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[258] Das Haus von T.O. Schröter hatte einen Tag im Jahre, an dem es sich unabänderlich dem Vergnügen ergab. Dies geschah zur Erinnerung an die Stunde, in welcher Herr Schröter als Teilhaber in das Geschäft seines Vaters eingetreten war. Wenn dieser Tag durch die Tücke der Kalendermacher unter die Wochentage gesetzt wurde (und es war sechs gegen eins zu wetten, daß sie dem Geschäft den Possen spielten), so wurde das Fest am nächsten Sonntag gefeiert. Es war keine Festfeier, welche übermäßig aufregte, sie hatte einen ruhigen regelmäßigen Verlauf und einen leisen Anflug von Geschäftlichkeit. Zuerst war großes Diner des Comtoirs beim Prinzipal, dann fuhr die Gesellschaft nach einem nahe gelegenen Dorfe, wo der Kaufmann ein Landhaus besaß, und eine Anzahl öffentlicher Gärten und Sommerkonzerte die Stadtbewohner anzog. Dort wurde Kaffee getrunken, Natur genossen, und am Abend zur Bürgerstunde nach der Stadt zurückgefahren.

In diesem Jahr feierte der Kaufmann das fünfundzwanzigjährige Jubiläum seines Eintritts. Schon am Morgen gratulierten[258] Deputationen der Auflader und Hausknechte, an der Mittagstafel waren heut die Kollegen im höchsten Staat versammelt, Herr Liebold in einem neuen Frack, den er, wie alle Prachtstücke seiner Garderobe, seit vielen Jahren an diesem Fest zum erstenmal trug.

Nach dem Mittagessen fuhren einige Wagen vor das Haus, die Gesellschaft ins Freie zu schaffen. Herr Schröter stieg mit Sabine in den ersten Wagen, und da die Tante als Krankenpflegerin einer Verwandten abwesend war, sah sich der Prinzipal unter den Herren um, welche massenhaft um den Wagen standen und das Einsteigen Sabinens durch heftige Dienstbeflissenheit wenigstens moralisch unterstützten. Fink saß bereits auf seinem Reitpferd, und so rief der Prinzipal Herrn Liebold und Herrn Jordan auf den Rücksitz des Staatswagens. Beide Herren verneigten sich, Herr Liebold nahm mit feierlichem Lächeln gegenüber dem Fräulein Platz. Ach, aber seine Freude war nicht ohne den Bodensatz heimlicher Angst. Es war allen Kollegen wohlbekannt und ihm am besten, daß er das Rückwärtsfahren durchaus nicht vertragen konnte. Nie hatte er nach Ehrenplätzen gestrebt, sein ganzes Leben durch war er auf der Rückseite von Fortunas Karosse fortgeschafft worden, aber in einem gewöhnlichen Wagen empörte sich augenblicklich sein ganzes Innere, wenn er nicht vornehm im Fond saß. Auch heut sah er das Unglück kommen, gerade heut, wo er der angebeteten Herrin des Hauses gegenübersaß. Wie gern hätte er seinen Platz geopfert, aber das war unmöglich, die Ehre war zu groß, und seine Weigerung wäre ihm falsch ausgelegt worden. So saß er als Märtyrer, auf das Ärgste gefaßt, dem Fräulein gegenüber, er versuchte vergebens unbefangen auszusehen und auf die Seite zu blicken, wo Häuser und Bäume, Menschen und Hunde bei ihm vorbeitanzten. Dies fürchterliche Tanzen kannte er, das war immer der Anfang. Er mußte also gerade vor sich hin sehen, und da es unpassend gewesen wäre, dem Fräulein ins Gesicht zu blicken, so starrte er über sie weg. Noch lächelte sein Mund, aber sein Auge sah stier und seine Wangen wurden blaß, blutlos, erdfarben. Jordan sah ihn von der Seite an und konnte das Lachen nicht verbergen. Das brachte Sabine zu der besorgten Frage: »Fehlt Ihnen etwas, Herr Liebold?« Da Liebold die Augen nicht vom Himmel wegwenden[259] durfte, so bohrte er sie an einer ruhigen Wolke fest und murmelte die Versicherung, daß ihm sehr wohl sei. Dabei erhielt sein Gesicht aber den Ausdruck stumpfer Verzweiflung, so daß Sabine sich ängstlich an Herrn Jordan wandte.

»Er kann nicht vertragen rückwärts zu sitzen«, sagte dieser.

»Dann wechseln wir die Plätze«, rief Sabine. Herr Liebold schüttelte erschrocken den Kopf und machte schweigend allerlei Bewegungen, um seinen Abscheu gegen eine solche Zumutung auszudrücken. »Bitte, Herr Jordan, lassen Sie den Kutscher halten«, rief Sabine. Der Wagen stand, das Fräulein erhob sich: »Schnell, Herr Liebold«, rief sie. Dieser versuchte noch zu protestieren, aber Jordan rückte ihn kräftig in die Höhe, und ehe er wußte, wie ihm geschah, saß er im Fond, und das Fräulein ihm gegenüber auf dem Rücksitz. Die Spannung in seinen Zügen ließ nach, eine feine Röte zog verklärend über sein Gesicht. Aber in welcher Lage war er! Was mußten die Vorübergehenden von ihm und seiner Stellung zum Hause denken! Fremde konnten ihn für den Onkel der Dame halten, aber jeder, der sie kannte, – und wer kannte die schöne Sabine Schröter nicht? – der mußte auf die abenteuerlichsten Gedanken kommen. Daß er mit ihr verlobt sei, war noch viel zu wenig, als Verlobter hätte er nicht im Fond sitzen dürfen, nein, er saß da, wie mit ihr verheiratet. Der Gedanke trieb ihm den Schweiß aus allen Poren, er sah demütig auf das Fräulein und bat sie mit leiser Stimme um Verzeihung wegen des Skandals, den er verursache. Sabine streckte zur Antwort ihre Hand aus und schüttelte ihm die seine kräftig. Da übermannte ihn die Freude, er beugte sich schon ein wenig herab, in der kühnen Absicht, ihr den Handschuh zu küssen. Und in demselben Augenblick fuhren sie bei dem Buchhalter von Strumpf und Kniesohl vorüber, Herr Liebold schnellte stracks in die Höh, jetzt war das Unglück geschehen, Sabine und er waren das Opfer eines unerhörten Irrtums. Es war unnütz, noch gegen das Schicksal anzukämpfen. Er saß fortan verklärt und still selig, bis die Wagen vor der großen Restauration des Dorfes anhielten. Man stieg aus, die Herren sammelten sich um das seidene Gewand ihres Fräuleins, rauschende Musik scholl ihnen entgegen, sie traten in die Buchengänge des geschmückten Gartens, welcher heut mit den glänzenden Toiletten der Städter angefüllt war.[260]

Sabine schwebte in einer Wolke von Herren dahin. Es ist möglich, daß dieser wandelnde Hof mancher Mitschwester größere Freude gemacht haben würde, als ihr. Jedenfalls sah es stattlich aus, als sie am Arm des Bruders durch die Gänge schritt, auf beiden Seiten und hinter ihr diensteifrige Herren, alle bemüht, sich mit ihr als dem Mittelpunkt in Verbindung zu halten, zumal heut, wo das Haus in Masse unter der Fashion der Stadt auftrat, und jeder einzelne als Mitglied des berühmten Geschäfts zu repräsentieren hatte. Liebold war in einem beständigen Lächeln begriffen, welches er auf der Außenseite seines Gesichts allerdings zu bewältigen suchte, um bei den Vorübergehenden nicht den Argwohn zu erregen, daß er sie auslache. Aber um so stärker arbeitete es in seinem Innern und fuhr zuweilen im gleichgültigen Gespräch wie ein Wetterleuchten über sein Gesicht, dehnte ihm plötzlich Nase und Mund aus, und machte die Augen klein und glänzend. Er trug heut als Bevorzugter den Schal des Fräuleins, schritt in angemessener Entfernung hinter ihr her und bezeichnete so die zweite von den Linien, welche die Firma heut im grünen Hauptbuch der Natur einnahm. Durch eine kühne Handbewegung hatte sich Herr Specht in Besitz des Sonnenschirms gesetzt und umgab mit diesem Sabine von allen Seiten, in der Regel marschierte er wie ein Fähnrich voran am Rand des Gehölzes. Mit verlangendem Blick sah er in das Gebüsch, ob ihm nicht eine auffallende Blume oder ein Schmetterling Veranlassung geben könnten, mit dem Fräulein eine Unterhaltung anzufangen. Jedenfalls war das nicht leicht, denn Fink ging neben ihr. Dieser war heut in boshafter Stimmung, und wider Willen lachte Sabine über die unbarmherzigen Glossen, welche er auffallenden Gestalten unter den Spaziergängern gönnte. Auch den massenhaften Aufmarsch der Firma machte er lächerlich, aber er selbst verschmähte nicht, etwas von dem exklusiven Stolz der Handlung zu empfinden.

Um sie herum zogen, trippelten und rauschten die Schwärme der Lustwandelnden. Es war ein unaufhörliches Anstarren, Grüßen, Ausweichen, der Kaufmann mußte immer wieder nach dem Hut greifen, und sooft er grüßte, gerieten die vierzehn Hüte der Kollegen ebenfalls in Bewegung und erregten in der Luft zahlreiche kleine Wirbelwinde. Das machte einen großartigen Eindruck.[261]

Als die Hausgenossen einige Zeit in der Strömung fortgeschwommen waren, äußerte Sabine den Wunsch auszuruhen. Sogleich flogen Tirailleure der Herren unter die Bankreihen und belegten einen Tisch. Man nahm Platz, die Kellner schleppten eine riesige Kaffeekanne mit der entsprechenden Anzahl Tassen herbei. Jetzt war eine Freude, der Handlung zuzusehen, wie jeder der Herren bemüht war, dem Fräulein das Eingießen abzunehmen, weil die Kanne für sie zu schwer war, wie Sabine sich Anton zum Adjutanten erwählte, weil er auch im Salon der Kollegen das Geschäft des Eingießens verrichtete, wie die Kollegen sich freuten, daß man im Vorderhause auch das von ihnen wußte, ferner, wie verbindlich Sabine jedem der Herrn den Kuchen präsentierte, und wie sie immer ein Auge darauf hatte, daß die Zuckerschale und der Sahnetopf in ihrem Laufe um den Tisch nicht unterbrochen wurde, und endlich, wie alle Kollegen den braunen Trank des Wirts mit der stillen Überlegenheit von Leuten einnahmen, welche besser wissen, was guter Kaffee ist. Es war kein ruhiger Sitz, und Sabine hatte viel zu tun, die vorbeiziehenden Bekannten zu grüßen und den Freunden des Bruders, welche an sie herantraten, Rede zu stehn. Sie war allerliebst in dieser unaufhörlichen Bewegung. Mit einer ruhigen hausmütterlichen Haltung sprach sie mit den Herren vom Comtoir, und mit einfacher Herzlichkeit erhob sie sich und bewillkommnete die Herantretenden. Sie grüßte, scherzte und waltete über dem Kaffeebrett, sie sah auf die Spaziergänger und hatte noch Zeit, prüfende Blicke in das Innere der Tassen zu werfen, welche sie Anton zureichte. Anton und Fink, beide empfanden, wie gut ihr das sichere Wesen stand, und Fink sagte ihr das: »Wenn dies ein Tag der Erholung ist, Fräulein Sabine, so beneide ich Sie nicht um Ihre Arbeitstage. Keine Prinzeß hat im Empfangssaal so viele Rücksichten zu nehmen, soviel mit dem Kopf zu nicken, zu lächeln und Artiges zu sagen, als Sie. Es geht vortrefflich, Sie haben das jedenfalls einstudiert. Da kommt der Bürgermeister selbst, er wird Sie sogleich anreden. Jetzt tun Sie mir leid, mit dem Ohr sollen Sie auf mich hören, in der Hand halten Sie Liebolds Tasse und mit den Augen müssen Sie achtungsvoll den Großwürdenträger empfangen. Ich bin neugierig, ob Sie noch meine Worte verstehen.«

