[349] Es dämmerte noch nicht. Aber auf dem Herd der Dippelhütte brannte bereits ein Feuer. Daneben stand schon die eiserne Pfanne und das Holzgeschirr mit dem Schmarrenteig.
Die Fäuste in den Taschen der Lederhose, saß Schipper auf dem Herdrand und schien vergessen zu haben, daß er kochen wollte. An der Lippe beißend, in den grauen Zügen den Ausdruck grübelnder Wut, sah er unruhig vor sich hin. Da klang das Klirren eines Nagelschuhs. Schipper hob lauschend den Kopf und erkannte den schweren Schritt. Mit einem Fluch sprang er auf und murmelte: »Is denn der kein Mensch net? Jetzt kommt er heut noch da rauf!« Er strich mit der Hand über das Gesicht und sprang zur Tür.
Graf Egge stand vor ihm.
Wie in freudiger Überraschung schlug Schipper die Hände zusammen. »Ja grüß Ihnen Gott, Herr Graf! Ja weil S' nur wieder[349] heroben sind in der Hütten! Seit Mittag is mir's allweil fürgangen, daß ich heut noch die Freud hab –« Schipper gewahrte, daß sein Herr nicht allein war, und das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.
»Was hockst du in der Hütte?« fuhr ihn Graf Egge an. »Warum hast du nicht Dienst gemacht?«
Schipper war noch immer sprachlos; Franzls Anblick hatte auf ihn gewirkt wie die Erscheinung eines Gespenstes.
»Hörst du nicht?«
»Ich bitt, Herr Graf, ich hab mir halt denkt, Sie kommen.«
»Das Denken überlaß mir! Du mach deinen Schutz! Hol' deine Büchse und pack' dein Zeug in den Rucksack! Alles. Und dann marschier'! Von heut an übernimmst du Patscheiders Bezirk. Ich hab' in meiner Hütte für dich keinen Platz mehr.«
Schipper zitterte vor Wut, und sein Gesicht spielte alle Farben; aber er schien zu merken, daß die Stunde nicht geeignet war, um gegen dieses unerwartete Versetzungsdekret eine Vorstellung zu erheben. Sich mühsam bezwingend, sagte er mit Ruhe: »Wie der Herr Graf befehlen! Dem verwahrlosten Bezirk da drüben wird mei' scharfe Aufsicht net übel anschlagen. Und der gnädig Herr Graf wird wissen, was er will.«
»Vor allem will ich Ruhe haben, und da kann ich nicht vor Augen brauchen, was mir die Galle aufriegelt.« Graf Egge trat in die Hütte.
Schipper wollte ihm folgen, kehrte aber wieder um und trat auf Franzl zu. »Grüß dich Gott, Hornegger! Hat der Herr Graf an Einsehen ghabt? Es is mir lieb, daß d' wieder da bist!« Er streckte ihm die Hand hin. »Wir zwei haben uns oft net recht verstanden mitanander. Jetzt red ich mir's grad amal vom Herzen weg. Wär gscheiter, wir täten als gute Kameraden einer zum andern halten. Geh, schlag ein!«
Franzl rührte keinen Finger und bohrte den Blick in Schippers Augen.
»Oho! Was hast denn?« Schipper lachte. »Warum schaust mich denn an wie der Teufel die arme Seel?«
»Hornegger!« klang es aus der Stube. Und Franzl ging zu seinem Herrn, um den Kammerdienst anzutreten, aus welchem Schipper entlassen war.
Als Graf Egge die Herrenstube betreten hatte, war es sein erstes gewesen, das Geheimarchiv aufzusperren, um sich zu überzeugen, ob hier alles in Ordnung wäre. Unversehrt und friedlich ruhte das herrliche[350] Gemsgehörn neben dem Samtetui mit den Edelsteinen, von denen nur ein einziger fehlt – ein Rubin.
Nun saß Graf Egge auf dem Bett, und während ihm Franzl die Schuhriemen lösen mußte, hielt er den Hund auf seinem Schoß und zupfte ihm aus dem roten Fell die Harztropfen heraus, die vom Verband zurückgeblieben waren.
Nach einer Weile kam Schipper und meldete sich »fertig zum Marsch«.
