14

[153] Spät am Abend kam Franzl von der Jagdhütte herunter ins Dorf. Auf den Armen trug er den Hund, den er dem Tierarzt zur Pflege übergeben sollte. Hirschmanns Befinden hatte sich bedenklich verschlimmert. Als Franzl an Meister Zauners Haus vorüberschritt, hörte er leises Kichern aus dem Garten und sah das »feine Lieserl« mit einem jungen Manne beisammenstehen, der sich in die dunklen Büsche drückte, als möchte er nicht erkannt werden. Dem Jäger war es, als sähe er die Knöpfe einer Uniform blinken. »Schau, jetzt hat sie sich wieder an Urlauber aufzwickt!«

Er hätte sein Haus auf kürzerem Weg erreichen können. Eine sehnsüchtige Hoffnung veranlaßte ihn zu weitem Umweg. Aber als er am Bruckneranwesen vorbeiging, sah er den Hofraum leer und alle ebenerdigen Fenster dunkel; nur aus dem großen Fenster der Giebelstube fiel der strahlende Schein einer Lampe, und manchmal glitt über die erleuchteten Scheiben ein schlanker Schatten, als schritte jemand unermüdlich in dem Stübchen auf und nieder. Seufzend wanderte Franzl davon.

Vor der eigenen Haustür mußte er eine Weile warten. Seine Mutter war schon schlafen gegangen. Erschrocken kam sie auf sein Klopfen und öffnete – seit ihres Mannes Tod erschrak sie immer, wenn man zu ungewohnter Stunde an ihre Tür pochte.

»Bub? Du? Jesus Maria, was is denn gschehen?«

»Nix! Gar nix! Grüß dich, Mutter!« Franzl zeigte ihr den kranken Hirschmann als Ursache seiner späten Heimkehr. Das beruhigte die Horneggerin nicht. Die scharfen Augen ihrer Sorge entdeckten den strengen Zug im Gesicht ihres Buben. Aber Franzl wußte hundert beruhigende Ausreden. Schließlich flüchtete er sich in sein Stübchen und verließ am andern Morgen vor der Dämmerung das Haus mit dem Hund auf den Armen. Er weckte den Nachbar, ließ das Bernerwägelchen einspannen und kutschierte zur Bahnstation, wo der Tierarzt wohnte. Schweren Herzens trennte Franzl sich von dem Hund, der ein jämmerliches Gewinsel begann, als er in das »Spital« gesperrt wurde und den Jäger verschwinden sah.

Um die neunte Vormittagsstunde war Franzl wieder im Dorf. Gegen elf Uhr sollte er mit den jungen Herren den Aufstieg zur Jagdhütte antreten. So blieben ihm zwei freie Stunden, die er gut benützen wollte. Diesmal schlug ihm seine Hoffnung nicht fehl.[154] Warme Freude überglänzte seine abgehetzten Züge, als er das Bruckneranwesen erreichte und Mali mit dem Netterl auf der sonnigen Hausbank sitzen sah. Schon von der Straße rief er dem Mädel einen Gruß entgegen. Mali wurde rot und nickte dem Jäger schweigend zu, als hätte ihr die Freude über die unerwartete Begegnung die Rede verschlagen. Franzl kam und reichte ihr die Hand. Mali zog ihn auf die Bank, warf einen scheuen Blick über Hof und Straße und sagte flüsternd: »Red nur gleich! Bist wieder in Ordnung mit'm Herrn Grafen? Hast ehrlich gredt?«

»Alles hab ich ihm gsagt.«

»Da muß ja alles wieder gut sein!«

»Wie man's nimmt. Ins Gsicht hat er mir freilich gsagt: ›Ich glaub dir's.‹ Aber die ganzen Tag her, bei der Jagd und in der Hütten, hab ich allweil merken müssen, daß er's richtige Zutrauen nimmer hat.«

»So was von Ungerechtigkeit! Dös gfallt mir net vom Herrn Grafen. Sonst mag er an ehrenwerter Herr sein! Aber was er mit dir für a Stückl aufführt –«

»Mußt net schelten! Mein Herr is er allweil. Die Gschicht liegt mir freilich am Buckel wie aber Zentnerstein. Aber im Grund därf ich's ihm net verübeln. Er is schon über die vierzig Jahr bei der Jagerei. Da is ihm schon oft a schlechter Kerl unterkommen, der ihn hint und vorn betrogen hat. Was die andern verschuldt haben, muß ich büßen! Und der Schipper hetzt halt. In Gotts Namen! Muß ich mich halt in Geduld fassen, bis der Graf einsieht, daß er mir unrecht tut!«