»Nehmen Sie nur den Käfer aus Ihrer Tasse, ich werde Ihnen[262] sogleich eingießen«, sagte Sabine lachend und stand auf, den Bekannten des Hauses zu begrüßen.

Unterdes belustigte sich Anton, die Urteile der Vorübergehenden über seine Gesellschaft zu erlauschen. »Da ist Herr von Fink«, wisperte eine junge Dame ihrer Begleiterin zu. »Ein nettes Gesicht, famose Taille«, schnarrte ein Leutnant. »Was ist ein Fisch unter so viele Hungrige?« brummte ein Ruchloser. »Still, das sind die von Schröters«, stieß ein Kommis den andern an. Als er so aufblickte, sah er zwei hohe üppige Gestalten langsam heranziehn. Es waren Dame Ehrenthal und Rosalie, Rosalie ging auf der Seite des Tisches. Ihr Gesicht überzog sich langsam mit einer dunkeln Röte, als sie in dem Gedränge dicht an seinem und Finks Platz vorüberkam. Unruhig sah er auf Fink, der wieder in lebhaftem Gespräch mit Sabine doch Augen genug hatte, die Nahenden zu bemerken. Anton erhob sich grüßend, der unerschütterliche Fink griff nachlässig an seinen Hut und blickte von seinem Sitze so kalt auf die beiden Frauen, als hätte er nie die Armbänder an dem weißen Arm der schönen Rosalie bewundert. Der Gruß Antons, die auffallende Schönheit Rosaliens, vielleicht einiges Auffallende ihrer Toilette bewirkten, daß auch Sabine die beiden Frauen aufmerksam ansah.

Die Tochter Ehrenthals achtete nicht auf Antons Gruß, ihre dunkeln Augen hefteten sich fest auf Sabine. Ein Flammenblitz voll Haß und Zorn fiel auf das Mädchen, welches sie für ihre glückliche Nebenbuhlerin hielt, so daß Sabine sich erschrocken zurückbeugte, wie um dem Anfall eines Raubtieres zu entgehen.

Mit zusammengepreßten Lippen, unsäglichen Widerwillen auf allen Zügen fuhr Rosalie vorüber. Finks Lippen kräuselten sich und er zog seine Schultern ein wenig in die Höhe. Als die Frauen vorüber waren, sah Sabine erstaunt auf Anton und Fink, und frug: »Wer war das?«

»Eine von den Bekanntschaften Antons«, sprach Fink höhnend.

»Madame Ehrenthal und ihre Tochter«, erwiderte Anton verlegen, »die junge Dame ist die Schwester des Gelehrten, von dem ich Ihnen neulich erzählt habe.« Aber unwillkürlich sah er auf Fink, während er sprach, und beide tauschten einen finstern Blick miteinander aus.[263]

Sabine schwieg und rückte sich auf ihrer Bank zurück, ihre frohe Laune war dahin. Die Unterhaltung kam nicht mehr in Fluß, und als der Bruder von einem Besuch bei dem nächsten Tisch zurückkehrte, erhob sich das Fräulein und lud die Herren ein, nach ihrem Garten zu kommen. Von neuem zog sie mit ihrer Wolke dahin, aber Fink ging nicht mehr an der Seite des Fräuleins. Der glühende Blick voll Haß hatte die grünen Ranken versengt, welche sich wieder von ihr zu ihm gezogen hatten. Sabine wandte sich zu Anton und sprach mit diesem; sie mühte sich, heiter zu sein, aber Anton merkte ihr den Zwang an.

Der große Garten des Kaufmanns mit einem hübschen Gartenhaus und Glashäusern war ein Lieblingsaufenthalt Sabinens. Sommer und Winter fuhr sie hinaus, wenn das Wetter es irgend erlaubte, und besprach mit dem Gärtner alle Einzelheiten der Einrichtung und Blumenzucht. Die Kollegen bestürmten sie daher mit Fragen über Namen und Charakter ihrer Blumen; und während der Kaufmann mit Fink ein benachbartes Grundstück betrachtete, das ihm zum Kauf angeboten war, zeigte Sabine der übrigen Gesellschaft, was sie in der letzten Zeit angelegt hatte. Sie führte die Herren durch die Blumen, die Rasenstücke, in das Warmhaus. Der Bruder hatte ihr eine hohe Palme geschenkt, und die Palme, große Pisangblätter, tropische Farren und blühende Kakteen waren in eine Gruppe zusammengestellt, eine zierliche Bank und ein Tisch standen davor, es war ein allerliebster Wintergarten. Während Sabine erzählte, daß sie hier an sonnigen Wintertagen den Kaffee trinke, und wie schön es sich dann unter den großen Blättern sitze, brachte ihr der Gärtner auf einem Teller Kuchenbrocken und Vogelfutter. »Auch wenn ich nicht so große Begleitung habe, bin ich hier nicht allein«, sagte sie lächelnd.

»Wir bitten, stellen Sie uns den Vögeln vor«, rief Anton.

»Sie müssen aber in das Gartenhaus treten und hübsch still sein«, bat Sabine, »das kleine Volk kennt zwar mich, aber die vielen Herren würden ihm doch Schrecken einjagen.«

Die Kollegen zogen nach dem Gartenhaus. Pix lenkte den aufgeregten Specht am hintersten Rockknopf zurück und drehte die Glastür herum, Sabine streute das Futter einige Schritt von der Tür auf den Kies und schlug in die Hände. Dem Klatschen antwortete[264] mehrstimmiger Ruf von den nächsten Bäumen und dem Dach des Hauses. Eine Menge kleiner Vögel schoß herzu und hüpfte mit lustigem Geschrei um die Krumen, sie waren so zahm, daß sie bis an die Füße Sabinens herankamen. Es war keine vornehme Gesellschaft, einige Finken, Hänflinge und ein ganzes Volk Spatzen. Sabine trat leise zur Tür und fragte durch den Spalt: »Können Sie die einzelnen unterscheiden? So ähnlich auch die Herrschaften einander sehen, sie sind doch verschieden, nicht nur im Kleide, auch in ihrem Wesen. Mehrere davon kenne ich persönlich.« Sie wies auf einen großen Sperling, ein schönes Männchen mit schwarzem Kopf und feurigem Braun auf dem Rücken: »Sehen Sie den dicken Herrn dort?«

»Er ist der größte von allen«, sagte Anton erfreut.

»Er ist mein ältester Bekannter, er hat sich zuerst an mich gewöhnt, von meinem Kuchen ist er so stark geworden. Er ist ausgefüttert und satt. Wie sicher er umherhüpft, und wie vornehm er in die Brocken pickt! Gleich einem reichen Bankier geht er unter den andern umher. Hören Sie ihn schreien? Seine Stimme klingt wegwerfend und aristokratisch. Er betrachtet dies Ausstreuen als eine Verpflichtung, welche die Welt gegen ihn hat. Da kräht er wieder. Wissen Sie, was er sagt: Mein Kuchenmädel ist da. Dies ewige Gebäck! Was ich nicht aufessen kann, will ich den andern lassen. Ich glaube, es hängt ihm eine Berlocke an seinem kleinen Bauch herunter.«

»Es ist eine Feder«, flüsterte Herr Specht.

»Ja«, fuhr Sabine fort, »ich fürchte, die hat ihm seine Frau ausgehackt. Denn, so gewichtig er aussieht, er steht unter dem Pantoffel. Das graue Weibchen dort, das hellste von allen, ist seine Frau. Sehen Sie, daß sie ihn weghackt?«

Ein lebhafter Zank unter den Sperlingsleuten begann. Der Bankier, welcher gerade vornehm in einen ungewöhnlich großen Brocken pickte, bekam von seiner Frau einige Hiebe mit dem Schnabel; er fing an zu räsonieren, die Nachbarn flogen herzu, ein heftiges Geschrei begann, der allgemeine Unwille war gegen den Bankier gerichtet. Er wurde aus dem Haufen beiseite gejagt und hüpfte zerzaust, mit dem Kopfe schüttelnd, einige Schritt vor den Brocken auf und ab, während seine Frau über dem eroberten Bissen stand und laut triumphierte.[265]

Die Herren lachten.

»Jetzt kommt mein Kleiner, mein Liebling, jetzt merken Sie auf!« rief Sabine freudig. Unbehilflich, mit ausgebreiteten Flügeln tappte ein kleiner Sperling heran, ganz wie ein Kind, welches Mühe hat, im Gehen das Gleichgewicht zu behaupten. Er flatterte neben die Sperlingsfrau, sperrte den Schnabel weit auf, schrie und schlug mit den Flügeln auf die Erde. Die Mutter zerhackte den großen Bissen, faßte die Teile und steckte sie in den aufgesperrten Schnabel des Kleinen. Mitten unter der schwirrenden, tanzenden, hackenden Gesellschaft fütterte die Mutter den Schreihals. Ein Stück des eroberten Bissens nach dem andern steckte sie ihm in den Hals, während der Vater einige Schritt davon selbstgefällig auf und ab schritt und zuweilen von der Seite mißtrauisch auf die energische Hausfrau hinblickte.

»Wie allerliebst!« rief Anton.

»Nicht wahr? « sagte Sabine. »Auch bei den Kleinen sind Charaktere und ein Familienleben.«

Aber die Szene wurde auf gewaltsame Weise unterbrochen. Ein leichter Schritt kam um das Haus, die Vögel flatterten auf, nur die Mutter und das Junge waren so eifrig beschäftigt, daß sie zögerten. Endlich flog auch die Sperlingsfrau auf den Baum und rief ängstlich ihr Kind. Aber der Kleine, vom genossenen Kuchen schwer und betäubt durch die Fülle des Genusses, vermochte nicht so schnell die schwachen Flügel zu heben. Ein Schmiß von der Reitpeitsche Finks erreichte ihn, der Körper flog als Leiche in die Blumen. Ein zorniger Ruf von sämtlichen Herren wurde gehört, und finster blickten alle Gesichter des Comtoirs auf den Mörder. Fink, der auf die Gruppe an der Salontür nicht geachtet hatte, sah verwundert auf den Sturm, der gegen ihn hereinbrach. Sabine eilte an ihm vorbei nach dem Beet, auf dem der Vogel lag, ergriff diesen, küßte den kleinen Kopf und sprach mit klangloser Stimme: »Er ist tot.« Sie setzte sich auf die Bank an der Türe und deckte ihr Taschentuch über den Toten.

Ein unbequemes Stillschweigen folgte. »Es war der Lieblingsvogel von Fräulein Sabine, den Sie erschlagen haben«, sagte endlich Herr Jordan vorwurfsvoll.