Sein Herr entließ ihn wortlos. Als die Schritte des entthronten Büchsenspanners vor der Hütte verklangen, erhob sich Graf Egge und sagte zu Franzl, der eben die Hängelampe anzündete: »So! Jetzt is die Luft sauber! Komm, Alter, jetzt kochen wir unseren Schmarren!«
Die Vorbereitungen, die auf dem Herd bereits getroffen waren, erleichterten die Sache. Während das Schmalz in der Pfanne prasselte, besprachen sie die Pirschpläne für den kommenden Tag. Das heißt, Graf Egge besprach sie. Franzl, der verloren umherging, Holz brachte und Wasser zum Feuer setzte, kam über ein paar pflichtschuldige Wörtchen nicht hinaus und erklärte sich mit allen Vorschlägen einverstanden, die sein Herr ausgrübelte. Mitten in der Rede brach Graf Egge ab, deutete mit dem eisernen Pfannenlöffel nach der Ecke des Herdes und sagte mit schwankender Stimme: »Schau, Franzl, auf dem Fleckl, da is er gsessen am letzten Abend!«
Eine stille Mahlzeit.
Während Graf Egge in der Stube die Zither stimmte und Franzl in der Küche das Geschirr spülte, kam Patscheider von seinem Reviergang zurück. Für die Freude über das Wiedersehen mit Franzl hatte der Jäger nur ein paar kurze Worte; wie sie gemeint waren, das sprach ihm aus den Augen; zum erstenmal lachte er wieder seit vielen Tagen. Nach dem Rapport teilte er sich mit Franzl in die Arbeit, und dabei sprachen sie flüsternd von dem »Unglück drunt« und vom »armen Herrn«. Während dieses Gespräches erwachte in Patscheider ein Gedanke, der ihn um so unruhiger machte, je länger er ihn verschwieg. Endlich platzte er damit heraus: »Sag, Franzl! Jetzt hast ja dein' Dienstplatz wieder. Tätst mir harb sein, wenn ich mich um den Posten bewerben möcht, den man dir anboten hat?«
Betroffen sah Franzl auf. Er kannte den Jäger gut genug, um zu wissen, daß hinter der Sache alles andere eher steckte als Eigennutz. »Michel! Um Gotts willen! Was is denn?«[351]
Patscheider wehrte mit der Hand. »Frag net! Bei so was tut 's Reden net gut.«
Das war schon zuviel gesagt. Das Gerede im Dorf, Patscheiders verändertes Wesen und seine letzten Worte – der Zusammenhang dieser Dinge weckte in Franzl eine Ahnung, die ihm den Herzschlag stocken machte. »Michl! Jesus Maria!«
»Tätst mir harb sein?«
Franzl schüttelte den Kopf. Ohne ein weiteres Wort erhob sich Patscheider, klopfte an die Tür der Herrenstube und trat ein.
Graf Egge stimmte noch immer an seiner Elegienzither; der Klang der Akkorde war ihm noch nicht rein genug. Eine Saite schraubend, sah er auf.
»Ich bitt, Herr Graf,« sagte Patscheider verlegen, »ich hätt gern a bißl nach meine Leut gschaut. Wenn S' nix dagegen hätten? Morgen am Abend vor dem Pirschgang wär ich wieder heroben.«
»Geh nur!« Graf Egge schlug einen Akkord an und neigte das Ohr gegen die Saiten. »Und sag' dem Hornegger, er kann sich schlafen legen.«
Franzl nahm die Botschaft als Befehl, und nachdem er hinter Patscheider die Hüttentür verriegelt hatte, kletterte er auf den Heuboden.
Schlaflos lag er in der Finsternis unter den Dachsparren und quälte sich mit seinen wirren Gedanken, während aus der Herrenstube herauf die zärtlichen Klänge der Zither tönten.
Graf Egge spielte an diesem Abend nur ernste Stücke. An Koschats »Verlassen, verlassen« reihte sich »Mutterseelenallein« mit meisterhaft ausgeführten Flageolettönen. Ein schwermütiges Zwischenspiel in A-Moll leitete über in das Tiroler Volkslied:
»Wenn ich zu meinem Kinde geh –«
Bei diesem Liede mußte Graf Egge während des Spiels den Kopf zurückbeugen, damit die Tränen, die ihm über die Wangen rollten, nicht in die Saiten fielen; die Zither ist ein wehleidiges Instrument, und Feuchtigkeit verträgt sie nicht. Beim Schlußakkord seufzte Graf Egge so schwer, daß Hirschmann, der hinter dem Ofen lag, den Kopf erhob und seinen Herrn verwundert betrachtete.
