1795

[33] Die »Horen« wurden ausgegeben, »Episteln«, »Elegien«, »Unterhaltungen der Ausgewanderten« von meiner Seite beigetragen. Außerdem überlegten und berieten wir gemeinsam den ganzen Inhalt dieser neuen Zeitschrift, die Verhältnisse der Mitarbeiter und was bei dergleichen Unternehmungen sonst vorkommen mag. Hiebei lernte ich Mitlebende kennen, ich[33] ward mit Autoren und Produktionen bekannt, die mir sonst niemals einige Aufmerksamkeit abgewonnen hätten. Schiller war überhaupt weniger ausschließend als ich und mußte nachsichtig sein als Herausgeber.

Bei allem diesem konnt ich mich nicht enthalten, anfangs Juli nach Karlsbad zu gehen und über vier Wochen daselbst zu verweilen. In jüngern Jahren ist man ungeduldig bei den kleinsten Übeln, und Karlsbad war mir schon öfters heilsam gewesen. Vergebens aber hatt ich mancherlei Arbeiten mitgenommen, denn die auf gar vielfache Weise mich berührende große Masse von Menschen zerstreute, hinderte mich, gab mir freilich aber auch manche neue Aussicht auf Welt und Persönlichkeiten.

Kaum war ich zurück, als von Ilmenau die Nachricht einlief, ein bedeutender Stollenbruch habe dem dortigen Bergbau den Garaus gemacht. Ich eilte hin und sah nicht ohne Bedenken und Betrübnis ein Werk, worauf so viel Zeit, Kraft und Geld verwendet worden, in sich selbst erstickt und begraben.

Erheiternd war mir dagegen die Gesellschaft meines fünfjährigen Sohnes, der diese Gegend, an der ich mich nun seit zwanzig Jahren müde gesehen und gedacht, mit frischem kindlichem Sinn wieder auffaßte, alle Gegenstände, Verhältnisse, Tätigkeiten mit neuer Lebenslust ergriff und viel entschiedener, als mit Worten hätte geschehen können, durch die Tat aussprach: daß dem Abgestorbenen immer etwas Belebtes folge und der Anteil der Menschen an dieser Erde niemals erlöschen könne.

Von da ward ich nach Eisenach gefordert; der Hof weilte daselbst mit mehreren Fremden, besonders Emigrierten. Bedenkliche Kriegsbewegungen riefen jedermann zur Aufmerksamkeit: Die Österreicher waren sechzigtausend Mann über den Main gegangen, und es schien, als wenn in der Gegend von Frankfurt die Ereignisse lebhaft werden sollten. Einen Auftrag, der mich dem Kampfplatze genähert hätte, wußte ich abzulehnen; ich kannte das Kriegsunheil zu sehr, als daß ich es hätte aufsuchen sollen.[34]

Hier begegnete mir ein Fall, an welchen ich öfters zu denken im Leben Ursache hatte. Graf Dumanoir, unter allen Emigrierten ohne Frage der am meisten Gebildete, von tüchtigem Charakter und reinem Menschenverstand, dessen Urteil ich meist unbefangen gefunden hatte – er begegnete mir in Eisenach vergnügt auf der Straße und erzählte, was in der Frankfurter Zeitung Günstiges für ihre Angelegenheiten stehe. Da ich doch auch den Gang des Weltwesens ziemlich vor mir im Sinne hatte, so stutzte ich, und es schien mir unbegreiflich, wie dergleichen sich sollte ereignet haben. Ich eilte daher, mir das Blatt zu verschaffen, und konnte beim Lesen und Wiederlesen nichts Ähnliches darin finden, bis ich zuletzt eine Stelle gewahrte, die man allenfalls auf diese Angelegenheit beziehen konnte, da sie denn aber gerade das Gegenteil würde bedeutet haben.

Früher hatte ich schon einmal ein Stärkeres, aber freilich auch von einem Emigrierten vernommen. Die Franzosen hatten sich bereits über der ganzen Oberfläche ihres Vaterlandes auf alle Weise gemordet; die Assignate waren zu Mandaten und diese wieder zu nichts geworden; von allem dem war umständlich und mit großem Bedauern die Rede, als ein Marquis mit einiger Beruhigung versetzte: dies sei zwar ein großes Unglück, nur befürchte er, es werde noch gar der bürgerliche Krieg ausbrechen und der Staatsbanquerutt unvermeidlich sein.

Wem dergleichen von Beurteilung unmittelbarer Lebensverhältnisse vorgekommen, der wird sich nicht mehr wundern, wenn ihm in Religion, Philosophie und Wissenschaft, wo des Menschen abgesondertes Innere in Anspruch genommen wird, ebensolche Verfinsterung des Urteils und der Meinung am hellen Mittag begegnet.

In derselben Zeit ging Freund Meyer nach Italien zurück; denn obgleich der Krieg in der Lombardei schon heftig geführt wurde, so war doch im übrigen alles noch unangetastet, und wir lebten im Wahn, die Jahre von 87 und 88 wiederholen zu können. Seine Entfernung beraubte mich alles Gesprächs[35] über bildende Kunst, und selbst meine Vorbereitung, ihm zu folgen, führte mich auf andere Wege.

Ganz abgelenkt und zur Naturbetrachtung zurückgeführt ward ich, als gegen Ende des Jahrs die beiden Gebrüder von Humboldt in Jena erschienen. Sie nahmen beiderseits in diesem Augenblick an Naturwissenschaften großen Anteil, und ich konnte mich nicht enthalten, meine Ideen über vergleichende Anatomie und deren methodische Behandlung im Gespräch mitzuteilen. Da man meine Darstellungen zusammenhängend und ziemlich vollständig erachtete, ward ich dringend aufgefordert, sie zu Papier zu bringen, welches ich auch sogleich befolgte, indem ich an Max Jacobi das Grundschema einer vergleichenden Knochenlehre, gegenwärtig, wie es mir war, diktierte, den Freunden Gnüge tat und mir selbst einen Anhaltepunkt gewann, woran ich meine weiteren Betrachtungen knüpfen konnte.

Alexander von Humboldts Einwirkungen verlangen besonders behandelt zu werden. Seine Gegenwart in Jena fördert die vergleichende Anatomie; er und sein älterer Bruder bewegen mich, das noch vorhandene allgemeine Schema zu diktieren. Bei seinem Aufenthalt in Bayreuth ist mein briefliches Verhältnis zu ihm sehr interessant.

Gleichzeitig und verbunden mit ihm tritt Geheimerat Wolf von einer andern Seite, doch im allgemeinen Sinne mit in unsern Kreis.

Die Versendung der Freiexemplare von »Wilhelm Meisters« erstem Teil beschäftigte mich eine Weile. Die Beantwortung war nur teilweise erfreulich, im ganzen keineswegs förderlich; doch bleiben die Briefe, wie sie damals einlangten und noch vorhanden sind, immer bedeutend und belehrend. Herzog und Prinz von Gotha, Frau von Frankenberg daselbst, von Thümmel, meine Mutter, Sömmerring, Schlosser, von Humboldt, von Dalberg in Mannheim, Voß, die meisten, wenn man es genau nimmt, se defendendo, gegen die geheime Gewalt des Werkes sich in Positur setzend. Eine geistreiche geliebte Freundin aber brachte mich ganz besonders in Verzweiflung[36] durch Ahnung manches Geheimnisses, Bestreben nach Enthüllung und ängstliche Deutelei, anstatt daß ich gewünscht hätte, man möchte die Sache nehmen, wie sie lag, und sich den faßlichen Sinn zueignen.

Indem nun Unger die Fortsetzung betrieb und den zweiten Band zu beschleunigen suchte, ergab sich ein widerwärtiges Verhältnis mit Kapellmeister Reichardt. Man war mit ihm, ungeachtet seiner vor – und zudringlichen Natur, in Rücksicht auf sein bedeutendes Talent in gutem Vernehmen gestanden; er war der erste, der mit Ernst und Stetigkeit meine lyrischen Arbeiten durch Musik ins Allgemeine förderte, und ohnehin lag es in meiner Art, aus herkömmlicher Dankbarkeit unbequeme Menschen fortzudulden, wenn sie mir es nicht gar zu arg machten, alsdann aber meist mit Ungestüm ein solches Verhältnis abzubrechen. Nun hatte sich Reichardt mit Wut und Ingrimm in die Revolution geworfen; ich aber, die greulichen unaufhaltsamen Folgen solcher gewalttätig aufgelösten Zustände mit Augen schauend und zugleich ein ähnliches Geheimtreiben im Vaterlande durch und durch blickend, hielt ein für allemal am Bestehenden fest, an dessen Verbesserung, Belebung und Richtung zum Sinnigen, Verständigen ich mein Leben lang bewußt und unbewußt gewirkt hatte, und konnte und wollte diese Gesinnung nicht verhehlen.

Reichardt hatte auch die Lieder zum »Wilhelm Meister« mit Glück zu komponieren angefangen, wie denn immer noch seine Melodie zu »Kennst du das Land« als vorzüglich bewundert wird. Unger teilte ihm die Lieder der folgenden Bände mit, und so war er von der musikalischen Seite unser Freund, von der politischen unser Widersacher, daher sich im stillen ein Bruch vorbereitete, der zuletzt unaufhaltsam an den Tag kam.

Über das Verhältnis zu Jacobi habe ich hiernächst Besseres zu sagen, ob es gleich auch auf keinem sichern Fundament gebaut war. Lieben und Dulden und von jener Seite Hoffnung, eine Sinnesveränderung in mir zu bewirken, drücken es am kürzesten aus. Er war, vom Rheine wegwandernd, nach Holstein gezogen und hatte die freundlichste Aufnahme zu[37] Emkendorf in der Familie des Grafen Reventlow gefunden; er meldete mir sein Behagen an den dortigen Zuständen aufs reizendste, beschrieb verschiedene Familienfeste zur Feier seines Geburtstags und des Grafen anmutig und umständlich, worauf denn auch eine wiederholte dringende Einladung dorthin erfolgte.

Dergleichen Mummereien innerhalb eines einfachen Familienzustandes waren mir immer widerwärtig, die Aussicht darauf stieß mich mehr ab, als daß sie mich angezogen hätte; mehr aber noch hielt mich das Gefühl zurück, daß man meine menschliche und dichterische Freiheit durch gewisse konventionelle Sittlichkeiten zu beschränken gedachte, und ich fühlte mich hierin so fest, daß ich der dringenden Anforderung, einen Sohn, der in der Nähe studiert und promoviert hatte, dorthin zu geleiten, keineswegs Folge leistete, sondern auf meiner Weigerung standhaft verharrte.

Auch seine Briefe über »Wilhelm Meister« waren nicht einladend; dem Freunde selbst sowie seiner vornehmen Umgebung erschien das Reale, noch dazu eines niedern Kreises, nicht erbaulich; an der Sittlichkeit hatten die Damen gar manches auszusetzen, und nur ein einziger tüchtiger, überschauender Weltmann, Graf Bernstorff, nahm die Partei des bedrängten Buches. Um so weniger konnte der Autor Lust empfinden, solche Lektionen persönlich einzunehmen und sich zwischen eine wohlwollende, liebenswürdige Pedanterie und den Teetisch geklemmt zu sehen.

Von der Fürstin Gallitzin erinnere ich mich nicht etwas über »Wilhelm Meister« vernommen zu haben, aber in diesem Jahre klärte sich eine Verwirrung auf, welche Jacobi zwischen uns gewirkt hatte, ich weiß nicht, ob aus leichtsinnigem Scherz oder Vorsatz; es war aber nicht löblich, und wäre die Fürstin nicht so reiner Natur gewesen, so hätte sich früh oder spät eine unerfreuliche Scheidung ergeben. Auch sie war von Münster vor den Franzosen geflohen; ihr großer, durch Religion gestärkter Charakter hielt sich aufrecht, und da eine ruhige Tätigkeit sie überallhin begleitete, blieb sie mit mir in wohlwollender Verbindung,[38] und ich war froh, in jenen verworrenen Zeiten ihren Empfehlungen gemäß manches Gute zu stiften.

Wilhelm von Humboldts Teilnahme war indes fruchtbarer; aus seinen Briefen geht eine klare Einsicht in das Wollen und Vollbringen hervor, daß ein wahres Fördernis daraus erfolgen mußte.

Schillers Teilnahme nenne ich zuletzt, sie war die innigste und höchste; da jedoch seine Briefe hierüber noch vorhanden sind, so darf ich weiter nichts sagen, als daß die Bekanntmachung derselben wohl eins der schönsten Geschenke sein möchte, die man einem gebildeten Publikum bringen kann.

Das Theater war ganz an mich gewiesen; was ich im ganzen übersah und leitete, ward durch Kirms ausgeführt; Vulpius, dem es zu diesem Geschäft an Talent nicht fehlte, griff ein mit zweckmäßiger Tätigkeit. Was im Laufe dieses Jahrs geleistet wurde, ist ungefähr folgendes:

Die »Zauberflöte« gewährte noch immer ihren früheren Einfluß, und die Opern zogen mehr an als alles übrige. »Don Juan«, »Doktor und Apotheker«, »Cosa Rara« »Das Sonnenfest der Brahminen« befriedigten das Publikum. Lessings Werke tauchten von Zeit zu Zeit auf, doch waren eigentlich Schröderische, Ifflandische, Kotzebuesche Stücke an der Tagesordnung. Auch Hagemann und Großmann galten etwas. »Abällino« ward den Schillerischen Stücken ziemlich gleichgestellt; unsere Bemühung aber, alles und jedes zur Erscheinung zu bringen, zeigte sich daran vorzüglich, daß wir ein Stück von Maier, den »Sturm von Boxberg«, aufzuführen unternahmen, freilich mit wenig Glück; indessen hatte man doch ein solches merkwürdiges Stück gesehen und sein Dasein wo nicht beurteilt, doch empfunden.

Daß unsere Schauspieler in Lauchstädt, Erfurt, Rudolstadt von dem verschiedensten Publikum mit Freuden aufgenommen, durch Enthusiasmus belebt und durch gute Behandlung in der Achtung gegen sich selbst gesteigert wurden, gereichte nicht zum geringen Vorteil unserer Bühne und zur Anfrischung einer Tätigkeit, die, wenn man dasselbe Publikum immer vor[39] sich sieht, dessen Charakter, dessen Urteilsweise man kennt, gar bald zu erschlaffen pflegt.

Wenden sich nun meine Gedanken von diesen kleinen, in Vergleich mit dem Weltwesen höchst unwichtigen Verhältnissen zu diesem, so muß mir jener Bauer einfallen, den ich bei der Belagerung von Mainz im Bereich der Kanonen hinter einem auf Rädern vor sich hingeschobenen Schanzkorbe seine Feldarbeit verrichten sah. Der einzelne beschränkte Mensch gibt seine nächsten Zustände nicht auf, wie auch das große Ganze sich verhalten möge.

Nun verlauteten die Baseler Friedenspräliminarien, und ein Schein von Hoffnung ging dem nördlichen Deutschland auf. Preußen machte Frieden, Österreich setzte den Krieg fort, und nun fühlten wir uns in neuer Sorge befangen: denn Kursachsen verweigerte den Beitritt zu einem besondern Frieden. Unsere Geschäftsmänner und Diplomaten bewegten sich nun nach Dresden, und unser gnädigster Herr, anregend alle und tätig vor allen, begab sich nach Dessau. Inzwischen hörte man von Bewegungen unter den Schweizer Landleuten, besonders am oberen Züricher See; ein deshalb eingeleiteter Prozeß regte den Widerstreit der Gesinnungen noch mehr auf; doch bald ward unsere Teilnahme schon wieder in die Nähe gerufen. Das rechte Mainufer schien abermals unsicher, man fürchtete sogar für unsere Gegenden, eine Demarkationslinie kam zur Sprache; doppelt und dreifach traten Zweifel und Sorge hervor.

Clerfait tritt auf, wir halten uns an Kursachsen; nun werden aber schon Vorbereitungen und Anstalten gefordert, und als man Kriegssteuern ausschreiben muß, kommt man endlich auf den glücklichen Gedanken, auch den Geist, an den man bisher nicht gedacht hatte, kontribuabel zu machen; doch verlangte man nur von ihm ein Don gratuit.

