2.

[302] Schon lichten sich umher

Im Buchenforst die Steige,

Ein wunderfrischer Hauch

Läuft flüsternd durch die Zweige.[302]


Und plötzlich dunkelblau,

Gleichwie aus Stahl gediegen,

Seh' ich dich, heil'ges Meer,

Zu meinen Füßen liegen.


Sei mir gegrüßt, o Flut,

Mit sehnsuchtvollen Schlägen

Wie einer Mutter schwillt

Dir meine Brust entgegen.


Wie oft auf deinem Schoß

Hast du gewiegt den Knaben,

Wie oft sein kindisch Spiel

Geschmückt mit bunten Gaben!


Und als der Jüngling dich

Gesucht in schweren Tagen,

Hast du sein Herz gestählt

Zum Tragen und zum Wagen;


Hast am Unendlichen

Sein endlich Leid ihn messen

Gelehrt und im Gesang

Des bangen Muts vergessen.


O sei mir hold auch heut

Und laß mich wie vor Jahren

Die Wunder deines Sturms

Und deiner Still' erfahren,


Daß ich Genesungslust

Aus deinem Odem trinke,

Und all mein Herzeleid

In deinen Grund versinke!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 302-303.
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