4

[780] Es war ein finsterer Novemberabend; der Nebel lag auf der Stadt, er füllte die alten Straßen und Plätze und drang durch die offenen Türen in die Häuser. Er ballte sich um die Straßenlaternen, deren Licht in einer rötlichen Dampfkugel flackerte und nicht drei Schritt weit den Boden erleuchtete. Er schwebte über dem Flusse und wälzte sich dort in dicken Massen durcheinander. Eine Schar langschleppiger, grauer Gestalten zog über den schwarzen Strom dahin, über die alten Wasserpfähle, unter den Brücken durch, eine gespenstige Bande von giftigen Dünsten! Sie rollten an den Treppen hinauf, hefteten sich an die Holzpfeiler der Galerien und wogten geschäftig durcheinander. Zuweilen entstand eine Lücke zwischen den Gebilden des Nebels, dann konnte man auf das schwarze Wasser hinabsehen, welches wie ein unterirdischer Strom des Verderbens an den Wohnungen der Menschen dahinfloß. Die Straßen waren leer, zuweilen sah man eine Gestalt in der Nähe einer Laterne auftauchen und schnell wieder in der Finsternis verschwinden. Unter diesen dämmrigen Wesen war auch ein kleiner zusammengedrückter Mann, der mit unsicherem Schritt vorwärtsstrebte und unter den Laternen fortschlüpfte, so schnell ihm dies die wankenden Füße erlaubten. Durch den Hausflur wankte er in den Hof, in welchem Itzigs Comtoir war, und sah nach den Fenstern des Agenten hinauf. Die Vorhänge waren heruntergelassen, aber durch die Ritzen drang ein Lichtschimmer. Der kleine Mann versuchte festzustehen, starrte nach dem Licht, streckte die geballte Faust nach der Höhe und schüttelte sie drohend; dann stieg er die Treppe hinauf und klingelte heftig zwei-, dreimal. Endlich hörte man einen leisen Schritt, die Tür wurde[780] geöffnet, der Kleine fuhr hinein und lief durch das Vorzimmer, welches Itzig hinter ihm abschloß. Veitel sah noch bleicher aus als gewöhnlich, und sein Auge fuhr unstet über die Gestalt des späten Gastes. Hippus aber war nie ein einladendes Bild männlicher Schönheit gewesen, heut sah er wahrhaft unheimlich aus. Seine Züge waren tief eingefallen, eine Mischung von Angst und Trotz saß in dem häßlichen Gesicht, und tückisch sahen seine Augen über den angelaufenen Brillengläsern auf den früheren Schüler. Sicher war er wieder betrunken, aber eine fiebrige Angst hatte seine Lebensgeister alarmiert und für den Augenblick die Wirkung des Branntweins gelähmt.

»Sie sind mir auf dem Nacken«, rief er und fingerte mit seinen Händen unruhig in die Luft. »Sie suchen mich!«

»Wer soll Euch suchen?« frug Itzig, aber er wußte, wer ihn suchte.

»Die Polizei, du Schuft«, schrie der Alte. »Um deinetwillen stecke ich in der Klemme. Ich darf nicht mehr zu Hause, du mußt mich verstecken.«

»So weit sind wir noch nicht«, antwortete Veitel mit aller Kälte, die ihm zu Gebote stand; »woher wißt Ihr, daß Euch die Polizeidiener auf der Ferse sind?«

»Die Kinder auf der Straße erzählen einander davon«, rief Hippus; »auf der Straße hab ich's gehört, als ich in mein Loch kriechen wollte. Es war ein Zufall, daß sie mich nicht in meiner Stube fanden. Sie stehn an meinem Hause, sie stehn auf der Treppe, sie warten, bis ich zurückkomme. Du sollst mich verstecken, Geld will ich haben, über die Grenze will ich; hier ist meines Bleibens nicht mehr; du mußt mich fortschaffen.«

»Fortschaffen«, wiederholte Veitel finster, »und wohin?«

»Dahin, wo mich die Polizei nicht einholt, über die Grenze, nach Amerika!«

»Und wenn ich nicht will«, sprach Itzig feindselig und überlegend.

