9.

[146] O sieh, wie hinterm Waldgebirge sacht

Ein sel'ger Schein emporquillt in die Nacht!

Dort, in der Pinienwipfel Finsternis,

Den flücht'gen Wagen hemmt jetzt Artemis

Und steigt in Glanz gehüllt am Felsenhang

Zum Jüngling nieder, der ihr Herz bezwang.

Er schlummert ahnungslos; sie weckt ihn nicht,

So lieblich glüht vom Traum sein Angesicht;

Versunken läßt sie in entzücktes Schaun

Auf Wang' und Stirn ihm leise Küsse taun. –

Wohl harren Erd' und Himmel unerhellt,

Doch wer vergißt nicht, wenn er liebt, die Welt!


Da schnauben kühl vom Tau die Zelter schon,

Sie reißt sich los: »Fahr wohl, Endymion!«[146]

Ein einz'ger Kuß noch, und mit sichrer Hand

Die Zügel faßt sie, halb zurückgewandt,

Und sanft vom Hang sich lösend, überm Tann

Ins Blaue, zaudernd, schwebt ihr Lichtgespann.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 146-147.
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