winter kam ... Sender schloß die Augen. »Barmherziger Gott«, stöhnte er, »hättest du mich lieber sterben lassen, als das zu erleben! ... Aber nein«, murmelte er im nächsten Atemzuge, »das ist ja Sünde. Und doch, was wird nun aus mir?«
Er hörte seinen Namen rufen. Es war der Marschallik, der sich nun auch mit der Tochter auf den Weg gemacht. Sender winkte ihm mit der Hand zu und suchte rasch weiter zu gehen. Aber er konnte nicht so eilen, wie er wollte; der Schmerz beim Atmen hinderte ihn. »Die Erregung!« dachte er. »Der Arzt hat mich davor gewarnt!« Bei dem nächsten Seitenweg bog er ab und wieder zum Städtchen hinaus. In das nächste Ährenfeld, das er erreichte, warf er sich nieder und barg sein Haupt in den Händen. Nur nichts sehen, nichts hören, nur allein bleiben ...
So lag er in dumpfer, fassungsloser Verzweiflung. Wild rauschte ihm das Blut in den Ohren, und die Lungen rangen nach Luft. »Es kommt wieder wie vor dem Rabbi«, dachte er. »Aber was liegt daran?«
Dann richtete er sich doch auf, lüftete die Kleider, um leichter atmen zu können. »Nein«, murmelte er vor sich hin und biß die Zähne aufeinander, »ich muß stark bleiben, ich hab' nun niemand, als mich allein ... Aber«, stöhnte er dann, »was kann ich anfangen, wie mir raten, wie mir helfen?«
Das Bewußtsein seiner Hilflosigkeit übermannte ihn; er kam sich so unglücklich, so verlassen, so bemitleidenswert vor! Jählings schossen ihm die Tränen in die Augen, er begann heftig zu weinen. Fassungslos schluchzte er vor sich hin und preßte das glühende Antlitz gegen die kühle, feuchte Erde des Ackers.
So verging eine geraume Weile. Allmählich wurde sein Atem ruhiger, die Tränen flossen reichlich, aber gelind. Nun, da sich sein Schmerz entladen, konnte er wieder ruhiger denken. »Die Lumpe!« hatte das Mädchen gesagt, »vielleicht haben sie gelogen!« Aber nein – darauf war kaum zu hoffen. Sie mochten Nadler verleumdet haben, daß er heimlich geflohen, aber was änderte das an der Sache? Die Gesellschaft war aufgelöst, Nadler brotlos – es klang ja nicht unwahrscheinlich, er hatte ihm ja selbst geschrieben, in Czernowitz finde sich nicht genug Publikum für den ganzen Winter – nun war es auch für die wenigen Wochen ausgeblieben ... Und wenn es nicht fünfzig Gulden waren, sondern mehr, auch dies war nicht tröstlich.[189]
Er stützte das Haupt auf die Hand. »Aber ist es nicht auch möglich«, dachte er, »daß Nadler sie davongejagt hat? Vielleicht sind es gerade die schlechtesten unter seinen Leuten, und sie sagen ihm nun aus Rache Böses nach. Wenn ich wenigstens mit einem von ihnen reden könnt' – ich brächt' schon die Wahrheit heraus. Vielleicht treiben sie sich noch irgendwo in der Nähe herum, vielleicht kommen sie gar her ... Nein, das nicht, wer ging' hier ins Theater? In Chorostkow steht viel Militär, aber hier – die drei Offiziere vom ›Furbes‹ ... Vielleicht weiß das Mädchen etwas darüber, und es ist möglich, daß ich selbst zu ihnen fahr' und sie ausfrag' ...«
Drinnen im Städtchen schlug die Glocke des Klosters. »Vier Uhr!« erschreckt raffte er sich auf und rannte ins Städtchen zurück. »Zum Glück ist heut' Montag«, dachte er, »da kommen noch nicht viel Leut'.«
In der Tat waren des Nachmittags nur zwei Einsätze gemacht worden, er konnte es im Buche sehen. Dennoch empfing ihn sein Chef mit heftigem Poltern und Stöhnen.
»Fünfundvierzig Zettel hab' ich ausschreiben müssen«, jammerte er. »und die Eingab' ist noch nicht geschrieben, obwohl sie eilt. Ich fahr' aus der Haut! Zahl' ich dir darum sieben Gulden?«[190]
Ausgewählte Ausgaben von
Der Pojaz
|
Buchempfehlung
Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.
68 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro