14.

[150] Nun auf tagelangen Regen

Endlich sich die Luft erhellt,

Wie begrüßt auf allen Wegen

Holdverwandelt mich die Welt!


Sanft von zitternd grünem Schimmer

Liegt die Talflur überhaucht,

Während Silberduft noch immer

Von dem Schnee der Berge raucht.


Schüchtern lauscht vom Hügelsaume

Goldnen Blicks der Krokus vor,

Und am wilden Mandelbaume

Bebt durchsicht'ger Blütenflor.


Ach, und über Wald und Wiese

Dieses bräutlich zarte Licht,

Das wie Glanz vom Paradiese

Durch geflockte Wölkchen bricht!


Wahrlich, sehnt' ich mich noch eben

Nach dem nord'schen Herd zurück:

Heut empfind' ich hier das Leben

Wie ein mühlos heitres Glück.


Leicht, als ob sie Flügel trügen,

Wiegt sich meine Seele nur

Auf den leisen Atemzügen

Dieser kindlichen Natur;[150]


Und es fehlt mir nur das eine,

Daß ich solchen Wonnetag

Nicht verklärt im Widerscheine

Deines Auges schauen mag.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 150-151.
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