»Du wirst wollen, Einfaltspinsel. Bist du noch so grün, daß du nicht weißt, was ich tun werde, wenn du mir nicht aus der Klemme hilfst, du Taugenichts? Sie werden auf dem Kriminalgericht Ohren haben für das, was ich von dir weiß.«

»Ihr werdet so schlecht nicht sein und einen alten Freund verraten«,[781] sagte Itzig in einem Tone, der sich vergebens bemühte, gefühlvoll zu sein. »Seht die Sache ruhiger an, was ist zuletzt für Gefahr, wenn sie Euch arretieren? Wer kann Euch etwas beweisen? Sie müssen Euch aus Mangel an Beweis wieder loslassen. Ihr kennt das Gesetz ja ebensogut, wie die vom Gericht.«

»So?« schrie der Alte giftig. »Meinst du, daß ich ins Loch kriechen werde um deinetwillen, um eines solchen Hanswurstes willen! Daß ich bei Wasser und Brot sitzen werde, während du hier Gänsebraten ißt und den alten Esel von Hippus auslachst. Ich will nicht in's Loch, ich will fort, und bis ich fort kann, sollst du mich verstecken.«

»Hier könnt Ihr nicht bleiben«, antwortete Veitel finster, »hier ist keine Sicherheit für Euch und für mich; der Jakob wird Euch verraten, die Leute im Hause werden merken, daß Ihr hier seid.«

»Das ist deine Sorge, wo du mich unterbringst«, sagte der Alte, »aber von dir verlange ich, daß du mir heraus hilfst, oder –«

»Halt Euer Maul«, sagte Veitel, »und hört mir zu: Wenn ich Euch auch Geld geben will und dafür sorgen, daß Ihr mit der Eisenbahn nach Hamburg und über das Wasser kommt, so kann ich es doch nicht machen gleich und nicht machen von mir aus. Ihr müßt bei Nacht ein Paar Meilen bis zu einer kleinen Station der Eisenbahn geschafft werden, ich darf Euch die Fuhre nicht mieten, das könnte Euch verraten, und wie Ihr hier vor mir steht, seid Ihr zu schwach zum Gehen. Ich muß Euch mit einer Gelegenheit fortbringen, von der ich erst sehen muß, ob ich sie finde. Unterdes muß ich Euch an einen andern Ort schaffen, wo die Polizei nicht weiß, daß ich selbst hinkomme, denn ich fürchte, sie wird Euch bei mir suchen. Wenn Ihr nicht zu Hause kommt, so wird sie Euch suchen bei mir vielleicht schon heut nacht. Ich will gehn und nachsehn, daß ich Euch eine Fuhre verschaffe und einen Ort, wo Ihr bleiben könnt. Unterdes sollt Ihr bleiben in der hintern Stube, bis ich zurückkomme.« Er öffnete die Tür, Herr Hippus schlüpfte wie eine gescheuchte Fledermaus hinein. Veitel wollte die Tür hinter ihm schließen, aber das alte Geschöpf klemmte seinen Leib zwischen die Türe und schrie in voller Entrüstung: »Ich will nicht im Finstern bleiben, wie eine Ratte, du wirst mir Licht hier lassen. Ich will Licht haben, du Satan!« schrie er laut.[782]

»Man wird unten sehen, daß Licht in der Stube ist; das wird uns verraten.«

»Ich will nicht im Finstern sitzen!« schrie der Alte wieder.

Mit einem Fluch ergriff Veitel die Lampe und trug sie in das zweite Zimmer. Dann schloß er die Türe und eilte auf die Straße.