In dem Laufe dieser Jahre hatte meine Mutter den wohlbestellten Weinkeller, die in manchen Fächern wohlausgerüstete Bibliothek, eine Gemäldesammlung, das Beste damaliger Künstler enthaltend, und was sonst nicht alles verkauft, und ich sah, indem sie dabei nur eine Bürde los zu sein froh war,[40] die ernste Umgebung meines Vaters zerstückt und verschleudert. Es war auf meinen Antrieb geschehen, niemand konnte damals dem andern raten noch helfen. Zuletzt blieb das Haus noch übrig; dies wurde endlich auch verkauft und die Meubels, die sie nicht mitnehmen wollte, zum Abschluß in einer Auktion vergeudet. Die Aussicht auf ein neues, lustiges Quartier an der Hauptwache realisierte sich, und dieser Wechsel gewährte zur Zeit, da nach vorüberfliegender Friedenshoffnung neue Sorge wieder eintrat, ihr eine zerstreuende Beschäftigung.

Als bedeutendes und für die Folge fruchtbares Familienereignis habe ich zu bemerken, daß Nicolovius, zu Eutin wohnhaft, meine Nichte heiratete, die Tochter Schlossers und meiner Schwester.

Außer den gedachten Unbilden brachte der Versuch, entschiedene Idealisten mit den höchst realen akademischen Verhältnissen in Verbindung zu setzen, fortdauernde Verdrießlichkeiten. Fichtens Absicht, sonntags zu lesen und seine von mehreren Seiten gehinderte Tätigkeit frei zu machen, mußte den Widerstand seiner Kollegen höchst unangenehm empfinden, bis sich denn gar zuletzt ein Studentenhaufen vors Haus zu treten erkühnte und ihm die Fenster einwarf: die unangenehmste Weise, von dem Dasein eines Nicht-Ichs überzeugt zu werden.

Aber nicht seine Persönlichkeit allein, auch die eines andern machte den Unter- und Oberbehörden viel zu schaffen. Er hatte einen denkenden jungen Mann namens Weißhuhn nach Jena berufen, einen Gehülfen und Mitarbeiter an ihm hoffend; allein dieser wich bald in einigen Dingen, das heißt für einen Philosophen in allen, von ihm ab, und ein reines Zusammensein war gar bald gestört, ob wir gleich zu den »Horen« dessen Teilnahme nicht verschmähten.

Dieser Wackere, mit den äußeren Dingen noch weniger als Fichte sich ins Gleichgewicht zu setzen fähig, erlebte bald mit Prorektor und Gerichten die unangenehmsten persönlichen Händel; es ging auf Injurienprozesse hinaus, welche zu beschwichtigen[41] man von oben her die eigentliche Lebensweisheit hereinbringen mußte.

Wenn uns nun die Philosophen kaum beizulegende Händel von Zeit zu Zeit erneuerten, so nahmen wir jeder günstigen Gelegenheit wahr, um die Angelegenheiten der Naturfreunde zu befördern. Der geistig strebende und unaufhaltsam vordringende Batsch war denn im Wirklichen doch schrittweis zufriedenzustellen; er empfand seine Lage, kannte die Mittel, die uns zu Gebote standen, und beschied sich in billigen Dingen. Daher gereichte es uns zur Freude, ihm in dem fürstlichen Garten einen festeren Fuß zu verschaffen; ein Glashaus, hinreichend für den Anfang, ward nach seinen Angaben errichtet, wobei die Aussicht auf fernere Begünstigung sich von selbst hervortat.

Für einen Teil der jenaischen Bürgerschaft ward auch gerade in dieser Zeit ein bedeutendes Geschäft beendigt. Man hatte, den alten Arm der Saale oberhalb der Rasenmühle, der durch mehrere Krümmungen die schönsten Wiesen des rechten Ufers in Kiesbette des linken verwandelte, ins Trockne zu legen, einen Durchstich angeordnet und den Fluß in gerader Linie abwärtszuführen unternommen. Schon einige Jahre dauerte die Bemühung, welche endlich gelang und den anstoßenden Bürgern, gegen geringe frühere Beiträge, ihre verlornen Räume wiedergab, indem ihnen die alte Saale und die indes zu nutzbaren Weidichten herangewachsenen Kiesräume zugemessen und sie auf diese Weise über ihre Erwartung befriedigt wurden; weshalb sie auch eine seltene Dankbarkeit gegen die Vorgesetzten des Geschäftes ausdrückten.