Malis Zorn begann sich zu beschwichtigen. »Franzl, du bist a guter Kerl! Aber 's Gutsein hat oft sei' Gfahr. Dös nützen die Haderlumpen aus, und der ehrliche Mensch hat 's Nachschauen.«

»Da kannst recht haben! Aber man kann sich net wenden wie der Schneider die alte Joppen. Wie der Stein fallt, so liegt er, wie der Mensch is, so bleibt er. Lassen wir die Gschicht in Ruh! Ich bin zfrieden, weil ich weiß, du meinst es gut mit mir. Dös hab ich lang schon gspürt. Und gwiß wahr, wenn ich bei dir bin –« Er verstummte mit glücklichem Lächeln und rückte näher.

Mali wurde ein wenig verlegen, aber dem kleinen Netterl schien die Annäherung des Jägers Freude zu bereiten; lange schon hatte das Kind die Händchen begehrlich nach den in Silber gefaßten Hirschgranen, Adlerklauen und Murmeltierzähnen gestreckt, die[155] an Franzls Uhrkette in dicker Quaste klunkerten; nun konnte Netterl den Gegenstand seiner Sehnsucht erhaschen und äußerte sein Vergnügen mit fröhlichem Gezappel.

»Schau nur grad dös Kindl an!« lächelte Mali. »Geh, laß ihm sei' Freud a bißl!«

»Aber freilich!« Um dem Kind das Spiel zu erleichtern, beugte Franzl sich vor; dabei war ihm der linke Arm ein bißchen hinderlich, und er mußte ihn um Malis Schultern legen. »Ja, du,« sagte er, »völlig staunen tu ich, um wieviel dös Kindl heut besser ausschaut gegen 's letztemal.«

Die Freude glänzte in Malis Augen. Und um dem Netterl die Sache recht bequem zu machen, schmiegte sie sich eng an den Jäger. »Gelt, ja? Die ganzen Nachbarsleut reden schon davon, wie dös gute Kindl völlig wieder auflebt!«

»In deiner Lieb halt, weißt!« sagte Franzl ernst. »So was is gut. Dös spürt einer gleich. So was is oft besser wie der beste Dokter. Da wird eim völlig warm in die innern Urgan, weißt, und 's ganze Leben kriegt an andern Zug. Wie a kranks Blümerl, wann d' Sonn kommt! Gelt, Netterl? So was tut wohl! Jaaaaa!« Zärtlich tätschelte er das Gesichtl des lallenden Kindes, das auf dem Schoß seiner jungen Pflegemutter immer lustiger zappelte und mit beiden Händen in dem klappernden Spielzeug wühlte. »Jaaa, Netterl, gelt? Die richtige Lieb hilft gschwinder als Meisterwurz und Hollertee!«

»Da soll's net fehlen an mir!« beteuerte Mali. »Lieb hab ich an ganzen Sack voll im Herzen, und alles gib ich her, wann's helfen kann!«

Nun saßen sie stumm und sahen lächelnd dem Spiel des Kindes zu. –

Forbeck betrat den Hofraum. Seine Stirn war bleich, dunkle Schatten lagen um seine Augen, als hätte er eine schlaflose Nacht verbracht. Beim Anblick der drei Menschen, die anzusehen waren wie eine junge, glückliche Familie, heiterte sein Gesicht sich auf. Auch der malerische Reiz des Bildes fesselte ihn, und gern begrüßte er die Gelegenheit, den Jäger, den er wiedererkannte, als Modell zu gewinnen.

Als Forbeck sich der Hausbank näherte, rückte Mali errötend zur Seite, und Franzl machte ein verdrossenes Gesicht. Auf die Bitte des Malers, ihm eine Stunde Modell zu stehen, fand der Jäger[156] nicht gleich eine Antwort. Erst als ihm Mali ermunternd zunickte, erhob er sich und sagte: »Wenn der Herr Maler an mir was z'malen findet, meintwegen. A Stündl hab ich noch Zeit!«

Forbeck und Franzl stiegen hinauf in die Giebelstube, und die Arbeit wurde sofort begonnen. Der Jäger, der an dem Bild seine Freude hatte und über die Ähnlichkeit der »lieben Konteß« nicht genug zu staunen wußte, erfaßte mit flinker Gelehrigkeit seine Aufgabe. Doch als er eine Weile in der ihm vorgeschriebenen Stellung ausgehalten hatte, ließ er die Arme sinken und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Sind Sie müde?« fragte Forbeck.