Wieder klang die Zither. Dem Schlummerlosen auf dem Heuboden redeten diese feinen Klänge ins Herz. Er setzte sich auf, drückte den Kopf in die Hände und grübelte. Immer tauchten zwei Bilder gleichzeitig in ihm auf, eines ein Widerspruch zum anderen; jeder Gedanke, dem er folgte, führte ihn nach Irrwegen zu einem großen[352] Loch, vor dem er ratlos stand und wieder den Rückweg suchte; und in seinen eigenen Kummer mischte sich noch das Erbarmen mit dem »armen Herrn da drunt« und die Sorge, die er sich um Patscheider machte.
Der hatte auf seinem Heimweg in der dunklen Nacht ein übles Wandern; auf den Almen ging es noch leidlich, da leuchteten die Sterne ein bißchen; aber im schwarzen Hochwald setzte es Beulen und blutige Risse.
Mitternacht hatte geschlagen, als Patscheider das Dorf erreichte; in den Höfen, an denen er vorüberkam, bellten die Hunde, und dumpf rauschte die Ache in der Nachtstille. Langgezogene Nebelstreifen schwebten aus dem Seetal heraus, umhüllten den Kirchturm und senkten sich über den Friedhof und die Wiesen. Alle Häuser lagen schon dunkel, nur aus der Stube des Brucknerhauses leuchtete noch ein trüber Lichtschimmer; und der Jäger sah, als er vorbeiwanderte, einen Schatten über die Fenster irren.
Diesen Schatten warf der Bauer, der mit nackten Füßen in der Stube auf und ab ging; die Schwarzwälderuhr tickte, und mit glostendem Räuber brannte eine dünne Kerze auf dem Tisch, hinter welchem Mali im Herrgottswinkel saß, den Kopf an die Wand gelehnt. Auf dem Ledersofa, das nach Forbecks Abreise aus dem Giebelzimmer den Umzug in die Stube gemacht hatte, schlummerte das kleine Netterl, und für Mali lag auf dem Boden eine Matratze mit rotgeblumtem Kissen und wollener Decke.
Bruckner blieb vor der Schwester stehen. »Ich studier mir 's Hirnkastl aus, aber ich find nix Bessers. Bleibst im Haus, so is 's Unglück fertig. Dös mußt selber einsehen, nach dem, was heut am Berg droben passiert is! Oder net?«
Mali nickte.
»Daß ich dich net gern fortlaß, kannst dir denken.« Der Bauer sah hinüber zu dem schlafenden Kind. »Aber es geht nimmer anders, jetzt muß ich allein mit'm Schädel durch d' Wand. Am besten, du gehst gleich morgen in der Fruh. Den Kufer schick ich dir mit'm Boten nach. Is dir's recht so?«
Mali schob sich hinter dem Tisch hervor, ging zum Sofa und streifte mit der Hand über das Haar des Kindes. »Magst mir 's Netterl net mitgeben? 's Kind tät gsunden in meiner Sorg. Und d' Schwester hätt die größte Freud.«
Er schüttelte heftig den Kopf. »D' Schwester hat kleine Mäuler[353] gnug. Und hätt ich meine Kinder nimmer, was hätt ich noch? Ich gib keins her. A paar Tag lang hilft mir d' Nachbarin aus, nachher muß ich mich halt um a richtigs Weibsbild umschauen. Soll's kosten was mag! Lieber schind ich mich, daß mir 's Blut aussispritzt bei die Nägel. So! Jetzt leg dich schlafen! Die halbe Nacht is eh schon wieder beim Teufel.«
Trotz dieser Mahnung gingen noch Stunden vorüber, ehe hinter den Fenstern des Brucknerhauses das Licht erlosch.