Unzufriedene machte man jedoch auch bei dieser Gelegenheit: denn auch solche Anlieger, die im Unglauben auf den Erfolg des Geschäftes die früheren geringen Beiträge verweigert hatten, verlangten ihren Teil an dem eroberten Boden wo nicht als Recht, doch als Gunst, die aber hier nicht statthaben konnte, indem herrschaftliche Kasse für ein bedeutendes Opfer einige Entschädigung an dem errungenen Boden zu fordern hatte.[42]

Dreier Werke von ganz verschiedener Art, welche jedoch in diesem Jahr das größte Aufsehen erregten, muß ich noch gedenken. »Dumouriez' Leben« ließ uns in die besondern Vorfallenheiten, wovon uns das Allgemeine leider genugsam bekannt war, tiefer hineinsehen, manche Charaktere wurden uns aufgeschlossen, und der Mann, der uns immer viel Anteil abgewonnen hatte, erschien uns klärer und im günstigen Lichte. Geistreiche Frauenzimmer, die denn doch immer irgendwo Neigung unterzubringen genötigt sind und den Tageshelden wie billig am meisten begünstigen, erquickten und erbauten sich an diesem Werke, das ich sorgfältig studierte, um die Epoche seiner Großtaten, von denen ich persönlich Zeuge gewesen, mir bis ins einzeln Geheime genau zu vergegenwärtigen. Dabei erfreute ich mich denn, daß sein Vortrag mit meinen Erfahrungen und Bemerkungen vollkommen übereinstimmte.

Das zweite, dem allgemeinen Bemerken sich aufdringende Werk waren Baldes Gedichte, welche nach Herders Übersetzung, jedoch mit Verheimlichung des eigentlichen Autors, ans Licht kamen und sich der schönsten Wirkung erfreuten.

Von reichem Zeitgehalt, mit deutschen Gesinnungen ausgesprochen, wären sie immer willkommen gewesen; kriegerisch verworrene Zeitläufte aber, die sich in allen Jahrhunderten gleichen, fanden in diesem dichterischen Spiegel ihr Bild wieder, und man empfand als wie von gestern, was unsere Urvorfahren gequält und geängstigt hatte.

Einen ganz andern Kreis bildete sich das dritte Werk. Lichtenbergs »Hogarth« und das Interesse daran war eigentlich ein gemachtes: denn wie hätte der Deutsche, in dessen einfachem, reinen Zustande sehr selten solche exzentrische Fratzen vorkommen, hieran sich wahrhaft vergnügen können? Nur die Tradition, die einen von seiner Nation hochgefeierten Namen auch auf dem Kontinent hatte geltend gemacht, nur die Seltenheit, seine wunderlichen Darstellungen vollständig zu besitzen, und die Bequemlichkeit, zu Betrachtung und Bewunderung seiner Werke weder Kunstkenntnis noch höheren Sinnes zu bedürfen, sondern allein bösen Willen und Verachtung der[43] Menschheit mitbringen zu können, erleichterte die Verbreitung ganz besonders, vorzüglich aber, daß Hogarths Witz auch Lichtenbergs Witzeleien den Weg gebahnt hatte.

Junge Männer, die von Kindheit auf, seit beinahe zwanzig Jahren, an meiner Seite heraufgewachsen, sahen sich nunmehr in der Welt um, und die von ihnen mir zugehenden Nachrichten mußten mir Freude machen, da ich sie mit Verstand und Tatkraft auf ihrer Bahn weiterschreiten sah. Friedrich von Stein hielt sich in England auf und gewann daselbst für seinen technischen Sinn viele Vorteile. August von Herder schrieb aus Neufchâtel, wo er sich auf seine übrigen Lebenszwecke vorzubereiten dachte.