»Das tut mir leid«, erwiderte Fink und rückte sich einen Stuhl zum Tisch. »Ich habe nicht gewußt, Fräulein, daß Sie Ihre Teilnahme[266] auch auf diese Klasse von Spitzbuben ausdehnen. Ich habe im besten Glauben gehandelt, und dachte den Dank des Hauses zu verdienen, als ich den Dieb aus der Welt schaffte.«

»Das arme Kleine«, sprach Sabine traurig, »die Mutter schreit auf dem Baum, hören Sie?«

»Sie wird sich trösten«, entgegnete Fink. »Ich halte es für unzweckmäßig, einem Sperling mehr Gemüt zu gönnen, als seine eigene Verwandtschaft hat. Aber ich weiß, Sie lieben alles, was Sie umgibt, mit Rührung und Gefühl zu betrachten.«

»Wenn Sie diese Eigenschaft nicht haben, weshalb verspotten Sie dieselbe bei andern?« fragte Sabine mit zuckendem Munde.

»Weshalb?« fragte Fink. »Weil ich dieser Gewohnheit überall begegne. Dies ewige Gefühl, mit dem hier alles überzogen wird, was des Gefühls nicht wert ist, macht zuletzt schwach und kleinlich. Wer seine Empfindung immer an allen möglichen Tand heftet, der hat zuletzt keine, wo eine große Leidenschaft seiner würdig ist.«

»Und wer nie etwas anderes tut, als mit herber Kälte zu betrachten, was ihn umgibt, wird dem zuletzt nicht auch die Empfindung fehlen, wo eine große Leidenschaft Pflicht wird?« fragte Sabine mit einem schmerzlichen Blick auf Fink.

»Es wäre unartig, wenn ich das nicht zugeben wollte«, sagte Fink achselzuckend. »Jedenfalls wird es einem Mann besser anstehen, hart zu sein, als zu weichlich.

Aber sehen Sie das Volk hier an«, fuhr er nach einer unbehaglichen Pause fort. »Das liebt seinen Strickbeutel, den Kupferkessel, in dem die Mutter Würste gekocht hat, es liebt eine zerbrochene Pfeife, einen fadenscheinigen Rock, und ebenso alle Mißbräuche, die zehntausend verrotteten Gewohnheiten seines Lebens; überall liegen phantastische Grillen, Liebhabereien und schwache Gemütlichkeiten herum und hängen sich wie Blei an die Menschen, wenn es einmal gilt, frisch vorwärts zu gehen. Achten Sie auf die deutschen Auswanderer. Welche Masse unnützen Krames schleppt dies Volk übers Wasser, alte Vogelbauer, zerbrochene Holzstühle; wurmstichige Wiegen und andern Plunder. Ich habe einen Kerl gekannt, der in brennender Sonnenhitze acht Tagereisen machte, um einmal Sauerkraut zu essen. Und wenn sich so ein armer Teufel irgendwo niedergelassen hat und nach einem[267] Jahre entdeckt, daß er in einer Fiebergegend steckt, so hat er seine ganze Umgebung mit Gemütlichkeit übersponnen wie mit Spinnweben und ist oft nicht mehr aus dem Sumpf zu bringen, und wenn er und Weib und Kind darüber zugrunde gehen.

Da lobe ich mir das, was Sie die Gemütlosigkeit des Amerikaners nennen. Er arbeitet wie zwei Deutsche, aber er wird sich nie in seine Hütte, seine Fenz, in seine Zugtiere verlieben. Was er besitzt, das hat ihm gerade nur den Wert, der sich in Dollars ausdrücken läßt. Sehr gemein, werden Sie mit Abscheu sagen. Ich lobe mir diese Gemeinheit, die jeden Augenblick daran denkt, wie viel und wie wenig ein Ding wert ist. Denn diese Gemeinheit hat einen mächtigen freien Staat geschaffen. Hätten nur Deutsche in Amerika gewohnt, sie tränken noch jetzt ihre Zichorie statt Kaffee unter der Steuer, die ihnen eine gemütliche Regierung von Europa aus auflegen würde.«

»Und fordern Sie von einer Frau denselben Sinn?« fragte Sabine.

»In der Hauptsache, ja«, erwiderte Fink. »Keine deutsche Hausfrau, die nicht in ihre Servietten verliebt ist. Je mehr eine von den Lappen hat, desto glücklicher ist sie. Ich glaube, sie taxieren einander in der Stille, wie wir die Leute an der Börse: fünfhundert, achthundert Servietten schwer. Die Amerikanerin ist kein schlechteres Weib, als die Deutsche, aber sie wird über eine solche Liebhaberei lachen. Sie hat, soviel ihr für den täglichen Gebrauch nötig sind, und kauft neue, wenn die alten zugrunde gehen. Wozu sein Herz an solchen Tand hängen, der dutzendweise für etwa vier bis sechs Taler in jeder Straße zu haben ist?«

»O es ist traurig, das Leben in ein solches Rechenexempel aufzulösen!« erwiderte Sabine. »Was man erwirbt und was man hat, verliert seinen besten Schmuck. Töten Sie die Phantasie und unsere gute Laune, die auch den leblosen Dingen ihre freundlichen Farben verleiht, was bleibt dann dem Leben des Menschen? Nichts bleibt, als der betäubende Genuß, oder ein egoistisches Prinzip, dem er alles opfert. Treue, Hingebung, die Freude an dem, was man schafft, das alles geht dann verloren. Wer so farblos denkt, der kann vielleicht groß handeln, aber sein Leben wird weder schön, noch freudenreich, noch ein Segen für andere.« Unwillkürlich[268] faltete sie die Hände und warf einen Blick voll Trauer auf Fink, dessen Gesicht einen trotzigen und harten Ausdruck erhielt.

Die Kollegen hatten bis jetzt der Unterhaltung in düsterem Schweigen zugehört und nur durch Mimik ihren Abscheu gegen Finks Behauptungen ausgedrückt. Der Geist des gemordeten Sperlings hob sich vor aller Augen fortwährend über die Tischplatte neben Finks Stuhl, und sie starrten auf den Macbeth des Comtoirs wie auf einen verlorenen Mann. Anton ergriff begütigend das Wort:

»Vor allem muß ich bemerken, daß Fink selbst ein glänzendes Beispiel gegen seine eigene Theorie ist.«

»Wieso, Herr?« fragte Fink, von der Seite auf Anton sehend.

»Das wird sogleich offenbar werden, ich will nur erst uns alle zusammen loben. Wir alle, die wir hier sitzen und stehen, sind Arbeiter in einem Geschäft, das nicht uns gehört. Und jeder unter uns verrichtet seine Arbeit in der deutschen Weise, die du soeben verurteilt hast. Keinem von uns fällt ein zu denken, so und soviel Taler erhalte ich von der Firma, folglich ist mir die Firma so und soviel wert. Was etwa gewonnen wird durch die Arbeit, bei der wir geholfen, das freut auch uns und erfüllt uns mit Stolz. Und wenn die Handlung einen Verlust erlitten hat, so ist es allen Herren ärgerlich, vielleicht mehr, als dem Prinzipal. Wenn Liebold seine Ziffern ins große Buch schreibt, so sieht er sie mit Genuß an und freut sich über den schönen kalligraphischen Zug, und wenn er Posten einträgt, welche der Handlung besonders vorteilhaft waren, so lacht er in der Stille vor Behagen. Sehen Sie ihn an, wie er's jetzt tut.«

Liebold sah verlegen aus und rückte an seinem Hemdkragen.

»– Da ist ferner Kollege Baumann, welcher in der Stille Neigung zu einem andern Beruf hat. Er brachte mir neulich einen Bericht über die Greuel des Heidentums an der afrikanischen Küste und sagte in tiefster Seele erschüttert: ›Es wird Zeit, Wohlfart, ich muß hin.‹ ›Wer soll die Kalkulatur besorgen?‹ frug ich, ›und wie soll es mit dem Krappgeschäft werden, das Sie und Balbus so festhalten, daß sie keinen andern darüber lassen?‹ ›Ja‹, rief Baumann, ›an den Krapp hatte ich nicht gedacht. Ich muß es noch aufschieben.‹ «[269] Die Herren sahen lächelnd auf Baumann, der leise vor sich hin sagte: »Es ist auch unrecht.«

»– Und von dem Tyrannen Pix will ich gar nicht sprechen, da er selbst in vielen Stunden zweifelhaft ist, ob die Handlung ihm gehört oder Herrn Schröter.«

Alle lachten. Herr Pix steckte wie Napoleon die Hand in seine Brusttasche. – »Du bist ein perfider Advokat«, sagte Fink, »du regst persönliche Interessen auf.«

»Du hast dasselbe getan«, erwiderte Anton. »Und jetzt will ich von dir reden. Vor etwa einem halben Jahre ist dieser Amerikaner zu Herrn Schröter gegangen und hat ihm gesagt: Ich wünsche nicht mehr Volontär zu sein, ich bitte um eine feste Stellung im Geschäft. Warum? fragte Herr Schröter. Natürlich hatte Fink nur die Absicht, so und soviel Taler festes Gehalt von der Handlung zu beziehen.« Wieder lächelten alle und sahen auf Fink; aber die Blicke waren nicht mehr feindlich, es war etwas von Achtung und fröhlicher Billigung darin, denn es war allen bekannt, daß Fink gesagt hatte: »Ich wünsche einen regelmäßigen Anteil an der Arbeit, ich wünsche die Verantwortung, welche bei fester Tätigkeit ist; die Arbeit in meiner Branche macht mir Freude.«

»Und ferner«, fuhr Anton fort, »wer einmal das Behagen gesehen hat, mit welchem Fink den Schmeie Tinkeles behandelt, der weiß, wieviel von dem schwächlichen deutschen Gemüt auch bei ihm zutage kommt. Es ist so viel drollige Laune in seinem Wesen, daß das Comtoir durch solche Stunden entzückt wird, und, was die Hauptsache ist, Tinkeles selbst ist geradezu in ihn verliebt.«

»Weil er malträtiert wird, Herr«, versetzte Fink.

»Nein, sondern weil er hinter deinen kräftigen Worten dasselbe behagliche Wohlwollen bemerkt, mit dem ein anderer sein Hündchen oder seine Vögel liebkost. – Und wenn irgendein Geschäft des Prinzipals glänzenden Erfolg gehabt hat, so ist niemand von uns fröhlicher darüber, als Fink selbst. Neulich, als die Krisis im Zinkgeschäft eintrat und Herr Schröter gegen die stille Ansicht des ganzen Comtoirs, auch gegen Finks Ansicht, noch zu rechter Zeit in Hamburg verkauft und die Handlung dadurch vor einigen tausend Talern Verlust bewahrt hatte, da triumphierte derselbe Fink lauter, als einer von uns, und zwang Jordan und mich, denselben Abend ins Weinhaus zu gehen.«[270]

»Weil ich nicht allein trinken wollte, du Narr«, sagte Fink.

»Natürlich«, rief Anton, »deshalb stießest du auch bei dem ersten Glas auf das Wohl der Handlung an und nanntest sie eine glorreiche Firma.«

Fink sah vor sich nieder. Sabine blickte mit leuchtenden Augen auf Anton. Wieder lächelten die Herren freundlich und rückten näher heran, die kleine Spannung war behoben.