»Gott bewahr! Aber ich glaub, wir könnten die Sach a bißl besser machen. Ich denk mir freilich, daß ich wieder die Konteß so trag wie selbigsmal. Aber die richtige Kraft im Gstell käm besser aussi, wann ich was auf'm Arm hätt – was Gwichtigs! Meinen S' net auch?«

»Allerdings –«

Da rannte Franzl zur Tür und rief über die Treppe hinunter: »Mali, geh, komm gschwind a bißl auffi!«

Das Mädel erschien mit dem Netterl in der Stube. Geschäftig breitete Franzl seinen Wettermantel über die Dielen, setzte das Kind zu Boden und gab ihm die Uhrkette mit den baumelnden Schätzen als Spielzeug.

»Aber was machst denn?« stotterte Mali. »Was is denn los?«

»Paß nur auf!« lachte Franzl und hob das Mädel mit flinkem Griff auf seine Arme. »So, Herr Maler! Jetzt fangen S' an!«

Unter Lachen wollte Mali sich sträuben; aber Franzls Arme pflegten festzuhalten, was sie einmal gefaßt hatten. Und als auch Forbeck sich noch mit einem bittenden Wort ins Mittel legte, gab Mali ihren ohnehin nicht allzu energischen Widerstand auf und sagte: »Weil's der Herr Maler will, in Gottsnamen!«

Forbeck arbeitete mit stillem Eifer, während durch das Fenster die Morgensonne breit und leuchtend auf die zwei geduldigen Modelle fiel. Die beiden waren so ganz bei der Sache, daß Franzl die Elfuhrglocke und Mali die Stimmen überhörte, die sich drunten im Flur vernehmen ließen.

Die zwei älteren Kinder des Bruckner waren von der Schule heimgekehrt und auf der Straße mit dem Vater zusammengetroffen. Als der Bauer die Stube leer und in der Küche den Herd ohne[157] Feuer fand, rief er nach der Schwester. Da hörte er Lärm in der Giebelstube und eine erschrockene Männerstimme: »Mar' und Josef! Elfe vorbei! Jetzt pressiert's aber!« Droben wurde die Tür aufgerissen, hastige Schritte polterten über die Treppe herunter, und Franzl, mit Büchse und Bergstock, stürmte ohne Gruß an dem Bauer vorüber, wie ein Flüchtling.

Bruckner erblaßte. Mit bebendem Fluch stieß er die Schuhe von der Füßen und sprang über die Treppe hinauf. Droben, auf der Schwelle der offenen Tür, blieb er ratlos stehen. Er hatte gefürchtet, die Schwester allein zu finden. Nun stand sie neben dem Maler, mit dem Netterl auf den Armen, und betrachtete vergnügt die Leinwand.

»Mali! Die Kinder sind daheim!« sagte der Bauer mit schwankender Stimme, wandte sich ab und stieg wieder hinunter in den Flur. Hier wartete er. Als die Schwester kam, hing er mit finsterem Blick an ihrem Gesicht, dessen Augen in Freude leuchteten.

»Jetzt koch ich aber auf der Stell!« sagte sie und wollte an dem Bruder vorüber in die Küche.

Er vertrat ihr den Weg, und seine gedämpfte Stimme klang heiser. »Wie kommt der Jager ins Haus?«

Lachend wollte Mali Antwort geben. Als sie das bleiche, vor Erregung zuckende Gesicht des Bruders sah, verging ihr das Lachen. »Aber Lenzi? Was hast denn schon wieder?«

»Wie kommt der Jager ins Haus?«

Malis Brauen furchten sich. »Du fragst a bißl gspaßig!« Sie wurde ruhig. »Der Herr Maler droben malt den Franzl und hat ihn mit naufgnommen in d' Stub. Mich hat er auch dazu braucht. Is da was Unrechts dran?«

Bruckner strich die schwielige Hand übers Haar und wandte sich ab.