Mehrere Emigrierte waren bei Hof und in der Gesellschaft wohl aufgenommen, allein nicht alle begnügten sich mit diesen sozialen Vorteilen. Manche von ihnen hegten die Absicht, hier wie an andern Orten durch eine löbliche Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Ein wackerer Mann, schon vorgerückt in Jahren, mit Namen von Wendel, brachte zur Sprache, daß in llmenau bei einem gesellschaftlichen Hammerwerke der herzoglichen Kammer einige Anteile zustanden. Freilich wurde dieses Werk auf eine sonderbare Weise benutzt, indem die Hammermeister in einem gewissen Turnus arbeiteten, jeder für sich, so gut er vermochte, um es nach kurzer Frist seinem Nachfolger abermals auf dessen eigne Rechnung zu überlassen. Eine solche Einrichtung läßt sich nur in einem altherkömmlichen Zustande denken, und ein höher gesinnter, an eine freiere Tätigkeit gewöhnter Mann konnte sich hierin nicht finden, ob man ihm gleich die herrschaftlichen Anteile für ein mäßiges Pachtgeld überließ, das man vielleicht nie eingefordert hätte. Sein ordnungsliebender, ins Ganze rege Geist suchte durch erweiterte Plane seine Unzufriedenheit zu beschwichtigen; bald sollte man mehrere Teile, bald das Ganze zu akquirieren suchen: beides war unmöglich, da sich die mäßige Existenz einiger ruhigen Familien auf dieses Geschäft gründete.

Nach etwas anderem war nun der Geist gerichtet; man baute einen Reverberierofen, um altes Eisen zu schmelzen und eine[44] Gußanstalt ins Werk zu richten. Man versprach sich große Wirkung von der aufwärts konzentrierten Glut; aber sie war groß über alle Erwartung: denn das Ofengewölbe schmolz zusammen, indem das Eisen zum Fluß kam. Noch manches andere ward unternommen ohne glücklichen Erfolg; der gute Mann, endlich empfindend, daß er gänzlich aus seinem Elemente entfallen sei, geriet in Verzweiflung, nahm eine übergroße Gabe Opium zu sich, die, wenn nicht auf der Stelle, doch in ihren Folgen seinem Leben ein Ende machte. Freilich war sein Unglück so groß, daß weder die Teilnahme des Fürsten noch die wohlwollende Tätigkeit der beauftragten Räte ihn wiederherzustellen vermochte. Weit entfernt von seinem Vaterlande, in einem stillen Winkel des Thüringer Waldes, fiel auch er, ein Opfer der grenzenlosen Umwälzung.

Von Personen, deren Schicksalen und Verhältnissen bemerke folgendes:

Schlosser wandert aus und begibt sich, da man nicht an jedem Asyl verzweifeln konnte, nach Ansbach und hat die Absicht, daselbst zu verbleiben.

Herder fühlt sich von einiger Entfernung, die sich nach und nach hervortut, betroffen, ohne daß dem daraus entstehenden Mißgefühl wäre zu helfen gewesen. Seine Abneigung gegen die Kantische Philosophie und daher auch gegen die Akademie Jena hatte sich immer gesteigert, während ich mit beiden durch das Verhältnis zu Schiller immer mehr zusammenwuchs. Daher war jeder Versuch, das alte Verhältnis herzustellen, fruchtlos, um so mehr, als Wieland die neuere Lehre selbst in der Person seines Schwiegersohns verwünschte und als Latitudinarier sehr übel empfand, daß man Pflicht und Recht durch Vernunft, so wie es hieß, fixieren und allem humoristisch-poetischen Schwanken ein Ende zu machen drohte.