Der folgende Tag, ein Sonntag, brachte das ganze Dorf in Aufregung. Aber das Getratsch und Gerede, das nach dem Hochamt aus der Kirche getragen wurde, hatte nichts mit der Tatsache zu schaffen, daß am frühen Morgen die Bruckner-Mali mit einem kleinen weißen Bündel und mit rotgeränderten Augen zum Dorf hinausgewandert war. Was den halb lustigen, halb verwunderten Leutrummel verursachte, war die nach der Predigt von der Kanzel erfolgte Verkündigung: »Zum heiligen Bund der Ehe haben sich versprochen der ehr- und tugendhafte Jüngling Andreas Pointner und die ehr- und tugendsame Jungfrau Elisabeth Zauner, beide allhier.«
Auch Patscheider, der gegen zwölf Uhr mittags vor dem Seehof aus einem Einspänner stieg und ein Schiff verlangte, bekam die große Neuigkeit zu hören. Er zuckte nur die Achseln und sprang in den Kahn. Als er beim Wetterbach landete, begann er mit treibendem Marsch bergan zu steigen und traf, wie er es seinem Herrn zugesagt hatte, noch vor der »guten Zeit« im Palais Dippel ein. Graf Egge stand vor der Hütte, schon zum Pirschgang fertig. Mit der Büchse auf dem Rücken las er einen Brief, dessen zerrissenes Kuvert auf der Erde lag. Moser, der mit dem Hut in der Hand vor Graf Egge stand, schien diesen Brief soeben gebracht zu haben. Auch Franzl war schon für den Jagdweg gerüstet; er saß auf der Hüttenbank und sah, als Patscheider kam, stumm fragend zu ihm auf; der Jäger nickte und verschwand in der Hüttentür.
Graf Egge hatte zu Ende gelesen und schien in Erregung mit einem Entschluß zu kämpfen. Plötzlich wandte er sich zu Moser und fuhr ihn an. »Was kommst du auch gerade jetzt mit dem Brief daher? Ich kann doch jetzt nicht schreiben, ich versäume doch die Pirsch!« Wieder überlegte er. Die Unentschlossenheit währte nicht lange. Er schob den Brief in die Joppentasche. »In Gottes Namen! Bring' ihr die Antwort mündlich. Ich bin damit einverstanden, daß die Damen morgen reisen.« Er biß am Schnurrbart und suchte nach[354] Worten. »Sie sollen sich in München nicht länger als nötig aufhalten. Im Palais ist alles versperrt und verriegelt, und der Kampfergeruch könnte ihnen Kopfweh machen. Es ist besser, sie bleiben über Mittag in einem Hotel und fahren gleich nach Tisch mit dem Kurierzug weiter. Das erspart ihnen überflüssige Besuche.« Es zuckte um Graf Egges Augen. »Von Eggeberg sollen sie mir eine Depesche schicken, daß sie glücklich angekommen sind. Ich schreibe dann schon – wenn ich Zeit habe. Und meiner Tochter kannst du sagen, es hätte mich gefreut, daß sie morgen noch zu mir heraufkommen wollte. Aber das darf ich ihr nicht zumuten. Die paar Tage sind mir in die Knie gegangen – um wieviel elender muß das Mädel sein. Sie soll sich schonen für die Reise. Ich laß ihr gute Fahrt wünschen. Recht gute Fahrt. Und glückliche Ankunft in Eggeberg. Und einen guten Winter. Sag' ihr das! Vielleicht komm ich nach der Hirschbrunft, bevor ich reise, auf einen Sprung nach Eggeberg. Mein Bruder hat freilich eine Jagd, daß Gott erbarm'! Aber dem Mädel zulieb! Sag' ihr das!« Er rückte den Hut. »Hornegger, komm!« Graf Egge folgte dem Steig und fragte, als Franzl ihn einholte: »Wo, meinst du, daß der Bock steht?«
Drei Stunden später, als es dämmerte, brachte Franzl die von seinem Herrn erlegte Gemse zur Dippelhütte getragen. Aber die Laune, in der Graf Egge nach Hause kam, war eine andere, als sie sonst nach einem glücklichen Schuß zu sein pflegte. Auf der Pirsche hatte er den Augenblick, in dem er Feuer geben durfte, kaum erwarten können; als ihm aber die Beute zu Füßen lag, hatte er das Gehört ohne Freude betrachtet; und auf dem Heimweg besprach er nicht wie sonst mit eingehender Umständlichkeit den Verlauf der Jagd, sondern war von mürrischer Schweigsamkeit.
Nach der Mahlzeit gab es eine böse Szene zwischen ihm und Patscheider, der seinen Dienst kündigte. Graf Egge schrie, daß die Fenster klirrten.
