ÜBER KRAFT

[87] Vor den zu lebhaften ausbrüchen der kraft im kunstwerk muss man auf der hut sein .. hinter ihnen steht oft gar nicht des empfindens wahrheit und tiefe · sondern nur schwärende unreife oder die anstrengung sich durch die eigenen schreie in etwas einzureden was nicht vorhanden ist. Durch bezwingen dieser ausbrüche zeigt sich wahre kraft. So wird Nietzsches ›schreibe mit blut‹ von vielen missverstanden: ›zeige damit man dich für echt hält ohne scheu die flecke deiner wunden und die zuckungen deiner wollust‹. Diese mögen wir aber gar nicht sehen · denn kunst ist nicht schmerz und nicht wollust sondern der triumph über das eine und die verklärung des andern. Tiefster schmerz deutet sich auch nicht an durch ausstossen von wehlauten auf offenem markt: der kenner der seele aber hört ihn unendlich rührend als seufzer aus einer scheuen einsamkeit. Tiefste wollust gibt sich auch nicht zu erkennen durch anwendung heftiger worte und bilder sondern durch ein lächeln · durch eine zerdrückte träne und durch ein beben. Aus der grösse des[87] sieges und der verklärung fühle man grösse und echtheit der erregung. So dachte gewiss auch Nietzsche · sonst hätte er nicht gesagt: ›schreibe mit blut‹ sondern ›schreibe mit roter tinte‹.

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Stefan George: Tage und Taten. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 17, Berlin 1933, S. 87-88.
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