Vorsichtig näherte er sich dem Hause des Löbel Pinkus. Dort war alles ruhig; von dem Hausflur sah er durch das kleine Schiebefenster in den Branntweinladen, wo Pinkus und einige Gäste in der Sorglosigkeit eines guten Bewußtseins zusammensaßen. Er schlich die Treppe hinauf nach seiner früheren Stube, holte dort aus einem versteckten Winkel einige verrostete Schlüssel, betrat vorsichtig den Schlafsaal und sah mit Freude, daß dieser nicht erleuchtet und leer war. Er eilte auf die Galerie. Dort blieb er einen Augenblick stehen und sah auf die rollenden Nebelmassen und die dunkle Flut. Der Augenblick war günstig, es war hohe Zeit, ihn zu benutzen, denn unregelmäßig strich ein Luftzug über das Wasser; schon war am Nachthimmel ein unruhiges Treiben sichtbar, zerrissen flogen die dunkeln Wogen über dem Strom dahin, in kurzer Zeit mußte der Wind auch den Strome, die Umrisse der Häuser und die Laternen freimachen, welche an der Straßenecke wie rote Punkte glänzten.

Itzig eilte an das Ende der Galerie und steckte einen Schlüssel in die Tür, welche den Eingang zur Wassertreppe verdeckte. Knarrend flog die Tür auf, er stieg bis an den Rand des Flusses hinab und untersuchte die Höhe der Flut. Hohl gurgelte das Wasser und staute sich an den letzten Stufen der Treppe. Der Fußsteig war überschwemmt, welcher längs den Häusern am seichten Rande des Strombettes fast das ganze Jahr sichtbar war. Aber nur wenige Schritte durfte man im Wasser gehen, um von dieser Treppe zu der Treppe des Nebenhauses zu gelangen. Veitel sah starr auf das Wasser und steckte seinen Fuß in die eiskalte Flut, um zu fühlen, wie tief man zu steigen habe, um auf den Grund zu kommen. So besorgt war er für die Rettung des alten Mannes, daß er die Kälte an seinem Bein nicht beachtete; er empfand sie nicht einmal. Das Wasser reichte ihm bis an die Knie. Noch einen Blick warf er auf die Häuser in der Nähe. Alles war Finsternis, Dampf, Grabesstille, nur das Wasser und der Wind murmelten klagend.[783]

Unterdes versuchte Hippus sich in der verschlossenen Stube häuslich einzurichten. Nachdem er den abgehenden Veitel durch gottlose Flüche und geballte Fäuste, die er ihm nachschleuderte, auf seinem Gange gesegnet hatte, wandte er seinen verstörten Geist auf Untersuchung des Zimmers. Er wankte zu einem niedrigen Schrank, drehte den Schlüssel und suchte nach einer Flüssigkeit, die ihm die sinkende Kraft und den trockenen Gaumen erfrischen könnte. Er fand eine Flasche mit Rum, goß ihren Inhalt in ein Bierglas und schlürfte ihn mit so großer Hast hinunter, als das scharfe Gift möglich machte. Ein kalter Schweiß trat dem unglücklichen Geschöpf sogleich auf die Stirn, er zog die Reste eines Taschentuchs hervor, wischte sein Gesicht eifrig ab und ging breitspurig mit trunkenen Schritten und mit schnell wachsendem Mut in der Stube auf und ab, indem er laut dazu phantasierte.