Franzl ging zum Brunnen, um nicht wider Willen hören zu müssen, was in der Stube verhandelt wurde. Es währte fast eine Stunde, bis in der Hütte wieder Ruhe war. Als Franzl in die Herdstube zurückkehrte, packte Patscheider mit zitternden Händen seinen Rucksack, während in der Herrenstube die Saiten klangen.
»Gott sei Dank, Franzl, jetzt hab ich's überstanden! Mein Packl trag ich freilich mit fort. Aber jetzt kann ich mit Ruh an Weib und Kinder denken.«[355]
»Aber Michl! Was is denn? Warum packst denn jetzt?«
»Fort soll ich, gleich auf der Stell, hat er gsagt. Heut hat er's mir macht wie selbigsmal dir! Statt daß er an Einsehen ghabt hätt mit meiner armen Seel. Statt daß er froh gewesen wär über den Ausweg, den mein Erbarmen mit dem armen Teufel von Vater –« Patscheider verschluckte den Rest des Satzes. »Da hab ich mich nimmer halten können. Und alles hab ich ihm gradaus ins Gsicht gsagt, was ich die ganze Zeit her in mich nunterdruckt hab. Alles! Alles!«
»Michel, um Gotts willen, bist denn gscheit?« stammelte Franzl. »Weißt doch, daß er aufgregt is und hart im Holz! Und schau, jetzt hat ihn dös fürchtige Unglück troffen. So was dreht doch an Menschen um und um! Wie kannst ihm denn da was übelnehmen? Aber Michl! Michl!«
Patscheider kratzte sich den Kopf. »Vielleicht hast recht, vielleicht hätt ich mir 's Maul verriegeln sollen. Aber ich hab mich nimmer halten können. Es is mir aussigrumpelt. Er hat mir Sachen ins Gsicht gsagt –« Der Zorn erwachte wieder in ihm. »Himmelkreuzteufel, ich hab ja rein glaubt –«
In der Stube schwieg die Zither, und Graf Egge rief mit heiserer Stimme: »Wird da draußen bald Ruh' werden!« Dann klangen die Saiten wieder.
Die beiden Jäger sprachen kein Wort mehr. Als Patscheider den Bergsack auf den Rücken gehoben hatte, winkte er seinem Kameraden. Schweigend gingen sie in der Nacht eine Strecke miteinander. Dann umklammerte Patscheider Franzls Hand. »Bhüt dich Gott! Und ich sag dir Vergelts Gott, weil mir verlaubt hast, daß ich mich um den Posten umschau. Daß ich dich net vergiß, da kannst Gift drauf nehmen! Alles andre laß ich hinter mir. Kreuz drüber und fertig! Dir, Franzl, bleib ich der Alte. Bhüt dich Gott, Kamerad!« Er riß ihn an sich, küßte ihn wie ein zärtlich gewordener Bär und stolperte in die Nacht hinaus.
Franzl hatte kein Wort gefunden. Als Patscheiders Schritte schon verhallten, rief er ihm nach: »Bhüt dich Gott, Michl! Laß dir's gut gehn, gelt!« Während er in die Hütte zurückkehrte, blieb er immer wieder stehen und sah durch die Finsternis gegen das Tal hinunter. In der Jägerstube setzte er sich auf den Herd und starrte in die verglimmenden Kohlen. Seufzend erhob er sich endlich und suchte seine Liegerstatt im Heu.[356]
Es waren unfreundliche Zeiten, die nun im Palais Dippel Einzug hielten. Graf Egges Laune wurde knorriger von Tag zu Tag, und die rührseligen Stimmungen, die in der ersten Zeit noch ab und zu seine gallige Verbitterung für kurze Stunden lösten, wurden immer seltener. Jeder Mißerfolg auf der Jagd war die Veranlassung zum Ausbruch eines maßlosen Zornes. Kein Tag verging, ohne daß Franzl sich das »Unglück« seines Herrn in eindringliche Erinnerung rufen mußte, um seine geduldige Ruhe bewahren zu können. Dabei lagen die Sorgen seines Herzens wie ein drückender Stein auf ihm. Und sein Beruf war ihm keine Freude mehr; immer bedenklicher schüttelte er den Kopf zu der Art und Weise seines Herrn.
