10.

[169] Komm herein, o Nacht, und kühle

Diese Gluten, diesen Schmerz!

Aus dem Wirrsal der Gefühle

Wie errett' ich nur mein Herz!


Wo wir einst so glücklich waren,

Hab' ich wieder sie gesehn,

Und aufs neue, wie vor Jahren,

Ist's um meine Ruh' geschehn.[169]


Lodernd aus der Asche steigen

Flammen, die jetzt Frevel sind;

Denn sie ist nicht mehr ihr eigen,

Ach, und ist so hold und – blind.


Weil an ihrer Reinheit Blüte

Nie ein trüber Hauch gerührt,

Ahnt sie nicht in ihrer Güte,

Welchen Brand sie lächelnd schürt.


Harmlos zeigt sie, kindlich offen,

Sich beglückt, wenn ich erschien –

Aber ich, ins Herz getroffen,

Ach, was kann ich tun als fliehn!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 169-170.
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