CASELLA

[73] Der sonne pfeile allerseiten flogen.

Sie hatten schon mit ihrer heissen traufe

Den steinbock fortgejagt vom mittagsbogen:


Da hob vor uns das haupt der neue haufe

Und redete uns an: Wenn ihrs verstehet

So lehrt uns wie man auf zum berge laufe.


Drauf gab Vergil zur antwort: Vielleicht sehet

Ihr uns als kundige an in diesem teile –

Wir stehn als fremdlinge wie ihr hier stehet.


Wir kamen vor euch an nur eine weile.

Wir sahn ein spiel nur in dem hier gestreckten

So war der frühere pfad von wilder steile.


Als nun die seelen · näher uns · entdeckten

An meinem hauch dass ich noch lebend wäre

Da bebten und erbleichten die geschreckten.[73]


Wie zu dem boten mit der neuen märe

Die menschen stürzen und sein wort erwarten

Und keiner um sich schaut wen er gefähre:


So drängten diese sich heran und starrten

Mir in das angesicht nicht mehr bedenkend

Dass noch der läutrung werke auf sie harrten.


Und eine sah ich mir entgegenlenkend

Dass sie mit grossem eifer mich umarme

Das ähnliche verlangen in mich senkend.


O nur der anblick war dem leeren schwarme!

Dreimal umschlang ich sie am gleichen flecke

Und dreimal kehrten mir zur brust die arme.


Ich glaube ich entfärbte mich vom schrecke.

Sie aber lächelte im ruckwärts-schweben

Und ich ihr folgend ging dieselbe strecke.


Sie wehrte darauf sachte: Lass dies streben!

Da kannt ich wer er war und bat: Verbleibe

Um eine weile antwort mir zu geben![74]


Und die gestalt: Wie ich im irdischen leibe

Dich liebte werd ich auch gelöst dich lieben –

Ich warte gern · doch künde was Dich treibe!


O mein Casella! ich muss noch verschieben

Die lezte reise bis zu spätern tagen.

Doch was hielt dich so lang von hier vertrieben?


Und er: Ich habe nur mein recht ertragen

Wenn Jener der hier nach belieben schlichtet

Die überfahrt mir mehrmals abgeschlagen.


Doch da er nur nach höherem wunsche richtet

Darf grade seit drei monden jeder kommen

Zu seinem nachen ohne dass er sichtet.


So ward ich der ich lang am strand geschwommen

Wo sich der Tiber giesst mit salz durchdrungen

Von jenem engel gütig aufgenommen.


Der hat nun dorthin sich zurückgeschwungen ·

Denn alles sammelt sich an dieser rille

Was nicht vom höllenflusse wird verschlungen.[75]


Ich sagte ihm: Wenn nicht ein neuer wille

Dir nimmt des liebessanges brauch und wissen

Der einst mein sehnen hob in heilige stille:


So spende dieses trostes einen bissen

Der seele die mit ihrem leibe dringet

Hierher so voll von grossen kümmernissen.


›O Liebe die zu meinem geiste singet‹

Begann er darauf in so süssem tone

Dass noch die süssigkeit im ohr mir klinget.


Mein Meister ich und was in dieser zone

Von geistern schwebte horchten mit entzücken

Als ob kein andrer wunsch mehr in uns wohne.


Fegefeuer · II. Gesang · 55–117.[76]

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 73-77.
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