Wie Graf Egge jetzt die Jagd betrieb, das war eine Hetze ohne Atemholen; am Morgen die Pirsch, untertags eine Treibjagd, am Abend wieder die Pirsch. Was ihm vor die Büchse kam, wurde niedergebrannt. Und in der Nacht ein dumpfer, schwerer Schlaf nach den erschöpfenden Strapazen des Tages. Am Morgen ging es wieder mit so blinder Hast zum Tempel hinaus, daß auf Graf Egges Stirn die Beule in Permanenz erklärt war. Keine Beute befriedigte ihn, kein Erfolg vermochte ihn zu sättigen. Es war nicht mehr die Jagd, was er suchte, nur noch die fieberhafte Erregung vor dem Schuß.
Eines Nachmittags, während der Gemspirsch, sahen sie zwei Adler über einer Felswand kreisen. Das brachte eine neue, willkommene Erregung. Graf Egge schoß die erste Gemsgeiß nieder, die ihm über den Weg sprang; sie wurde auf der Zinne der Wand als Köder ausgelegt, und während Franzl die Wache bezog, übersiedelte Graf Egge in Schippers Hütte.
Nach Verlauf einer Woche konnte Franzl seinem Herrn die Meldung bringen, daß die Adler den Köder angenommen hätten und regelmäßig einfielen.
»Wenn S' Ihnen d' Müh net verdrießen lassen, Herr Graf, die schießen S' alle zwei!«
Graf Egge besann sich. Dann schüttelte er den Kopf. »Schießen? Ich will mehr davon haben! Die wirst du mir füttern über den Winter. Vielleicht bleiben sie und horsten. Dann hol' ich mir die Jungen aus dem Nest. Das füllt mir den Käfig wieder und bringt eine Abwechslung. Ich muß wieder einmal was anderes haben, eine Sache, die mir das Blut von unten herauf aufriegelt. Das ewige Gepulver wächst mir zum Hals heraus.«[357]
Im Widerspruch zu diesem Geständnis machte jeder folgende Tag ein paar Patronen leer. Während der Hirschbrunft gönnte sich Graf Egge täglich kaum ein paar Stunden Ruhe; es war Vollmondzeit, und so benützte er auch die Nächte zum Ansitz, ohne sich viel um die rheumatischen Schmerzen zu kümmern, die sich jetzt im linken Knie zu rühren begannen, das bisher von dem Übel noch immer verschont geblieben war. Er erinnerte sich der halben Unterhose, die er im Sommer erspart hatte, und es setzte ein böses Wetter, als das wollene Bein nicht gleich gefunden wurde. Diesmal wollte die Wärme der Wolle so flink nicht helfen. Graf Egges Gang wurde immer schleppender, sein Gesicht bekam eine gelbliche Färbung, und seine Augen fielen tief in die Höhlen. Aber solang auf den Almen und im Bergwald noch ein Brunftschrei zu hören war, gönnte er sich keine Ruhe. Im Verlaufe von drei Wochen brachte er neunzehn Hirsche auf die Decke. Den letzten erlegte er am Morgen des 16. Oktober, obwohl mit dem Tage vorher die Schußzeit schon zu Ende gegangen war. Vom aufgebrochenen Hirsch weg trat er den Abstieg an und ließ, in Schloß Hubertus angekommen, den Doktor holen. Dieser riet ihm eine Luftveränderung, den Besuch eines milden Klimas. Unverzüglich befolgte Graf Egge diesen Rat, schien aber dabei die Himmelsgegenden zu verwechseln, denn er reiste am folgenden Morgen zu den Elchjagden nach Finnland ab. Zu seiner Bedienung und Pflege nahm er Schipper mit, der in der Brunftzeit wieder zu Gnaden gekommen war, da er seinen Herrn auf zwölf Hirsche zu Schuß gebracht hatte.
