22.

[112] Oftmals, wenn ich ganz allein

Brüte nachtumgeben,

Fließt's wie sanfter Mondenschein

Plötzlich in mein Leben.


Jeden Druck, den ich empfand

Schmerzlich und beklommen,

Fühl' ich wie von Engelshand

Sacht hinweggenommen.


Süßer Jugendschauer quillt

Über mein Gemüte,

Und es dehnt sich tief gestillt,

Wie im Tau die Blüte.[112]


Staunend sinn' ich, was geschehn,

So den Schmerz zu bannen?

Dieses Friedens himmlisch Wehn,

Dieser Glanz, von wannen?


Und ein Ahnen will zuletzt

In mein Herz sich senken,

Daß geliebte Tote jetzt

Drüben mein gedenken.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 112-113.
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