»Er ist ein Lump, ein schuftiger, feiger Hase, ein jämmerlicher Schacherer ist er; wenn ich ihm ein altes Taschentuch verkaufen will, er muß es kaufen, es ist seine Natur, er ist ein verächtliches Subjekt. Und mir will er trotzen, mich will er ins Gefängnis stecken, und er selbst will hier sitzen auf diesem Sofa und bei dieser Rumflasche, der Hundsfott!« Dabei ergriff er die leere Flasche und warf sie zornig gegen das Sofa, daß sie an dem Holz der Lehne zersprang. »Wer war er?« fuhr er in steigendem Zorne fort. »Ein schachernder Hanswurst. Durch mich ist er geworden, was er ist; ich habe ihn pfeifen gelehrt, den Gimpel. Wenn ich pfeife, muß er tanzen, er ist nur mein Lockvogel, ich bin der Vogelsteller. Dein Vogelsteller bin ich, du ruppiges Scheusal.« Hier versuchte der Alte zu pfeifen: »Freuet euch des Lebens«, erhob die Beine und machte einen Versuch, lustig umherzuspringen. Wieder strömte ihm der kalte Schweiß von der Stirne, er zog wieder den Lappen aus der Tasche, trocknete sich das Gesicht ab und steckte das Tuch sorgfältig wieder ein. – »Er wird nicht zurückkommen«, rief er plötzlich; »er läßt mich hier sitzen, sie werden mich finden.« Er rannte nach der Tür und rüttelte heftig daran. »Eingeschlossen hat mich der Schuft, ein Jude hat mich eingeschlossen«, schrie das Geschöpf kläglich und rang die Hände. »Ich muß verhungern, ich muß verdursten in diesem Gefängnis. Oh, oh! er hat schlecht an mir gehandelt, niederträchtig an seinem Wohltäter, er ist ein undankbarer Bösewicht, ein Rabensohn ist[784] er.« Dabei fing er an zu schluchzen. »Ich habe ihn gepflegt, als er krank war, ich habe ihn Kunststücke gelehrt, ich habe ihn zu einem Manne gemacht, und so lohnt er seinem alten Freund.« Der Advokat weinte laut und rang die Hände. Plötzlich blieb er vor dem Spiegel stehen, auf welchen der helle Glanz des Lichtes fiel, erschrocken starrte er die Gestalt an, welche ihm in dem Spiegel gegenüberstand. Immer zorniger wurde sein Blick, immer grausiger der Glanz seiner Augen, er sah von dem Spiegelglas auf den Rahmen, schob sich die verbogene Brille zurecht und bewegte suchend den Kopf den Rahmen entlang. Der Spiegel kam ihm bekannt vor. Hatte der Zufall ein Möbel aus seinem frühern glänzenden Leben in den geheimen Trödel des Pinkus und von da in Itzigs Wohnung geführt, oder täuschte den Trunkenen nur eine Ähnlichkeit? – aber die Erinnerung an sein Schicksal erfüllte ihn mit Wut. »Es ist mein Spiegel«, schrie er laut, »mein eigener Spiegel ist es, den der Schurke in seiner Stube hat«; toll fuhr er durch das Zimmer, packte einen Stuhl in wahnwitziger Kraft und stieß ihn mit den Beinen gegen das Spiegelglas. Klirrend zerbrach die Platte in Scherben, aber immer und immer wieder stampfte der Betrunkene mit dem Stuhle gegen das Holz und schrie dabei wie rasend: »In meiner Stube hat er gehangen, der Schurke hat mir den Spiegel gestohlen, er hat mein Glück gestohlen, zur Hölle mit ihm!«

In dem Augenblicke stürzte Veitel herein, schon auf dem Vorsaal hatte er wüsten Lärm gehört und fürchtete das Ärgste. Als der Advokat den Eintretenden sah, stürzte er mit gehobenem Stuhle auf ihn zu und schrie: »Du hast mich ins Elend gebracht, du sollst die Zeche bezahlen!« Dabei führte er einen Schlag nach Itzigs Haupt. Dieser fing den Stuhl auf, warf ihn beiseite und faßte den Alten mit überlegener Kraft. Hippus sträubte sich zwischen seinen Händen wie eine wilde Katze und rief alle Flüche, die er finden konnte, auf seinen Bändiger herab. Veitel drückte ihn mit Gewalt in eine Ecke des Sofas und flüsterte, ihn festhaltend: »Wenn Ihr nicht ruhig seid, alter Mann, so ist's um Euch geschehen.« Der Alte sah aus den Augen Itzigs, welche dicht vor den seinen starrten, daß er von dem Empörten das Ärgste zu fürchten hatte, der Paroxysmus verließ ihn, er sank kraftlos zusammen und wimmerte nur leise, am ganzen Körper schauernd: »Er will mich töten!«[785]

»Das will ich nicht, Ihr betrunkener Narr, wenn Ihr ruhig seid; welcher Teufel treibt Euch, mir meine Stube zu verwüsten?«