Nun hielt ihn die Schwester zurück. »Du hast's Reden angfangt, Lenzi! Jetzt reden wir die Sach amal aufs End!«

»Da is nix weiter z'reden.«

»Könnt sein, daß der Franzl amal um meintwegen käm. Hättst du da was einzwenden dagegen?«

Bruckner schwieg. Seine Augen irrten.

»Red, Lenzi! Hat der Franzl net Stellung und Dienst? Hat er net Haus und Anwesen? Und is er net a Mensch, den man gern haben muß?« Mali sah, daß der Bruder vor sich hinnickte. »No also? Was kannst einwenden?«[158]

»Frag net!« Der Bauer vermied den Blick der Schwester. »'s Reden tät net gut.«

»Es wird aber gredt sein müssen, ob heut oder an andersmal.«

Da nickte der Bauer wieder, tonlos die Worte wiederholend: »Ob heut oder an andersmal!«

»Ich sag dir's offen: er hat mich gern. Und ich bin ihm gut. Gredt hat er noch nix. Aber so viel merk ich schon: wir zwei lassen nimmer aus.«

Der Bauer starrte die Schwester an, als hätte er die Botschaft eines schweren Unglücks vernommen.

Sie meinte ihn zu verstehen. »Mußt dich net ängsten, Lenzi! Mich hast, so lang mich deine Würmerln brauchen.« Das kleine Netterl, das Mali auf den Armen trug, verlor die stille Geduld, klatschte lallend die Händchen in Malis Gesicht und drückte das winzige Näschen an die Wange des Mädels. Mali lachte, und ihre Augen wurden feucht. »Ich? Und deine Kinder verlassen? Ah na! Der Franzl und ich, wir sind zwei junge Leut, wir können warten. Aber daß wir zammwachsen amal? Dös is so gut wie fest und sicher.«

Schwer atmend schüttelte Bruckner den Kopf. »Es kann net sein!«

»So?« Mali streckte sich. »Warum net?«

Der Bauer hob das bleiche Gesicht. »So gern hast ihn? Da tust mich erbarmen, Schwester! Da geht's halt wieder, wie's in der Welt schon oft gangen is: fallt einer, reißt er die andern hinter ihm nach! – Verstehst mich net? Muß ich dir's halt sagen! Komm!«

Alle Farbe wich aus Malis Gesicht, als der Bruder sie bei der Hand faßte und in die Stube zog.

Die Sonne fiel durch die offene Haustür in den Flur, und draußen im Hof klangen die fröhlichen Stimmen der beiden Kinder, die unter den Obstbäumen das Gras durchstöberten und die Äpfel und Birnen auflasen, die in der Nacht gefallen waren.

Auf der Straße ließ sich Hufschlag vernehmen. Zwei Reiter trabten vorüber: Graf Robert in Begleitung seines Stallburschen. Hurtig liefen die zwei Kinder zum Zauntürchen, um dieses im Dorfe seltene Ereignis aus nächster Nähe zu bestaunen.

Graf Robert hatte es unter seiner Würde gefunden, in der »kurzledernen Maskerade«, die für das Erscheinen in der Jagdhütte unumgängliche Vorschrift war, das Dorf und die von Sommergästen wimmelnde Seelände zu passieren. So ritt er voraus, um sich erst[159] bei ihm passend erscheinender Gelegenheit in einen Jäger nach dem Geschmack seines Vaters zu verwandeln.

Eine Viertelstunde später wanderten seine Brüder mit Büchse und Bergstock an dem Bruckneranwesen vorüber. Franzl, dessen spähender Blick die Fenster und den Hofraum überflog, führte den kleinen Zug. Tassilos kraftvolle Gestalt in der verwitterten Jägerkleidung machte ein schmuckes Bild, doch dem Ernst seiner Augen war es nicht anzumerken, daß es nun bergwärts ging zu »fröhlichem Jagen«. Hinter ihm kamen drei Träger mit schwer gepackten Rucksäcken, und in weitem Zwischenraum folgte Willy mit dem alten Moser, der Graf Roberts Büchse trug; die beiden sprachen lachend miteinander, blickten immer wieder über die Straße zurück und winkten mit der Hand, wie zu lustigem Abschied auf baldiges Wiedersehen. Als ihnen der Gegenstand ihres Vergnügens aus den Augen schwand, stieß der alte Moser scherzend den Ellbogen an den Arm seines jungen Herrn. »Hab ich net recht, Herr Graf? So was Liebs hat die ganze Welt nimmer!«

Willy zwirbelte das Bärtchen. »Aber den Schnabel halten, Moser!«

»Das wissen S' doch, daß ich Ihnen a kleins Spasserl von Herzen vergönn. Lassen S' nimmer aus! Mir scheint, 's Fischerl hat schon anbissen!«

Der kleine Jagdzug erreichte den ansteigenden Bergwald. Zwei Stunden ging es im Schatten der Buchen und Fichten auf leidlich bequemen Wegen aufwärts. Als die Lichtung der Niederalm durch die Bäume schimmerte, begegnete ihnen der Stallbursch, der die zwei Pferde nach Schloß Hubertus zurückführte. Bei der Sennhütte wartete Robert; er schien sich in Joppe und Lederhose nicht behaglich zu fühlen, hatte für die Brüder kaum einen Gruß und zeigte während des Frühstücks, das in der Hütte genommen wurde, eine ungnädige Stimmung; nachdem er einige Bissen genossen hatte, sprang er auf, steckte mit nervöser Hast eine Zigarette in Brand und trat vor die Hütte, als möchte er mit seinen unruhigen Gedanken allein sein.

Dem alten Moser erschien es rätselhaft, daß es auf der Welt einen Menschen gab, der zur Gemsjagd auszog, ohne die lachende Weidmannslaune zu finden. »O du heiliger Strohsack! Was hat er denn?«[160]

Willy lachte, ohne Antwort zu geben, doch als er Tassilos fragenden Blick gewahrte, sagte er: »Ich bin neugierig, wie er diesmal mit Papa ins reine kommt.«

Franzl mahnte zum Aufbruch. Als man bereit war, trennte sich einer der Träger von den anderen und nahm seinen Weg seitwärts gegen den Wald.

»Gehört der Mann nicht zu uns?« fragte Tassilo.

»Aber freilich,« versicherte Moser und zwinkerte, »der tragt die heimliche Zehrung in d' Holzerhütten auffi. Man muß ja alles verstecken vor 'm gnädigen Herrn Grafen. Sie wissen ja, wie er is!«

Tassilo furchte die Brauen. »Wer hat das angeordnet?«

»Ich!« fiel Willy ein. »Und du wirst sehen, ich habe für uns alle mit mütterlicher Zärtlichkeit gesorgt: Niersteiner, Pschorrbräu, Gulaschkonserven –«

»Das war unrecht! Du weißt, daß Papa in der Jagdhütte keine Änderungen seiner Gewohnheit duldet. Und wenn wir ihm nicht Ärger bereiten wollen, müssen wir uns seinem Willen fügen.«

»Fällt mir ein! Mich acht Tage von Mehlschmarren und Wasser zu nähren? Dafür bedank' ich mich. Wenn du von meiner genialen Vorsicht keinen Gebrauch machen willst, bitte! Ich schmuggle. Wenn ich mich den ganzen Tag auf der Jagd abgehetzt habe, will ich am Abend essen und trinken wie ein anständiger Mensch.« Willy nahm die Büchse auf die Schulter und schritt davon. »Philister!« brummte er und suchte Robert einzuholen, der über das offene Almfeld vorangestiegen war, als könnte er die Ankunft in der Jagdhütte kaum erwarten.

Im neu beginnenden Walde wurden die Pfade steil und beschwerlich. Robert hielt sich mit treibender Eile immer an der Spitze des Zuges; Willy schien müde zu werden und warf sich nach jeder Viertelstunde für ein paar Minuten in den Schatten eines Baumes. Nur Tassilo bewahrte seinen gleichmäßig ruhigen Schritt und blickte sinnend in das von Lichtern durchwobene Schattendunkel des Waldes. Einmal hörte er den alten Moser ein paar erschrockene Worte stottern und sah, daß Willy erschöpft an einen Baum gelehnt stand und aus der kleinen Branntweinflasche trank, die Moser ihm gereicht hatte. Besorgt eilte Tassilo auf den Bruder zu. »Was ist dir?«

»So ein komischer Schwindel. Ich bin wohl ein wenig zu schnell gestiegen und habe den Atem verloren.«[161]

»Aber hab ich's net allweil gsagt: Lassen S' Ihnen Zeit!« schmollte Moser. »Dös gache Umanandfahren tut net gut in die Berg. Da muß man schön stad ein Schrittl vors ander stellen! Zeit lassen, junger Herr, Zeit lassen!«

Mit ernster Sorge sah Tassilo in Willys Gesicht, dessen müde Blässe einer langsam wiederkehrenden Röte wich. »Hier ist ein schattiger Platz. Komm, ruhe dich tüchtig aus, ehe wir weitersteigen!«

»Ach, Unsinn! Es ist schon vorüber. Und von Ermüdung fühl' ich keine Spur!« Unmutig den Bergstock einsetzend, sprang Willy über einen Steinblock und folgte dem Pfad.

Tassilo schwieg; doch als die Wanderung zwischen den Felswänden einer breiten Schlucht über ebenen Boden hinging, trat er an Willys Seite. »Wie fühlst du dich?«

»Ich? Warum? Ach so, wegen vorhin? Danke, mir ist pudelwohl! Ich begreife überhaupt deine Sorge nicht. So eine harmlose Blutwallung.«

»Du solltest die Sache nicht so leicht nehmen. Hätt' ich geahnt, daß du noch unter den Nachwehen deiner Krankheit zu leiden hast, so würde ich dir geraten haben, die strapaziöse Tour nicht mitzumachen. Papa hätte dich gewiß entschuldigt. Man hätte ihm sagen können, daß du dich noch immer schonen mußt – ohne ihn deshalb zu beunruhigen und ihm einzugestehen, wie ernstlich krank du warst.«

Willy lachte, ein bißchen gezwungen. »Ich? Ernstlich krank? Wer hat dir dieses Ungeheuer von einem Bären aufgebunden? eine leichte Bronchitis, die reine Lächerlichkeit.«

»Weiche mir nicht aus, Junge! Ich habe die Gelegenheit herbeigesehnt, einmal offen mit dir zu reden.« Tassilo schlang Willys Arm in den seinen. »Vor meiner Abreise von München hab' ich deinen Arzt gesprochen.«

»Du hast ihn wohl aufgesucht, um auf den Busch zu klopfen? Was? Und nun willst du mich bei Papa droben ankreiden?«

»Nein, Willy, ich habe weder das eine getan, noch beabsichtige ich das andere. Ein Zufall hat mich mit eurem Stabsarzt im Kasino zusammengeführt, und deinem Willen entgegen hielt er es für seine Pflicht, mir mitzuteilen, in wie schwerer Gefahr du warst. Er sagte mir, daß du trotz des glücklichen Verlaufes der Sache noch immer Ursache hättest, dich zu schonen. Ein Rückfall könnte bedenklich werden. Bewegung in Höhenluft wäre gut für dich. Aber –«[162]

»Was?«

»Vor allem solltest du dich vor jeder Ausschreitung hüten.« Tassilo zögerte, als fielen ihm die Worte schwer. »Du weißt, was ich meine.«

Willy wollte heftig erwidern, aber der herzliche Blick, der ihn aus den Augen des Bruders traf, machte ihn verlegen und stumm; er verzog den Mund wie ein verdrossenes Kind.

Es schien, als wäre Tassilo auch mit diesem halben Erfolg zufrieden; noch fester zog er Willys Arm an seine Brust, und seine Stimme wurde wärmer. »Ich weiß, du bist jung, und Jugend will austoben. Ich bin gewiß der letzte, der dir aus deiner sprudelnden Lebensfreude einen Vorwurf machen will. Aber sieh, mein Junge, es hat doch alles seine Grenzen.«

»Das stimmt! Aber weißt du, mein junger Schimmel hat Rasse und brennt eben manchmal mit mir durch. Da pariere nun einer. Ich mache wohl ab und zu einen Versuch, den Zügel anzuziehen. Aber was willst du? Der Ausreißer in mir ist hartnäckig. Was ist da zu machen?«