»Und«, fuhr Anton siegreich fort, »auch in andern Fällen hat er ganz dieselbe armselige Gemütlichkeit, die er jetzt so angreift. Er liebt, wie wir alle wissen, sein Pferd persönlich, es ist ihm durchaus etwas anderes, als die Summe von fünfhundert Dollar, repräsentiert durch so und soviel Zentner Fleisch mit einer Haut überzogen. Er ist besorgt um das Tier, wie um einen Freund.«

»Weil es mir Spaß macht.«

»Versteht sich«, sprach Anton, »die Servietten machen unsern Hausfrauen auch Spaß, das ist's ja eben. Und seine Kondorflügel, die Pistolen, Reitpeitschen, die rote Rumflasche, das sind alles Dinge, die ihm so gut Spaß machen, wie einem deutschen Auswanderer sein Vogelbauer. Ja er hat mehr grillige Capricen und Liebhabereien, als wir. Und es kurz zu sagen, er ist in Wahrheit ebensosehr ein armer gemütlicher Deutscher, als irgendeiner.«

Sabine schüttelte leise den Kopf, aber sie blickte jetzt freundlich auf den Amerikaner. Auch Finks Gesicht hatte sich verwandelt. Er sah ernst vor sich hin, und es lag etwas auf seinen stolzen Zügen, was man bei einem anderen Rührung genannt hätte. »Na«, begann er endlich, »das Fräulein und ich, beide haben wir zu sehr auf einer Seite gestanden.« Er wies auf den toten Sperling. »Vor diesem ernsten Fakt strecke ich die Waffen und bekenne, daß ich den Wunsch habe, der kleine Herr wäre noch am Leben und erreichte unter den Kirschen und Kuchen der Firma das höchste Greisenalter. Und so sind Sie mir nicht mehr böse, Fräulein.«

Sabine nickte zu ihm herüber und sagte herzlich: »Nein.«

»Du aber, Anton, reiche mir deine Hand. Du hast mit Glanz plädiert und von der deutschen Jury ein Nichtschuldig erschwindelt. Nimm die Feder und streiche aus unserm Kalender vierzehn Tage aus. Du verstehst mich.« Anton drückte ihm die Hand und legte den Arm um seine Schulter.[271]

Wieder war die Gesellschaft in der besten Stimmung. Herr Schröter kam heran, Zigarren wurden angezündet, jeder bestrebte sich, so unterhaltend als möglich zu sein. Herr Liebold stand auf und erbat sich von dem Fräulein und dem Prinzipal die Erlaubnis, wenn es sie nicht störe, und wenn sie an dem schönen Abend nichts Besseres vorzuschlagen hätten, in welchem Falle er ergebenst bitte, seine Worte als ungesprochen zu betrachten, so wollten er und einige Kollegen sich die Freiheit nehmen, vierstimmige Lieder zu singen. Da er seit mehreren Jahren an diesem Tage regelmäßig eine solche Mitteilung machte, und alles darauf vorbereitet war, so rief ihm Sabine zu: »Das versteht sich, Herr Liebold, wenn das Quartett fehlte, wäre die Freude nur halb.« Die Sänger holten Notenbücher herzu und rückten zusammen, Herr Specht als erster Tenor, Herr Liebold als zweiter, Herr Birnbaum und Herr Balbus als Bässe. Diese vier bildeten den musikalischen Teil des Comtoirs und hielten trotz kleiner Zwistigkeiten, welche durch ihr musikalisches Naturell hervorgerufen wurden, gegen die übrigen fest zusammen. Herr Specht krähte etwas zu laut, und Herr Liebold sang etwas zu leise, aber ihr Publikum war dankbar, und der Abend war wunderschön. Im farbigen Licht glänzten die großen Blätter des Nußbaums vor dem Gartenhause, die Grillen schwirrten und die wilden Sänger der Bäume flöteten einzelne Noten herunter, die Natur selbst flüsterte und stimmte, bis die volle Kraft der Menschenstimmen einfiel und die feinen Laute des Gartens übertönte. Dann schwiegen die Vögel, die Heimchen und Mücken, aber sooft die Sänger anhielten, klang das leise Summen der Natur wie zum Wechselgesange wieder durch. Alle hörten erfreut zu. »Wir danken, wir danken!« rief Sabine, als sie aufhörten, und klatschte in die Hände.

»Es ist eine närrische Sache«, begann Fink, »daß eine gewisse Folge von Tönen das Herz erschüttert und Tränen hervorruft auch bei Menschen, welche sonst für weiche Stimmungen abgestorben sind. Jedes Volk hat solche einfache Weisen, bei denen sich Landsleute an dem Eindruck erkennen, den die Melodie auf sie macht. Wenn die Auswanderer, von denen wir vorhin sprachen, alles verlieren, die Liebe zu ihrem Vaterlande, selbst den geläufigen Ausdruck ihrer Muttersprache, die Melodien der Heimat[272] leben unter ihnen länger, als alles andere, und mancher Narr, der in der Fremde seinen Stolz dareinsetzt, ein naturalisierter Fremder zu sein, fühlt sich plötzlich wieder deutsch, wenn er ein paar Takte singen hört, die ihm in seiner Jugend bekannt waren.«

Der Kaufmann sagte: »Sie haben recht. Wer aus seiner Heimat scheidet, ist sich selten bewußt, was er alles aufgibt; er merkt es vielleicht erst dann, wenn die Erinnerung daran eine Freude seines späteren Lebens wird. Diese Erinnerung ist wohl auch dem verwilderten Mann ein Heiligtum, das er oft selbst entehrt und verspottet, das er aber in seinen besten Augenblicken immer wieder aufsucht.«