Traurig aber war mir ein Schreiben des höchst bedeutenden Karl von Moser. Ich hatte ihn früher auf dem Gipfel ministerieller Machtvollkommenheit gesehen, wo er, den Ehekontrakt zwischen unserm teuren fürstlichen Ehepaar aufzusetzen, nach Karlsruhe berufen ward, zu einer Zeit, wo er mir manche Gefälligkeit[45] erwies, ja einen Freund durch entschiedene Kraft und Einfluß vom Untergang errettete. Dieser war nun seit zwanzig Jahren nach und nach in seinen Vermögensumständen dergestalt zurückgekommen, daß er auf einem alten Bergschlosse Zwingenberg ein kümmerliches Leben führte. Nun wollte er sich auch einer feinen Gemäldesammlung entäußern, die er zu besserer Zeit mit Geschmack um sich versammelt hatte; er verlangte meine Mitwirkung, und ich konnte sein zartes, dringendes Verlangen leider nur mit einem freundlichhöflichen Brief erwidern. Hierauf ist die Antwort eines geistreichen, bedrängten und zugleich in sein Schicksal ergebenen Mannes von der Art, daß sie mich noch jetzt wie damals rührt, da ich in meinem Bereich kein Mittel sah, solchem Bedürfnisse abzuhelfen.

Anatomie und Physiologie verlor ich dieses Jahr fast nicht aus den Augen. Hofrat Loder demonstrierte das menschliche Gehirn einem kleinen Freundeszirkel, hergebrachterweise, in Schichten von oben herein, mit seiner ihn auszeichnenden Klarheit. Die Camperschen Arbeiten wurden mit demselben durchgesehen und durchgedacht.

Sömmerrings Versuch, dem eigentlichen Sitz der Seele näher nachzuspüren, veranlaßte nicht wenige Beobachtung, Nachdenken und Prüfung.

Brandis in Braunschweig zeigte sich in Naturbetrachtungen geistreich und belebend; auch er, wie wir, versuchte sich an den schwersten Problemen.

Seit jener Epoche, wo man sich in Deutschland über den Mißbrauch der Genialität zu beklagen anfing, drängten sich freilich von Zeit zu Zeit auffallend verrückte Menschen heran. Da nun ihr Bestreben in einer dunkeln, düstern Region versierte und gewöhnlich die Energie des Handelns ein günstiges Vorurteil und die Hoffnung erregt, sie werde sich von einiger Vernünftigkeit wenigstens im Verfolg doch leiten lassen, so versagte man solchen Personen seinen Anteil nicht, bis sie denn zuletzt entweder selbst verzweifelten oder uns zur Verzweiflung brachten.[46]

Ein solcher war von Bielefeld, der sich den Cimbrier nannte, eine physisch glühende Natur, mit einer gewissen Einbildungskraft begabt, die aber ganz in hohlen Räumen sich erging. Klopstocks Patriotismus und Messianismus hatten ihn ganz erfüllt, ihm Gestalten und Gesinnungen geliefert, mit denen er denn nach wilder und wüster Weise gutherzig gebarte. Sein großes Geschäft war ein Gedicht vom Jüngsten Tage, wo sich denn wohl begreifen läßt, daß ich solchen apokalyptischen Ereignissen, energumenisch vorgetragen, keinen besonderen Geschmack abgewinnen konnte. Ich suchte ihn abzulehnen, da er, jede Warnung ausschlagend, auf seinen seltsamen Wegen verharrte. So trieb er es in Jena eine Zeitlang zu Beängstigung guter, vernünftiger Gesellen und wohlwollender Gönner, bis er endlich bei immer vermehrtem Wahnsinn sich zum Fenster herausstürzte und seinem unglücklichen Leben dadurch ein Ende machte.

Auch taten sich in Staatsverhältnissen hiernächst die Folgen einer jugendlichen Gutmütigkeit hervor, die ein bedeutendes Vertrauen auf einen Unwürdigen niedergelegt hatte. Die deshalb entstandenen Prozesse wurden diesseits von einsichtsvollen Männern mit großer Gewandtheit einem glücklichen Ausgang entgegengeführt. Indessen beunruhigte eine solche Bewegung unsre geselligen Kreise, indem nahverwandte, sonst tüchtig denkende, auch uns verbundene Personen Ungerechtigkeit und Härte sahen, wo wir nur eine stetige Verfolgung eines unerläßlichen Rechtsgangs zu erblicken glaubten. Die freundlichsten, zartesten Reklamationen von jener Seite hinderten zwar den Geschäftsgang nicht, allein bedauerlich war es, die schönsten Verhältnisse beinahe zerstört zu sehen.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 33-47.
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