Franzl atmete auf. Sein erstes war, daß er sich im Palais Dippel einen Tag und eine Nacht ins Heu vergrub, um in einem bleiernen Schlaf seine zerriebenen Knochen rasten zu lassen. Als er erwachte und vor die stille Hütte trat, lag ein schimmernder Herbstmorgen über den Bergen, deren höchste Zinnen schon die erste Schneekoppe trugen. Franzl kam sich vor wie eine aus dem Fegfeuer erlöste Seele. In dieser einsamen Ruhe fühlte er sich selbst wieder, empfand, daß er lebte. Nach dem Frühstück, das ihm seit Wochen zum erstenmal wieder mundete, nahm er seine Büchse und wanderte den ganzen Tag in seinem Bezirk umher. Er ruhte im rauschenden Wald, rastete auf sonnbeschienenen Gehängen, sah träumend die ragenden Wände an und beobachtete, wie das versprengte Wild sich wieder sammelte. Die Freude an seinem Beruf begann in seiner Seele wieder warm zu werden. Und noch etwas anderes fand er in dieser Stille, bei diesem[358] erquickenden Aufatmen: der wirre Sorgenknoten seines Herzens löste sich wie von selbst. Jetzt zum erstenmal konnte er ruhig überdenken, was er mit Mali erlebt hatte, und da wurde der schwarze Rabe, als der ihm das Mädel erschienen war, immer weißer und weißer. Wohl fand er die Sache jetzt nicht weniger unbegreiflich als früher. Aber der Gedanke an Malis offene Herzlichkeit, die Erinnerung an ihr vergrämtes Gesicht, an den angstvollen Klang der Stimme, mit der sie ihm jene Warnung vor Schipper zugerufen hatte – das waren stärkere Trümpfe als die verriegelte Haustür und der Besuch des Mädels in der Dippelhütte. Hinter der Sache mußte was stecken, was er nicht erraten, nicht ahnen konnte. Um darüber ins klare zu kommen, wußte er keinen besseren Weg, als mit einer offenen Frage vor das Mädel hinzutreten.
Getröstet und von neuer Hoffnung erfüllt, kehrte Franzl mit diesem Entschluß am Abend ins Palais Dippel zurück. Am folgenden Tage hielt ihn noch die Pflicht auf den Bergen fest: mit Hilfe zweier Holzknechte mußte er einen Spießhirsch, den Graf Egge niedergebrannt hatte, als Köder für die beiden Adler auf die Höhe der Felswand schaffen. Um zwei Uhr mittags kehrte er von dieser Arbeit zurück, schloß am Palais Dippel die Fensterläden, versperrte die Tür, und nun rannte er wie ein Narr, um noch vor Einbruch der Dämmerung das Dorf zu erreichen.
Als er am Seehof vorübersauste, wurde in der Wirtsstube schon die Lampe angezündet. Über der Straße lag noch ein fahles Zwielicht, und ehe Franzl den Zaun des Brucknerhauses erreichte, konnte er schon die Gestalt des Mädels gewahren, das zwischen Tür und Brunnen umherwanderte und das in einen Lodenmantel gewickelte Netterl auf den Armen trug. Das Herz schlug ihm wie ein Hammer. Doch als er in den Hof trat, sah er das ihm fremde, grobknochige Frauenzimmer ratlos an. »Um Gotts willen! Wer bist denndu?«
»'s Kindsmadl bin ich, beim Bruckner.«
»Kindsmadl? Zu was braucht denn der Bruckner fremde Leut im Haus? Is doch d' Schwester da!«
»So? Bist du außer der Welt daheim? Weißt denn gar nix? D' Mali is schon lang nimmer im Ort.«
Franzl verfärbte sich.
»Die is zu ihrer Schwester aussi uns Unterland. Jetzt bin ich da!«[359] Franzl stand eine Weile auf den vorgestreckten Bergstock gestützt. »Da wünsch ich gut Nacht!« Langsam, immer den Kopf schüttelnd, ging er der Straße zu.
»Mir scheint, bei dem rappelt's!« brummte die Magd.
Vor dem Zaun blieb Franzl stehen, schob den Hut in die Stirn und rieb den Nacken. »Aus und gar! Jetzt mach an Schnapper, Herzl, daß dich wieder derfangst!«
Schon am folgenden Morgen stieg er wieder zur Dippelhütte hinauf, obwohl er für diesen Tag zur Hochzeit des feinen Lieserls und des Pointner-Andres geladen war. Seine Mutter hatte ihm zugeredet, die »Gaudi« mitzumachen, weil sie hoffte, daß Franzls aschfarbene Stimmung sich beim Klang der Geigen und Klarinetten ein bißchen aufheitern möchte. Am Abend aber dankte sie dem lieben Herrgott mit aufgehobenen Händen, daß ihr Bub nicht »dabei« war – denn der Hochzeitsjubel hatte ein sonderbares Ende genommen.