»Mit einiger Beschämung bekenne ich, daß ich selbst von dieser Freude nur wenig empfinde«, sagte Fink. »Ich weiß nicht recht, wo ich zu Hause bin. Wenn ich die Jahre meines Lebens zusammenzähle, so habe ich freilich den größten Teil in Deutschland gelebt, aber die mächtigsten Eindrücke hat mir die Fremde gegeben. Immer hat mich das Schicksal wieder aufgegriffen, bevor ich irgendwo festgewurzelt war. Und jetzt in Deutschland fühle ich mich zuweilen fremd. Die Dialekte der Landschaften zum Beispiel sind mir fast ganz unverständlich. Ich habe zu Weihnachten immer mehr Geschenke erhalten, als mir gut waren, aber der Zauber der deutschen Weihnachtsbäume hat mich nie berührt; von den Volksliedern, die Sie so rühmen, klingen nur wenige in mein Ohr; noch heut bin ich unsicher, wann man Karpfen essen muß, und Hörner und Mohnkuchen, und ich gestehe einen entschiedenen Mangel an Empfänglichkeit für die Reize des Bleigießens und Pantoffelwerfens. – Und außer diesen Kleinigkeiten gibt es noch anderes, worin ich mich unter der deutschen Art fremd und arm fühle«, fuhr er ernster fort. »Ich weiß, daß ich zuweilen die Schonung meiner Freunde mehr als billig in Anspruch nehme. Ihrem Hause werde ich zu danken haben«, schloß er, sich gegen den Kaufmann verneigend, »wenn ich von einigen respektablen Seiten der deutschen Natur Kenntnis erhalte.«

Das war ein männliches Bekenntnis, er sprach die letzten Worte mit einem Gefühl, das selten bei ihm durchbrach. Sabine war glücklich, der Sperling war vergessen, sie rief mit überströmendem Gefühl: »Das war edel gesprochen, Herr von Fink.«[273]

Der Diener lud zum Abendessen. Im Saal des Gartenhauses war die Tafel gedeckt. Der Kaufmann nahm in der Mitte Platz, Sabine lächelte, als Fink sich neben sie setzte. »Mir gegenüber, Herr Liebold«, rief der Prinzipal. »Heut muß ich Ihr treues Gesicht vor mir sehen. Heut sind's fünfundzwanzig Jahr, daß wir miteinander in Verbindung stehn. – Herr Liebold trat wenige Wochen vor dem Tage bei uns ein, an dem ich durch meinen Vater als Associé aufgenommen wurde«, erklärte er den Jüngeren. »Und wenn ich allen Mitgliedern des Comtoirs Anerkennung schuldig bin, Ihnen bin ich die größte schuldig. Fünfundzwanzig Jahre im Geschäft, zehn Jahre beim Hauptbuch, stets ein treuer, zuverlässiger Gehilfe!« Er hielt ihm sein Glas über die Tafel entgegen: »Stoßen Sie an, mein alter Freund, solange unsere Stühle nebeneinanderstehen, nur durch eine dünne Wand getrennt, soll es zwischen uns bleiben, wie bisher, ein festes Vertrauen ohne viele Worte.«

Herr Liebold hatte die Anrede des Prinzipals stehend angehört und blieb stehen. Er wollte eine Gesundheit ausbringen, das sah jeder, aber er brachte kein lautes Wort aus seinem Munde, er hielt sein Glas in die Höhe und sah auf den Prinzipal, und seine Lippen bewegten sich ein wenig. Endlich setzte er sich schweigend wieder hin. Statt seiner erhob sich zu aller Erstaunen Fink und sprach in tiefem Ernst: »Trinken Sie mit mir auf das Wohl eines deutschen Geschäfts, wo die Arbeit eine Freude ist, wo die Ehre eine Heimat hat; hoch unser Comtoir und unser Prinzipal!«

Ein donnerndes Hoch der Kollegen folgte, Sabine stieß mit allen an, der Kaufmann kam Fink auf allen Wegen entgegen. – Der Rest des Abends war ungestörte Freude. Das Quartett sang noch ein paar lustige Trinklieder, und es war heut lange nach zehn Uhr, als die Gesellschaft in der Stadt ankam.

An der Treppe des Hinterhauses sagte Fink zu Anton: »Heut, mein Junge, darfst du nicht an meiner Stube vorbei. Es ist mir langweilig genug gewesen, dich so lange zu entbehren.« Und bis spät in die Nacht saßen die versöhnten Freunde beieinander, beide bemüht, einander zu zeigen, wie froh sie über die Versöhnung waren.

Sabine trat in ihr Zimmer. Da überreichte ihr das Mädchen ein Billett von unbekannter Hand. Ein starker Moschusgeruch und[274] die gekritzelten Züge verrieten, daß es von einer Dame kam.

»Wer hat den Brief gebracht?« fragte Sabine.

»Ein fremder Mann«, antwortete das Mädchen, »er wollte den Namen nicht nennen und sagte, Antwort sei nicht nötig.«

Sabine las: »Mein Fräulein, triumphieren Sie nicht zu früh. Sie haben durch Ihre Koketterie einen Herrn an sich gelockt, welcher gewöhnt ist, zu verführen, zu vergessen und die, welche auf seine Worte hören, unverschämt zu behandeln. Vor kurzem hat er einer anderen Geständnisse gemacht, jetzt hat er Sie betört. Er wird auch Ihnen heucheln und sie verraten.«

Das Billett hatte keine Unterschrift, es war von Rosalie.

Sabine wußte, wer die Schreiberin war. Sie hielt den Brief an die Kerze und schleuderte das brennende Papier in das Kamin. Schweigend sah sie zu, wie die lodernde Flamme kleiner wurde und verlöschte, und wie die glimmenden Punkte auf der verkohlten Fläche umherfuhren, bis auch der letzte verging. Lange stand sie da, ihr Haupt an das Gesims gelehnt, den Blick auf das Häufchen Asche gerichtet. Ohne Tränen, lautlos, hielt sie die Hand auf ihr zuckendes Herz.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 258-275.
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