»Mit ernstlichem Willen alles! Ich weiß, daß die erste Schuld nicht an dir liegt. Du warst in allzu jungen Jahren dir selbst überlassen.« Tassilos Stimme bekam einen herben Klang. »Papa war mit seinen Gemsen und Hirschen immer so sehr beschäftigt, daß wir alle darunter leiden mußten. Ich fürchte, du am meisten. Das Versäumte ist nicht mehr zu ändern. Aber sieh, mein Junge, nun bist du doch in den Jahren, in denen man selbst unterscheidet zwischen Gewinn und Nachteil. Nun mußt du dein eigener Hüter sein. Das kann dir doch auch nicht schwerfallen. Du mußt dir nur immer vorhalten, was für dich auf dem Spiel steht. Was du jetzt an Gesundheit vergeudest, das wird dich darben machen ein ganzes Leben lang. Erwacht dann einmal in dir die Sehnsucht nach Freude und Glück, und führt dich dein Lebensweg zu spät an die Stelle, an der die schöne Blume für dich hätte blühen können, so wirst du mit zaghaften Händen zugreifen in Zweifel und Reue. Denn du wirst empfinden müssen, daß du nur die Halbheit gewinnen kannst, da du zum Tausch nur einen verbrauchten Menschen zu bieten vermagst. Alles volle Glück, sei es in Tat und Arbeit oder in der Liebe, verlangt einen ganzen Menschen!«

Verträumt sah Willy vor sich hin. »Du hast recht, Tas! Es muß eine feine Sache sein, in guter Kondition sein Ziel zu erreichen, als[163] ein fester und reinlicher Mensch. Wie das schmecken könnte, brauchst du mir nicht zu schildern. Das hab' ich mir selbst schon oft mit den schönsten Farben ausgemalt. Bei allem Rummel hab' ich manchmal so meine lyrischen Stimmungen mit dem obligaten Katzenjammer. Aber jetzt will ich Ernst machen. Aus mir soll was werden! Man lebt nicht zweimal, und ich will mein Glück nicht verscherzen. Ich will meine ›Blume‹ brechen, die echte! Und ich danke dir, daß du mir einmal tüchtig ins Gewissen geredet hast.«

Tassilo lächelte. »Es war nicht der erste Versuch.«

»Na ja! Aber das Vergangene wollen wir begraben, nicht wahr? Ich verspreche dir, daß ich mir meine stützige Art dir gegenüber nach Kräften abgewöhnen will. Das war ja bei mir nie Bockbeinigkeit. Ich bin doch eigentlich ein sehr guter Kerl, der mit sich reden läßt. Aber wenn du mich manchmal ins Gebet nahmst, hattest du oft so eine Art – ich habe immer den Advokaten aus dir herausgehört, und das ist mir gegen den Kopf gegangen. Jetzt bist du böse? Was?«

»Nicht im geringsten. Es mag ja sein, daß ich nicht immer den rechten Ton und die rechte Stunde gefunden habe. Und da geb' ich dir ein Versprechen zurück: Ich will dem Advokaten in mir ein Schloß vor den Mund hängen, damit du immer nur den Bruder hörst.«

»Das war nett! Ich danke dir, Tas! Was du mir heute gesagt hast, soll auf guten Boden gefallen sein. Und wenn ich wieder einmal einen Schubs brauche, um in den rechten Sattel zu kommen, weiß ich, wo ich mir den Helfer suche. Schlag ein, Tas!«

Mit festem Druck umspannten sich ihre Hände.

Inzwischen waren die anderen weit vorausgekommen und hinter einer Biegung der Felswand verschwunden. Nun kam Franzl zurückgelaufen und rief: »Ich bitt, meine Herrn, a bißl flinker! Der Herr Graf hat an Treiber gschickt, er wartet unter der Bärenwand und will's Latschenfeld heut noch durchtreiben lassen.«

Nun galt es Eile. Die Träger schlugen den Weg zur Jagdhütte ein, während die Jäger, von dem Treiber geführt, seitwärts über steiles Gehäng emporstiegen. Der alte Moser hielt sich wieder an Willys Seite; doch so lustig er auch immer drauflos plauderte, er hatte einen zerstreuten Zuhörer. Auf einem grasigen Fels gewahrte er zwei blühende Brunellen; schmunzelnd brach er die braunen Blumen und reichte sie seinem jungen Herrn. »Da schauen S', Herr Graf! Sind die Blümerln net grad so süß wie dem Lieserl seine Äugerln?«[164]

Willy nahm die Blüten und sog an ihrem Duft. Dann plötzlich warf er sie über die Schulter. »Ach, Unsinn! Hol' der Teufel diese Dummheiten!«

»Aber Herr Graf!« stotterte Moser gekränkt. »Was haben S' denn?«

Willy blieb ihm die Antwort schuldig.

Quelle:
Ludwig Ganghofer: Schloß Hubertus, Berlin [1917], S. 153-165.
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