Die Braut, die neben dem Ehering einen Reif mit funkelndem Rubin am Finger trug und gleich einer »stadtischen Hochzeiterin« in ein weißes Atlaskleid mit langer Schleppe gekleidet war, tanzte fleißig mit den zur Hochzeit geladenen Burschen und besonders mit dem jungen Postpraktikanten. Der Bräutigam wurde unruhig, ließ sich aber vorerst noch durch die Einsicht beschwichtigen, daß er wirklich ein schlechter und schrecklich ungeschickter Tänzer war, dessen floßförmige Hochzeitsstiefel jede zierliche Fußspitze schwer bedrohten. Aber was der Andres an Temperament in den Beinen ersparen mußte, das sammelte sich langsam in den Adern an seinen Schläfen zu besorgniserregenden Wülsten an.
Meister Zauner wollte vermitteln, zog sein Töchterlein beiseite und flüsterte dem erhitzten Weibchen ein paar eindringliche Worte ins Ohr.
»Jetzt bin ich Frau, versteht der Herr Vater?« antwortete das feine Lieserl. »Jetzt tu ich, was ich mag! A bißl was muß ich haben davon, daß ich mich aufgeopfert hab!« Lachend trat sie mit dem Postpraktikanten zu einem Walzer an.
Immer eifriger sprach der Bräutigam in seinem wachsenden Mißvergnügen dem Weinglas zu. Einmal griff er über den Tisch und zupfte die Zaunerin am Ärmel: »Was wagen S', Frau Schwiegermutter – mein Lieserl schaut sich net arg viel auf mich! Dös verdrießt mich recht!«
»So laß ihr doch heut dös bißl Vergnügen!« lautete die ärgerliche[360] Antwort. »Von abends um neune an ghört s' dein! Und 's Leben is lang. Da kommst noch allweil auf deine Kosten.«
Der Bräutigam nickte und saß wieder geduldig auf seinem einsamen Platz. Als aber Stunde um Stunde verging, ohne daß Lieserl den Tanzboden verließ, erhob sich der Andres endlich, suchte sein Bräutl auf und sagte: »Weiberl, was is denn? Schaust dich gar nimmer um auf mich? Ich bin doch heut die Hauptperson!«
Lieserl gab eine Antwort, die den jungen Pointner erblassen machte. Er legte seine Bärenfaust mit eisernem Griff um das schlanke rosige Handgelenk der Braut, zog sie trotz ihres Sträubens zur Hochzeitstafel und hielt sie an seiner Seite fest. Die Zaunerin ereiferte sich über diese »unghobelte Gwalttätigkeit«, Meister Wastl zog sich schwermütig mit seiner Weinflasche in das Extrastübchen zurück, um die Sache nicht länger mit ansehen zu müssen, und das feine Lieserl weinte vor Zorn. Als der Postpraktikant, dem sie die nächste Quadrille zugesagt hatte, sein Recht forderte, sagte der Bräutigam sehr grob: »Nix da! Mein Lieserl bleibt bei mir! Heut muß ich mir d' Mahlzeit net aufwärmen lassen von eim andern. Heut koch ich selber.« Es gab ein Wortwechsel, ein paar Burschen faßten die Situation unter dem Gelächter der ganzen Hochzeitsgesellschaft in drastisch wirkende Schnaderhüpfel, der Bräutigam warf einem der Sänger das Weinglas an den Kopf, und die Folge war eine blutige Keilerei. Bei diesem Tanz war der Pointner-Andres der unübertrumpfbare Meister. Er machte bei der Säuberung des Tanzlokals so gründliche Arbeit, daß nur die Musikanten noch zurückblieben, ausgenommen den Kontrabassisten, der außerhalb der Tribüne stand und beim Aufwaschen aus Versehen mitgenommen wurde. Als er die Scherben seines Instruments ansah, erklärte er: »Is einer gschickt, so kann er aus meiner Baßgeigen noch allweil a Zündholzschachterl machen.«
Die Trompeter und Klarinettisten, die der Lawine des Hinauswurfs glücklich entronnen waren, mußten einen lustigen Marsch anstimmen. Und unter Schmetterklängen wurde der sieghafte Bräutigam, der sein trotzendes Weiberl mit festem Griff an der Hand führte, von allen Ungeprügelten der Hochzeitsgesellschaft heimgeleitet in das Paradies seines jungen Glückes.
Ausgewählte Ausgaben von
Schloß Hubertus
|
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro