20.

[154] Auf Chäroneas Heide

Im alten Schlachtgefild'

Liegt wie versteint im Leide

Ein marmorn Löwenbild.


Es mahnt, daß kühngemutet,

Wo jetzt die Disteln wehn,

Im Kampf dereinst verblutet

Die Jugend von Athen.


O Hellas, welche Lippe

Sagt, was dein Herz erlitt,

Als hier des Fremdlings Hippe

Der Freiheit Lilien schnitt!


Was half dir da der Musen

Verhängnisvolle Gunst,

Im götterreichen Busen

Das heitre Licht der Kunst?


Der Tiefsinn deiner Weisen,

Der Sänger Lorbeerzier,

An jenem Tag von Eisen,

Was frommt' es alles dir?


Ach, krank im Kern des Lebens

Von eifersücht'ger Glut,

Verströmtest du vergebens

Dein letztes Heldenblut.


Weil du gelöst mit Pochen

Des Pfeilbunds stark Geflecht,

Sank, Schaft für Schaft zerbrochen,

Dahin dein ganz Geschlecht.


Mit ehrnem Schluß die Zügel

Ergriff Barbarenhand –

O schau' in diesen Spiegel,

Schau' her, mein Vaterland!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 154-155.
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