»Er will mich töten«, wimmerte der Alte, »weil ich meinen Spiegel wiedergefunden habe.«

»Ihr seid verrückt«, rief Veitel, ihn schüttelnd, »nehmt Eure Kraft zusammen, Ihr dürft hier nicht bleiben, Ihr müßt fort, ich habe ein Versteck für Euch.«

»Ich gehe nicht mit dir«, wimmerte der Alte, »du willst mich umbringen.«

Veitel tat einen gräßlichen Fluch, packte den schäbigen Hut des Alten, drückte diesen auf den Kopf, faßte den Alten am Nacken und rief: »Ihr müßt mitkommen oder Ihr seid verloren. Die Polizei wird Euch hier suchen und wird Euch finden, wenn Ihr noch zögert. Fort oder Ihr zwingt mich, Euch ein Leids zu tun.«

Die Kraft des Alten war gebrochen, er wankte, Veitel faßte ihn unter dem Arme und zog den Widerstandslosen fort. Er zog ihn aus den Zimmern die Treppe hinunter, ängstlich spähend, ob ihnen niemand begegne. Alles war still. Der Advokat gewann in der kalten Luft einen Teil seiner Besinnung wieder, und Veitel raunte ihm zu: »Seid still und folgt mir, ich werde Euch fortschaffen.«

»Er wird mich fortschaffen«, murmelte ihm der Advokat mechanisch nach und lief an seiner Seite vorwärts. Als sie in die Nähe der Herberge kamen, ging Veitel vorsichtiger, zog seinen Gefährten in den finstern Hausflur und flüsterte: »Faßt meine Hand und steigt leise mit mir die Treppe hinauf.« So kamen sie in das große Gastzimmer, sie fanden das Zimmer noch leer, wie es zuvor gewesen. Erleichtert sagte Veitel: »Nebenan im Hause ist ein Versteck, Ihr müßt hinein.«

»Ich muß hinein«, wiederholte der Alte.

»Folgt mir«, rief Veitel und zog den Advokaten auf die Galerie und von da die bedeckte Treppe hinunter.

Der Alte wankte unsicher die Stufen hinab und klammerte sich fest an den Rock seines Führers, der ihn halb hinuntertrug. So kamen sie Stufe für Stufe bis hinunter zu der letzten, über welche die Strömung dahinrauschte. Veitel ging voraus und trat rücksichtslos bis an die Knie ins Wasser, bemüht, den Alten nachzuziehn. Der alte Mann fühlte das Wasser an seinem Stiefel, er stand still und schrie laut: »Wasser!«[786]

»Still«, flüsterte Veitel zornig, »sprecht kein Wort!«

»Wasser!« schrie der Alte; »Hilfe! er will mich umbringen.«

Veitel packte den Schreienden und hielt ihm den Mund zu, aber der Todesschreck hatte noch einmal das Leben des Advokaten aufgestört, er hob die Füße auf die nächste Stufe zurück, klammerte sich so gut er konnte an die Seitenbretter und schrie wieder: »Zu Hilfe!«

»Verrückter Schuft!« knirschte Veitel, durch den hartnäckigen Widerstand in Wut gesetzt, drückte ihm mit einem Schlage den alten Hut bis tief über das Gesicht, faßte ihn mit aller Kraft am Halstuch und schleuderte ihn hinunter in das Wasser. Die Flut spritzte auf, das Geräusch eines fallenden Körpers und ein dumpfes Gurgeln wurde gehört; dann war alles still.

Unter den bleigrauen Nebeln, welche mit langen Schleppen längs dem Wasser hinzogen, wurde noch einmal eine dunkle Masse sichtbar, welche mit dem Strome fortzog. Bald war sie verschwunden. Die Gespenster des Nebels bedeckten sie, die Strömung zog darüber hin. Das Wasser brach sich klagend an den Holzpfählen und Treppenstufen, und oben heulte der Nachtwind sein eintöniges Lied.

Der Täter stand einige Augenblicke regungslos in der Finsternis, an das Holzwerk gelehnt. Dann stieg er langsam hinauf. Im Aufsteigen fühlte er an das Tuch seiner Kleider, um sich zu überzeugen, wie weit er durchnäßt war. Er dachte daran, daß er sie am Ofenfeuer trocknen müsse, noch heut nacht; er sah das Ofenfeuer in seinem Zimmer brennen und sich im Schlafrock davor sitzen, wie er gern tat, wenn er über seine Geschäfte nachdachte. Wenn er jemals in seinem Leben des Gefühls behaglicher Ruhe genossen hatte, so war es in solchen Stunden gewesen, wo er müde von den Gängen und Sorgen des Tags das Holz in den Ofen steckte und davor saß, bis ihm die müden Augen zufielen. Er fühlte deutlich, wie müde er auch jetzt sei, und wie wohl es ihm tun würde, am warmen Feuer einzuschlafen. In diesen dämmrigen Träumen blieb er wieder einige Augenblicke stehen, wie einer, der einschlafen will, und fühlte dabei einen dumpfen Druck irgendwo in seinem Innern, einen Schmerz, der ihm schwermachte, Atem zu holen, und seine Brust wie mit eisernen Bändern zusammenzog. Da dachte er an den Ballen, den er jetzt in[787] das Wasser geworfen hatte, er sah ihn eintauchen in die Flut, er hörte das Rauschen des Wassers und erinnerte sich daran, daß der Hut, den er dem Manne über das Gesicht gezogen, noch zuletzt über dem Wasser zu sehen gewesen war, als ein rundes wunderliches Ding. Er sah den Hut deutlich vor sich, abgegriffen, die Krempe halb abgerissen und oben auf dem Deckel zwei alte Ölflecke. Es war ein sehr schäbiger Hut gewesen. Als er daran dachte, merkte er, daß er jetzt lächeln könnte, wenn er wollte. Er lachte aber nicht. Während seine Seele so in halber Erstarrung um die Stelle herumflatterte, die ihn in seinem Innern schmerzte, war er heraufgestiegen. Als er die Treppentür herumlegte, sah er noch einmal in die schwarze Röhre, in welche vor wenig Augenblicken zweie hinuntergestiegen waren, während jetzt nur einer zurückkehrte. Er sah auf den grauen Schimmer des Wassers, und wieder fühlte er einen dumpfen Druck. Eilig huschte er durch das große Zimmer die Treppe hinunter, im Hausflur stieß er auf einen der fremden Gäste, welche in der Karawanserei wohnten; beide eilten schnell, ohne ein Wort zu sprechen, aneinander vorüber.

Diese Begegnung brachte die Gedanken des Heimkehrenden in andere Richtung: War er sicher? Noch immer lag der Nebel dick auf den Straßen, niemand hatte ihn mit dem Advokaten hereingehen sehen, niemand hatte ihn beim Herausgehen erkannt. Und wenn man den alten Mann im Wasser fand, dann fing die Untersuchung an. War er dann noch sicher?

Alles das dachte der Mörder so gleichgültig, als läse er die Gedanken aus einem Buche ab. Dazwischen kam ihm wieder die Idee, ob er seine Zigarrentasche bei sich habe und warum er keine Zigarre rauche. Er grübelte darüber längere Zeit und kam endlich in seiner Wohnung an. Er schloß auf; als er das letzte Mal aufgeschlossen hatte, war in der zweiten Stube ein wüster Lärm gewesen. Er blieb stehn und horchte, ob derselbe Lärm nicht wieder zu hören sei. Er wollte ihn durchaus hören. Vor wenig Augenblicken war er gewesen. O was hätte er darum gegeben, wenn die letzten Augenblicke nicht gewesen wären! Wieder fühlte er den dumpfen Schmerz, aber stärker, immer stärker. Er trat in die Zimmer, die Lampe brannte noch, die Scherben der Rumflasche lagen noch um das Sofa, das Quecksilber des Spiegels glänzte auf dem Boden wie silberne Taler. Veitel setzte sich erschöpft auf einen[788] Stuhl und sah starr auf die glänzenden Trümmer seines Spiegels. Dabei fiel ihm ein, daß oft seine Mutter eine Kindergeschichte erzählt hatte, in welcher silberne Taler auf die Dielen eines armen Mannes fallen. Er sah die alte Judenfrau am Herde sitzen und sich als kleinen Jungen daneben. Er sah sich selbst neugierig auf die schwarze Erde blicken und erwarten, ob die weißen Taler nicht auch vor ihm niederfallen würden. Jetzt wußte er, bei ihm in der Stube sah es gerade so aus, als hätte es silberne Taler geregnet. Er fühlte wieder etwas von dem unruhigen Entzücken, das er als kleiner Veitel bei dieser Erzählung der Mutter gehabt hatte, und mitten in dieser Erinnerung kam plötzlich wieder der dumpfe Druck, den er in seinem Innern merkte, er wußte nicht wo. Schwerfällig stand er auf, kauerte auf dem Boden und suchte die Glassplitter zusammen. Die Splitter trug er in die Ecke eines Schranks, den Rahmen des Spiegels löste er von der Wand ab und stellte ihn verkehrt in eine Ecke. Dann nahm er die Lampe und das Glas, welches er mit Trinkwasser für die Nacht zu füllen pflegte, aber als er das Glas faßte, überlief ihn ein Fieberschauer und er setzte es wieder hin. Der, welcher nicht mehr war, hatte aus dem Glase getrunken. Er trug die Lampe zu seinem Bett und zog sich aus. Die Beinkleider versteckte er in dem Schrank und holte sich ein Paar andere herzu, deren Fußenden er an seinen Stiefeln rieb, bis sie schmutzig wurden. Darauf löschte er die Lampe aus, und als das Docht noch einmal aufflackerte, bevor es verlöschte, da fiel ihm ein, zufällig als etwas Gleichgültiges, daß die Leute die Flamme des Lichtes mit dem Leben eines Menschen vergleichen. Er hatte eine Flamme ausgedreht. Und wieder fühlte er den Schmerz in seiner Brust, aber undeutlich, seine Kraft war erschöpft, seine Nerven abgespannt, er schlief ein. Der Mörder schlief.

Aber wenn er erwacht! Dann wird die Schlauheit verloren sein, mit der sein verstörter Geist wie im Wahnwitz umhergriff nach allen kleinen Bildern und Gedanken, die er in der Finsternis auffinden konnte, um den einen Gedanken zu vermeiden, das eine Gefühl, welches von jetzt ab immer in ihm drückt und preßt. Wenn er aufwacht! Dann wird er schon im Halbschlaf fühlen, wie die Ruhe abzieht und die Angst, der Jammer wieder einziehen in seiner Seele, er wird noch im Traume fühlen, wie süß die Bewußtlosigkeit[789] ist, und wie furchtbar das Denken, er wird sich sträuben gegen das Erwachen, aber in seinem Sträuben wird ihm der Schmerz immer stärker kommen, immer nagender. Bis er in Verzweiflung die Augen aufreißt und hineinstarrt in die gräßliche Gegenwart, in eine gräßliche Zukunft.

Und wieder wird sein Geist anfangen, die Spukgestalt mit feinen Fäden zu überziehen, und alle möglichen Gründe wird er zusammentragen, sich das Ungeheuer unkenntlich zu machen, er wird daran denken, wie alt der Tote war, wie schlecht, wie elend, er wird sich vorzustellen suchen, daß es nur ein Zufall war, der den Tod herbeiführte, ein Schwung seiner Arme, den plötzliche Wut verursacht, welch unglücklicher Zufall es war, daß der Alte mit seinen Füßen nicht festen Grund gefunden! Dann wird ihm plötzlich einfallen, ob er auch sicher sei, und eine heiße Fieberangst wird sein bleiches Gesicht rot färben, der Tritt des Dieners auf der Treppe wird ihm Entsetzen einjagen, das Klirren einer Eisenstange auf den Steinen des Hofes wird er für das Getöse der Waffen halten, welche das Gesetz gegen ihn ausschickt. Und wieder wird sein Geist arbeiten, während er verstört im Zimmer auf und ab rennt, er wird jeden Schritt, den er gestern tat, jede Bewegung der Hand und jedes Wort, das er gesprochen, noch einmal durchleben, und wird bei jedem einzelnen, was geschehen ist, zu beweisen suchen, daß es unmöglich entdeckt werden kann. Niemand hat ihn gesehen, niemand gehört, der traurige alte Mann, halb verrückt, wie er war, hat sich selbst den Hut über die Augen gezogen und hat sich selbst ersäuft.

So wird er auch von dieser Seite um die Gestalt des alten Mannes seine Fäden ziehen. Und immer fühlt er die furchtbare Last, bis er endlich erschöpft von dem inneren Kampfe sich herausstürzt aus seiner Wohnung, in seine Geschäfte, unter die Menschen, voll Sehnsucht, etwas zu finden, was ihn vergessen macht. Wer ihn auf der Straße ansieht, der wird ihn quälen, wenn er einen Beamten der Polizei erblickt, muß er schnell in ein Haus treten, um seinen Schreck vor den spähenden Augen zu verbergen. Wo er Menschen findet, die er kennt, wird er sich in den dicksten Haufen drängen, er wird überall den Kopf hinhalten, an allem teilnehmen, er wird mehr sprechen und lachen als sonst, aber seine Augen werden unruhig umherirren, und seine Seele wird[790] in beständiger Furcht sein, etwas zu hören von dem Getöteten, und wie die Leute über den plötzlichen Tod desselben denken. Er täuscht seine Bekannten, sie werden ihn vielleicht für besonders aufgeweckt halten, und zuweilen sagt einer: »Der Itzig ist guter Dinge, er hat große Geschäfte gemacht.« Er wird sich an manchen Arm hängen, den er sonst nicht berührt, und wird den Leuten lustige Geschichten erzählen und sie nach Hause begleiten, weil er weiß, daß er nicht allein sein kann. Er wird in die Kaffeehäuser eilen und in die Bierstuben, um Bekannte aufzusuchen, und wird sich zu ihnen setzen und wird trinken und aufgeregt werden, wie sie, weil er weiß, daß er nicht allein sein darf.

Und wenn er am Abend spät nach Hause kommt, ermüdet bis zum Umsinken, erschlafft und abgearbeitet von dem furchtbaren Kampfe: dann fühlt er sich leichter, er hat durchgesetzt, das, was in ihm ist, undeutlich zu machen, und er findet ein trübes Behagen an der Mattigkeit und der Bewußtlosigkeit, und erwartet den Schlaf, als das einzige Glück, was er auf Erden noch hat. Und wieder wird er einschlafen, und wenn er am nächsten Morgen erwacht, werden alle die Spinneweben zerrissen sein, und von neuem wird die furchtbare Arbeit beginnen. So soll es gehen einen Tag, viele Tage, immer, solange er lebt. Nicht mehr lebt er, wie andere Menschen, sein Dasein ist fortan ein Kampf, ein gräßlicher Kampf gegen einen Leichnam, ein Kampf, den niemand sieht, und der doch allein seinen Geist beschäftigt. Was er tut, in seinem Geschäft, in Gesellschaft mit Lebenden, ist nur ein Schein, eine Lüge. Wenn er lacht und wenn er anderen die Hand schüttelt, und wenn er auf Pfänder leiht und fünfzig vom Hundert nimmt, alles ist nur eine Täuschung für andere. Er weiß, daß er ausgeschieden ist aus der Gesellschaft der Menschen, daß alles leer und verächtlich ist, was er angreift; nur eines ist es, was ihn beschäftigt, wogegen er arbeitet, weshalb er trinkt und schwatzt und sich unter Menschen umher treibt, und das eine ist der Leichnam des alten Mannes im Wasser.[791]

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 780-792.
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